Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
I
k Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
ZEITSCHRIFT
FÜR
PHYSIKALISCHE m> DIÄTETISCHE
«
THERAPIE
(Begründet von E. von Leyden und A. Goldscheider.)
Mitarbeiter:
C. A. BIER (Berlin), A. BUM (Wien), B. BUXBAUM (Wien), A. CZERNY (Berlin), H. EICHHORST
'Zürich), M. EINHORN (New York), W. H. ERB (Heidelberg), F. FRANKENHÄUSER (Berlin-Steglitz),
K. FRANZ (Berlin), P. W. FÜRBRINOER (Berlin), J. OAD (Königetein i. T.), J. GLAX (Abbazia),
J. O. L. IIEUBNER (Loeehwitz), W. HIS (Berlin), F. A. HOFFMANN (Leipzig), R. v. JAKSCH (Prag),
M. IMMELMANN (Berlin), G. KLEMPERER (Berlin), F. KRAUS (Berlin), L. KUTTNER (Berlin),
A. LAQUEUR (Berlin), P. LAZARUS (Berlin), M. LEVY-DORN (Berlin), L. MANN (Breslau),
J. MARCUSE (Ebenhansen), F. MARTIUS (Rostock), M. MATTHES (Königsberg i. Pr.), F. MORITZ (Köln),
FR. v. MÜLLER (München* K. v.NOORDEN (Frankfurt a. M.), P. K. PEL (Amsterdam), H. PRIBRAM (Prag),
H. J. QUINCKE (Frankfurt a. M.), TH. ROSENHEIM (Berlin), M. RUBNER (Berlin), H. SAHLI (Bern),
J. SCHREIBER (Königsberg i. Pr.), H. 8TRAUSS (Berlin), AD. v. STRÜMPELL (Leipzig), E. ZANDER
(Stockholm), N. ZUNTZ (Berlin).
* Herausgeber:
A. GOLDSCHEIDER. L. BRIEGER. A. STRASSER.
Redaktion:
Dr. W. ALEXANDER, Berlin W., Friedrich-Wilhelmstraße 18.
Zweiundzwanzigster Band. v
• — >;l
Mit 45 Abbildungen und einem Bildnis.
LEIPZIG 1918.
Verlag von GEORG THIEME, Antonstr. 15.
Digitized by
Gok igle
Original from
UMIVERSITY OF MICHIGAN
Preis des Jahrgangs M. 12,—.
Manuskripte, Referate und SonderabdrUcke werden an Herrn Dr. W. Alexander, Berlin W. %
Friedrich-Wilhelmstr. 18, portofrei erbeten.
Die Herren Mitarbeiter werden gebeten, die gewünschte Anzahl von SonderabzUgen ihrer
Arbeiten auf der Korrektur zu vermerken; 40 SonderabzUge werden den Verfassern von Original-
Arbeiten unentgeltlich geliefert
Die zu den Arbeiten gehörigen Abbildungen müssen auf besonderen Blättern (nicht in da»
Manuskript eingezeichnet) und in reproduktionsfähiger Ausführung eingesandt werden.
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Verzeichnis der Originalarbeiten.
Seite
Beitrag zur Behandlung der hysterischen Taubheit. Von Dr. W. Alexander.52
Über Polyneuritis (ämbulatoria) mit Diplegia facialis. Von Dr. W. Alexander .... 256
Physikalische und technische Betrachtungen über moderne Lichttherapie. Die Siemens-
Aureollampe. Von Dr. Karl Bangert..149, 176
Einige hydrotherapeutische Winke für die Praxis. Von Geh.-Med. Rat Prof. Dr. L. Brieger 229
Zur Geschichte der physikalischen Heilmethoden. Materialien aus chemischen Quellen¬
schriften. Aus der hydrotherapeutischen Anstalt der Universität Berlin. Von Dr.
Walter Brieger.: . . 187
Die Nachbehandlung rheumatischer und ähnlicher Kriegserkrankungen in Badern und Heil¬
anstalten. Mitteilung aus der Nachbehandlungsanstalt des kgL ung. Landesfürsorge¬
amtes „Csäsäzrfflrdö“ in Budapest. Von Doz. Dr. Z. v. Dalmady.46
Die Funktion des Magendarms als Grundlage der Diagnostik, yon Prof. Dr. Determann 213
Die Heilung der habituellen Stuhlträgheit durch Trinkkuren in Kurorten. Von Dr.
M. Ehrenreich.338
Über Akromegaloidismus und zur Theorie der inneren Sekretion. Von Prof. Dr. R. Ehr¬
mann .343
Über zwei eigenartige Fälle von Infektion der Ösophagus- und Magenschleimhaut. Von
Prof. Dr.-U. Friederaann. . /..354
Urticaria appendicularis. Überempfindlichkeit und Appendizitis. Von Dr. Ernst Fuld. . 161
Über die Beziehungen zwischen Wasser-Kochsalzretention. Zur Theorie der Ödembildung
durch Salzzufuhr. Von Prof. Dr. H. Gerhartz.345
Thalassotherapie der Kriegsverwundeten und -beschädigten. Von K. K. Hofrat Prof. Dr.
Julius Glax.108
Über die krankhafte Überempfindlichkeit und ihre Behandlung. Von Geh. Med.-Rat Prof.
Dr. Goldscheider ..*. . .. 129, 193, 379, 411
Zur Begutachtung der Erwerbsfähigkeit bei der chronischen Lungentuberkulose im Invaliden¬
rentenverfahren. Von San.-Rat Dr. von Golz.303
Zur Röntgentherapie des malignen Granuloms und der Polycythamie. Von Dr. H. Guggen-
heimer.233
Über Puls- und Blutdruckuntersuchungen bei Kriegsteilnehmern. Von Dr. E. Herzfeld 311
Zur Prognose und Röntgentherapie der lymphatischen Leukämie. Von Dr. H. Hirschfeld 240
Serumtherapie bei Fleckfieber. Von Dr. P. A. Hoefer.358
Zur nichtchirurgischen Behandlung der chronischen Arthritiden. Von W. Krebs . . 434, 467
Zwei neurologische Fälle. Von Dr. R. Kretschmer.262
Zur Frage der Kriegsneurosen auf Grund von Beobachtungen an der Front. Von Dr. K. Krön er 265
über die Verwendung der Dampfdusche zur Wundbehandlung. Von Dr. A. Laqueur . . 17
Praktische Bemerkungen zur Diathermiebehandlung. Von Dr. A. Laqueur.243
„Bluffotherapie“. Die deutsche Physikotherapie in französischem Lichte. Von Dr. G. M am lock 190
Zur Funktionsprüfung von Herz- und Gefäßsystem bei gesunden und kranken Feldsoldaten.
Von Assistenzarzt d. R. Friedrich Matz.65, 97
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
IV
Verzeichnis der Originalarbeiten.
Seite
Die Beziehungen des Wolbynischen Fiebers zu anderen Krankheiten. Von Dr. E. Mosler 362
Zur Behandlung der Kriegsnephritis in Speziallazaretten. Von Dr. E. Mosler.459
Sachgemäße menschliche Kriegsernährung. Von Dr. med. Gustav Oeder .... 34, 77
Die Anwendung der d’Arsonvalisation bei Spondylitis deformans. Von Dr. E. v. d. Porten 403
Die klinische Bewertung der Plethysmographie bei Herzkrankheiten. Von Dr. H. Schirokauer 314
Zur Radiumbehandlung des Krebses, insbesondere des Rektumkarzinoms. Von Dr. E. Schle¬
singer .. . . •..249
Die Syphilis des Herzens und der Gefäße (Häufigkeit, Diagnose und Behandlung). Von
Dr. P. Schrumpf.323
Prinzipien und Erfolge der aktiven Therapie bei Neurosen. Von Dr. K. Singer .... 275
Über den Einfluß therapeutischer Maßnahmen auf den Harnsäuregehalt des Blutes und die
Verwertung der Beobachtungen für die Gichttherapie. Von Dr. E. Steinitz . . . 348
Diskussionsbemerkungen zur Debatte über die Behandlung der Kriegsnephritiden (Geh. Rat
Prof. His). Von Professor Dr. A. Strasser.55
Malariarezidiv und Heilung. Von Prof. Dr. A. Strasser.366
Über Brachialgien und ihre Behandlung nebst Betrachtungen zur „Neuralgie^Diagnose. Von
Dr.E. Tobias. 286
Über infektiöse Lebererkrankungen. Von Dr. Walterhöf er.. . . . . 371
Die physikalische Behandlung des Gelenkrheumatismus im Lichte der Vakzinenlehre. Von
Dr. Eduard Weiß.115
Über die Behandlung herzkranker Soldaten in Kurorten und Heilstätten. Von Prof. Dr.
K. F. Wenckebach.... .' ....... . 1
Beitrag zu den Verletzungen des Konus medullaris und der Kauda equina. Von E. Wolff 295
Zur eiweißarmen Diät bei akuter Nierenentzündung. Von Stabsarzt Dr. Erich Wossidlo 9
Difitized
by Google
Original fro-rn
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Sachregister,
Abdominaltyphus, Anomalien der Magensaft¬
sekretion als Spätfolge von 450.
Abszesse, beiße, Behandlung (insbesondere mit
Morgenrothschen Chininderivaten) 32.
Achylia gastrica, Zunge und 192.
Adaptionsbrille 91.
Akne, Röntgenbehandlung 91.
Alkohol, Tuberkulose und 128.
Anämia perniciosa, Zunge bei 192.
Antikörperbildung, spontane, in der Haut und
ihre Heilwirkung bei äußerer und innerer
Tuberkulose 92.
Aphasie, motorische, und Halbseitenlähmung
nach fieberhafter Erkrankung 262.
Appendizitis. Überempfindlichkeit und 161.
Arsonvalisation bei Spondylitis deformans 403.
Arthritiden, chronische, nichtchirurgische Be¬
handlung 434, 467.
Ärztekammervorstand, Bericht über die von
dems. berufene Versammlung zur Aufklärung
Ober Nabrungsmittelfragen 157.
Augen-Gonoblennorrhoe,Milchinjektionen bei 96.
Augenleiden, Lichtbehandlung und 159.
Aureollampe, Siemens-, Erfahrungen 26.
Bäder, hydrostatischer Druck als therapeutische
Komponente ders. 223, —■ Nachbehandlung
rheumatischer und ähnlicher Kriegserkran¬
kungen durch 411.
Bäderbehandlung bei Erkrankungen der Harn¬
organe 443, — Kur- und, in der öster¬
reichisch-ungarischen Armee 59, — Kur-
und, in der deutschen Armee, Organisation
der 58.
Balneologie, Zentralstelle für, Bericht über die
Tagnng ders. in Rostock (3. und 4. Sept.
1916) 23.
Balneologische Behandlung herzkranker Sol¬
daten 446.
Balneotherapie, Kriegsbeschädigtenfürsorge und
57.
Bestrahlungsmethode, neue, in der Gynäkologie
122 .
Bittersalzlösungen, Kochsalz- und, für Glyzerin
bei Verwendung zu Klysmen 410.
Blasenexpression bei Detrusorlähmungen durch
Rückenmarksverletzung 121.
Bluffotherapie 190.
Blut, Einfluß therapeutischer Maßnahmen auf
den Harnsäuregehalt dess. 348.
Blutdruckuntersuchungen, Puls- und, bei Kriegs¬
teilnehmern 311.
Bluttransfusion, Technik 486.
Blutungen, okkulte, bei Karzinom des Verdau¬
ungsapparats, diagnostische Bewertung 31.
Blutzucker, Wirkung von Temperatur und
Feuchtigkeit auf die Arbeitskraft der
Muskeln und den 158.
Brachialneuraigien 286.
Bromsalze, Dosierung bei Epilepsie und De¬
pressionszuständen 489.
Brot, Zabnkaries und 22.
Calorose, Infusion mit 406.
Cauda equina-Verletzungen 295.
Centre neurologique de Lyon 126.
Chininderivate, Morgenrothsche, bei heißen Ab¬
szessen, infizierten und infektionsverdäch¬
tigen Wunden 32.
Chirurgische Nachbehandlung 475.
Choleraimmunität bei Schutzgeimpften 408.
Chorea, künstliche Schwangerschaftsunter¬
brechung bei 489.
Conus medullaris, Verletzungen des 295.
Coolidgeröhren in der Tiefentherapie 159.
Cremasterreflex, Fußsohlen-, bei akuter Ischias
487.
Ilampfdusche, Wundbehandlung und 17.
Darm, der sog. lange russische 449.
Darmerkrankungen, infektiöse, Diagnose und
Therapie 448, — Magen- und Röntgen¬
diagnostik 87*.
Digitized by
Gck igle
UNIVERSETY OF MICHIGAN
VI
Sachregister.
Depressionszustände, Bromsalze und ihre Do¬
sierung bei dens. 489.
Detrusorlähmüngen durch Rückenmarksver-
verletzung, Blasenexpression bei dens. 121.
Deutschland, Kriegsernährung in England und
119.
Dia-Sorcym-Plazentapräparate, serodiagnosti¬
sche Sehwangerschaftsreaktion unter Ver¬
wendung ders. 28.
Diabetes mellitus, Behandlung 450, — Kriegs¬
lehren für die Ernährung bei 481.
Diagnostik, Funktion des Magendarms als
Grundlage der 218.
Diagnostische und therapeutische Irrtümer und
deren Verhütung (Schwalbe) 123, 409.
Diät, eiweißarme, bei Nephritis acuta 9.
Diathermiebehandlung 248.
Diätkuren bei kardialen Hydropsien 23.
Diphtheriebekämpfung, Berliner, Fortschritte
ders. 453.
Diplegia facialis, Polyneuritis ambulatoria mit
256.
Durchfälle, Käse und Fleisch bei dens. 158.
Eierstocksfunktion, Röntgentiefentherapie bei
Jugendlichen und 92.
Eiweißarme Diät bei Nephritis acuta 9.
Elektrizität bei Nervenläsionen und ihre Er¬
folge im k. und k. orthopädischen Kriegs¬
spital Wien 88.
Emanation des Wassers 224.
England, Kriegsernährung in Deutschland und
119.
Epilepsie, Bromsalze bei, und ihre Dosierung
489, — Schwangerschaftsunterbrechung,
künstliche, bei 489.
Erkältungskrankheiten, Gefahren und Ver¬
hütung 224.
Ernährung gesunder und kranker Kinder bis
zum 2. Lebensjahre, künftige Gestaltung
ders. 85, — der Diabetiker, Kriegslehren
für dies. 481, — Kriegssachgemäße 88,
— Roggenkleie und ihre Verwendung für
die menschliche 406, — Stickstoffbilanz bei
kalorienarmer 481.
Ernährungstheräpie, quantitative 451.
• Ernährungszustand und Muskulatur im Kindes¬
alter, Einfluß der Säuglingsernährung auf
dies. 119.
Erwerbsfähigkeit bei Lungentuberkulose im
Invalidenrentenverfahren 808.
Expressio vesicae bei Detrusorlähmungen durch
Rückenmarksverletzung 121.
Feldsoldaten, Funktionsprüfung von Herz- und
Gefäßzentren bei gesunden und kranken
65, 97.
Fettgehalt menschlicher Gallensteine 432.
Feuchtigkeit, Wirkung von Temperatur und,
auf die Arbeitskraft der Muskeln und den
Blutzucker 158.
Fiebertherapie der kindlichen Gonorrhoe 40?
Fleckfieber, Rekonvaleszentenbluttransfusion bei
453.
Fleckäeber, Serumtherapie 868, — Weil-Felix-
sche Reaktion bei 88, 488.
Fleisch, Fleischwurst und, Zusammensetzung’
und Untersuchung 223, — Käse und, bei
Durchfällen 158.
Flinsberg, klinische Beobachtungen und Behänd ~
lungsergebnisse in Bad 86.
Fremdwörterbuch, medizinisches (Kühn) 490.
Fruchtbarkeit, weibliche, gewollte und unge¬
wollte, Schwankungen ders. 454.
Fürsorgestelle, Stettiner, für Lungenkranke mit
offener Tuberkulose, Erfolge und Mi߬
erfolge ders. 410.
Fuß, natürlicher und künstlicher, Abrollung
dess. 159.
Fußsohlen-Cremasterreflex bei akuter Ischias
487.
Gallensteine, Fettgehalt menschlicher 482.
Gammastrahlen der radioaktiven Substanzen,
sekundäre Strahlungen ders. 484.
Gasbrandinfektion, Chemotherapie, experimen¬
telle 31.
Gasvergiftung im Röntgenzimmer und ihre Ver¬
hütung 91.
Gefäßsyphilis 828.
Gefäßsystem, Herz- und, Funktionsprüfung bet
gesunden und kranken Feldsoldaten 65, 97.
Gehfähigkeit bei Plattfuß und Knickfuß 120.
Gehirntumoren, Röntgenbehandlung 451.
Gehirn verletzte und ihre Rückleitung zur Ar¬
beit 488.
Gelenkerkrankungen, Röntgentherapie 91.
Gelenkrheumatismus, elektrokolloidale Silber¬
präparate bei 127, — physikalische Behand¬
lung dess. im Lichte der Vakzinenlehre
115.
Genickstarre, Therapie 24.
Geopsychische Erscheinungen 482.
Getreidepräparate, Kriegsmehl und Malzextrakt
22 .
Gichttberapie 848.
Gliedmaßenmuskeln, nervengelähmte, nach
Schußverletzungen, Behandlung ders. 87.
Glühkathodenröhren in der Tiefentherapie 159.
Glyzerin, Bittersalz- und Kochsalzlösungen für,
bei Verwendung zu Klysmen 410.
Gonoblennorrhoe des Auges, Milchinjektion bei
ders. 96.
X
Digitized by
Go igle
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Sachregister.
VII
Gonorrhoe, kindliche, Fiebertherapie ders.
407.
Granulom, malignes, Röntgentherapie 288.
Greifvermögen, Erhaltung dess. bei lang¬
dauernder Ruhigstellung der Hand 87.
Gynäkologie, neue Bestrahlungsmethode in der
122 .
Halbseitenlähmung mit motorischer Aphasie
nach fieberhafter Erkrankung 262.
Halslymphone, tuberkulöse, Röntgentherapie
26.
Hand, Erhaltung des Greifvermögens bei lang¬
dauernder Ruhigstelfung der 87.
Hamorgane, Erkrankungen, Bäder und Klima¬
behandlung 443.
Harnsäuregehalt des Blutes, Einfluß thera¬
peutischer Maßnahmen auf den 848.
Härtegrad, Sekundärstrahlen und 90.
Haut, spontane Antikörperbildung in der, und
ihre Heilwirkung auf äußere nnd innere
Tuberkulose 92, — Topographie der spi¬
nalen ScnBibilitätsbezirke der 410.
Hautkapillaren, Bewegungen der 32.
Hautkapillaren - Untersuchungen, mikroskopi¬
sche, am lebenden Menschen und ihre dia¬
gnostische Verwertbarkeit 32.
Heilanstalten, Nachbehandlung rheumatischer
und ähnlicher Kriegserkrankungen in 46.
Heilmethoden, physikalische, Geschichtliches
187.
Heilstätten, herzkranke Soldaten und 1, 446. j
Heliotherapie in der Ebene 160, — Pigmentation
und 160.
Herz, FunktionsprQfung mittels Plethysmo¬
graphie nach E. Weber 31.
Herzerweiterungen, Kohlensäurebäder bei 447.
Herzkranke Soldaten, balneologische und Heil¬
sattenbehandlung 446, — Kurort- und Heil¬
stättenbehandlung I.
Herzkrankheiten, Plethysmographie bei 814.
Herzsyphilis 822.
Herzsystem, Gefäß- und, Funktionsprüfung
bei gesunden und kranken Feldsoldaten
65, 97.
Hirschsprungsche Krankheit, röntgenologische
Darstellung ders. 452.
Höhensonne, künstliche 25, — bei Peritonitis
tuberculosa 485.
Hydropsien, kardiale, Diätkuren bei dens. 23.
Hydrostatischer Druck als therapeutische
Komponente der Bäder 223.
Hydrotherapeutische Winke für die Praxis
229.
Hypophysenextrakte, nephritische Prozesse und
454.
Hypophysis cerebri, neuer Symptomenkomplex
der 454.
Hysteriebegriff bei Kriegsneurosen, Gefangenen¬
beobachtungen 456.
Hysterische Taubheit, Behandlung 52.
Hysterischer Spitzfuß 121.
Ikterus infectiosus, Sonnenbehandlung 408.
Innere Sekretion, Schwangerschaftsunter¬
brechung bei Störungen ders. 93.
Invalidenfiirsorge, ärztliche, Grenzen des Er¬
reichbaren in der 125.
Invertzucker, Infusion mit 406.
Irrttimer, diagnostische, und deren Verhütung
(Schwalbe) 409, — diagnostische und thera¬
peutische (J. Schwalbe) 123.
Ischias, akute, Fußsohlen-Cremasterreflex bei
ders. 487.
Jugend, Kriegsernährung und 119.
Jugendliche, Einfluß der Kriegskost im dritten
Kriegsjahre auf Kinder und 85.
Jugendliche, Röntgentiefentherapie bei dens.
und Eierstocksfunktion 92.
Kaliumpermanganatbehandlung der Variola
410.
Kalkthcrapie im Kindesalter 158.
Kammer, feuchte, Wundbehandlung in ders.
86 .
Kardiale Hydropsien, Diätkuren 23.
Karies, Zahn-, Brot und 22.
Karzinom, Radiumbehandlung 249, - des Ver¬
dauungsapparats, diagnostische Bewertung
von okkulten Blutungen bei 31.
k Karzinomo^erationen, prophylaktische Be-
1 Strahlungen nach, und Erfolge der Rezidiv-
| behandlung mittels Röntgenlicht und Radium
t 122.
\ Karzinomrezidiv, Erfolge der Röntgen- und
Radiumbehandlung bei 122.
Käse und Fleisch bei Durchfällen 158.
Kind, Einwirkung äußerer Einflüsse auf die
Temperatur dess. 407.
Kinder, Einfluß der Kriegskost im dritten
Kriegsjahr auf Jugendliche und 85, — ge¬
sunde und kranke bis zum 2. Lebensjahre,
künftige Gestaltung ihrer Ernährung 85.
Kindesalter, Einfluß der Säuglingsernährung
auf Ernährungszustand und Muskulatur im
119, — Fiebertherapie bei Gonorrhoe im
407, — Ka\fetherapie im 158.
ßlimabohandlung bei Erkrankungen der Harn¬
organe 443.
Klysmen, Bittersalz- und Kochsalzlösungen
für Glyzerin bei der Verwendung zu 410.
Knickfuß und Plattfuß, Gehfähigkeit bei 120.
Knochenerkrankungen, Röntgentherapie 91.
Original fro-m
UNIVERSITf OF MICHIGAN
VIII
Sachregister.
Kochsalzlösungen, Bittersalz- und, für Glyzerin
bei Verwendung zu Klysmen 410.
Kochsalzretention, Wasser- und 845. *
Kohlensäurebäder bei Herzerweiterungen 447.
Kongreßberichte, Waffenbrüderliche Ver¬
einigungen Deutschlands und Österreich-
Ungarns (11. bis 13. Oktober 1917) 57, 443,
475.
Konus medullaris, Verletzungen des 285.
Krankendiät, Kriegsmebl und Mehlnährpräparate
in der 22.
Krankenemährung, einheitliche Regelung 158.
Kratze 156, 157.
Krieg, Magenkrankheiten und 126.
Kriegsbeschädigte, Thalassotherapie bei dens.
108.
Kriegsbeschädigtenfürsorge, Balneotherapie und
57.
Kriegserkrankungen, rheumatische und ähnliche,
Nachbehandlung in Bädern und Heilanstalten
46.
Kriegsernährung im dritten Krieg^jahr, Ein¬
fluß auf Kinder und Jugendliche 85.
Kriegsernährung in Deutschland und England,
entscheidende Spezialfragen 119, — Jugend
und 119, — sachgemäße 88, 77.
Kriegsinvalide in Österreich, Krankenfürsorge
für 60.
Krieg8ko8t, Magenchemismus und 222.
Kriegsmehl, Getreidepräparate und Malzextrakt
22, — Mehlnährpräparate und Krankendiät
22 .
/ Kriegsnephritiden 409, — Behandlung 55, — Be¬
handlung in Speziallazaretten 459. <v
Kriegsneurologie, Neurosenproblem im Lichte
der 96.
Kriegsneurologische Beobachtungen 409.
Kriegsneurosen an der Front 265, — Behand¬
lung 94, — Behandlung und Beurteilung
30, — Hysteriebegriff bei, Gefangenenbeob¬
achtungen 456, — motorische, Behandlung
89, 483.
Kriegsödem 95.
Kriegsverwundete, Thalassotherapie bei dens.
108.
Kropfherz 454.
Kupferbehandlung bei äußerer Tuberkulose 90.
Kurbehandlung, Bäder- und, in der deutschen
Armee, Organisation ders. 58, — Bäder und,
in der östereicbisch-ungarisdfken Armee 59.
Kurierzwang und Kurpfuscherfreiheit 95.
Kurorte, herzkranke Soldaten und 1, — Trink¬
kuren in dens. bei habitueller Stuhlträgheit
888 .
Kurpfuscherfreiheit und Kurierzwang 95.
Lähmung der Gliedmaßenmuskeln nach Schwer¬
verletzung, Behandlung 87.
Lebererkrankungen, infektiöse 871.
Leukämie, lymphatische, Prognose und Röntgen¬
therapie durch 240, — Tiefenbestrahlung
bei 122.
Licht, absorbiertes, Fernwirkungen 159.
Lichtbehandlung, Augenleiden und 159, — Phy¬
sikalisches und Technisches 149, 176.
Lungenaffekt, Vibroinhalation bei chronischem
120 .
Lungenkranke mit offener Tuberkulose, Erfolge
und Mißerfolge der Stettiner Fürsorgestelle
für 410.
Lungensteckschuß und Retention eines sonden¬
artigen Gebildes im Brustraum mit stereo¬
skopischer Aufnahme 91.
Lungensyphilis, Röntgendiagnostik 160.
Lungentuberkulose, Erwerbsfähigkeit bei, Be¬
gutachtung im Invalidenrentenverfahren
803,. — Psychische Momente und 128.
Lungenverletzungen, Pneumothorax, künstlicher,
bei 24.
Lupinen, Entbitterung ders. 407.
Lymphone, Hals-, Röntgentherapie tuberkulöser
26.
Lyoner neurologische Zentralheilstätte 126.
Hagen, Zunge als Spiegel dess. 192.
Magendarm, Funktion dess. als Grundlage der
Diagnostik 218.
Magendarmkrankheiten, Röntgendiagnostik
87.
. Magenerkrankungen, Krieg und 126.
Magensaftsekretion, Anomalien der, als Spät¬
folge von Ruhr und Unterleibstyphus
450 .
Magenschleimhaut, Infektion der ösophagus-
und 354.
Malaria, Optochin bei 96.
Malariarezidiv und Heilung 866.
Malzdiastase, Verdaulichkeitsprüfung der Stärke
verschiedener pflanzlicher Futtermittel durch
406.
Malzextrakt, Getreidepräparate und Kriegsmehl
22 .
Medizinisches Fremdwörterbuch (Kühn) 490.
Mehlnährpräparate, Kriegsmehl und Kranken¬
diät 22.
Milch, homogenisierte 406.
Milchinjektion bei Gonoblennorrhoe des Auges
96.
Milchtherapie, Optochinum basicum und, bei
Pneumonie 192.
Milzbrand, Rindernormalserum bei menschlichem
92.
Original from
UNIVERSITf OF MICHIGAN
X
Digitized by
Go igle
Sachregister.
IX
Morgenrothsche Chininderivate bei heißen Ab¬
szessen und infizierten bzw. infektionsver¬
dächtigen Wunden 32.
Multostaten und Pantostaten, Zulässigkeit ders.
in der Praxis 121.
Muskeln, Wirkung von Temperatur und
Feuchtigkeit auf den Blutzucker und die
Arbeitskraft der 158.
Muskulatur und Ernährungszustand im Kindes¬
alter, * Einfluß der Säuglingsernährung auf
dies. 119.
Nachbehandlung, chirurgische 475.
Nagelerkrankungen, Röntgenbehandlung der483.
Nahrungsmittel, Nebenprodukte der Schlachtung
als 407.
Nahrungsmittel fragen, Bericht über die vom
Ärztekammervorstand berufene Versammlung
über 157.
Nephritiden, Kriegs- (Strauß) 409, — Behandlung
55, — Behandlung in Speziallazaretten 459.
Nephritis acuta, eiweißarme Diät bei 9.
Nephritische Prozesse, Hypophysen extrakte
und 451.
Nephropathie, analbuminurische 96.
Nervenerkrankungen, Schwangerschaftsunter¬
brechung, künstliche, bei 489. "* nr ' w
Nervengelähmte Gliedmaßenmuskeln nach
Schußverletzung, Behandlung 87.
Nervenläsionen, Elektrizität bei dens. und ihre
Erfolge 88.
Nervenverletzte (‘Operierte), Schicksale ders.
125.
Neuralgiediagnose 286.
Neurologische Fälle 262, — Kriegs-, Beob¬
achtungen 409, — Zentralheilstätte in Lyon
für 126.
Neurosen, aktive Therapie bei 275, — funk¬
tionelle, Suggestionstherapie ders. im
Feldlazarett 127, — Kriegs-, an der
Front 265, — Kriegs-, Behandlung 94,
483, — Kriegs-, Hysteriebegriff bei, Ge¬
fangenenbeobachtungen 456, — motorische,
Kriegs-, Behandlung 89, 483. v
Neurosenproblem im Lichte der Kriegsneuro-
logie 96.
Niere, sekretorische Innervation der 480.
Nierenkrankheiten bei Feldzugsteilnehmern,
Prognose 28, — kriegsärztliche Erfahrungen
bei 490.
Normalserum, Rinder-, bei menschlichem Milz,
brand 92.
Obstipation s. auch Stuhlträgheit.
Odem, Kriegs- 95.
Ödembildung durch Salzzufuhr, Theorie ders.
•46.
Odemkrankheit, eine analbuminurische Nephro¬
pathie 96.
Okkulte Blutungen bei Karzinom des Verdau¬
ungsapparats, diagnostische Bewertung 31.
Optochin bei Malaria 96.
Optochinum basicum, Milchtherapie und, bei
Pneumonie 192.
Ösophagus, Röntgenbeobachtung über funktio¬
nelles Verhalten des 483.
Ösophagusschleimhaut, Infektion der Magen-
und 854.
Pankreasdiastase, Verdaulichkeitsprüfung der
Stärke verschiedener pflanzlicher Futter¬
mittel durch 406.
Pantostaten und Multostaten, Zulässigkeit ders.
in der Praxis 121.
Paralyse, Einfluß von Salvarsan auf den Ver¬
lauf der 408.
Pathologie und Therapie, spezielle, innerer
Krankheiten (Kraus-Brugsch) 455.
Peritonitis tuberculosa, Behandlung mit künst¬
licher Höhensonne 485.
Phlegmone, Behandlung 86.
Physikalische Heilmethoden, zur Geschichte
dere. 187, — Therapie bei Verwundeten und
Rekonvaleszenten der französischen Armee
durch 96.
Physikotherapie, deutsche, in französischem
Lichte 190.
Pigmentation, Heliotherapie und 160.
Plattfuß, Knickfuß und Gehfähigkeit 120.
Plazentapräparate, Dia-Sorcym-, serodiagnosti¬
sche Schwangerschaftsreaktion unter Ver¬
wendung ders. 28.
Plethysmographie bei Herzkrankheiten 814.
— Webereche, Funktionsprüfung des Her¬
zens mittels dere. 31.
Pneumonie, Optochinum basicum und Milch¬
diät bei 192.
Pneumothorax, künstlicher, bei Lungenver¬
letzungen 24.
Poliomyelitis acuta anterior bei einem Soldaten
263.
Polyarthritis • chronica progressiva destruens,
Diagnostik und Therapie 124.
Polycythämie Röntgentherapie 228.
Polyneuritis ambulatoria mit Diplegia facialis
256, — Schwangerschaftsunterbrechung,
künstliche bei 489.
Proteusreaktion, Weil-Felixsche, bei Fleckfieber
488.
Psychische Momente, Lungentuberkulose und
128.
Puteuntersuchungen, Blutdruck- und, bei Kriegs¬
teilnehmern 311.
Digitized by
Gck igle
Original fro-rn
UNIVERSITY OF MICHIGAN
X
Sachregister.
Quarzlampe 25.
Quellenschriften chemische, Materialien aus
dens. 187.
Radioaktive Substanzen, sekundäre Strahlungen
der Röntgenstrahlen und der y-Strahlen
ders. 484.
Radiumbehandlung des Karzinom, insbeson¬
dere des Rektumkarzinoms 249, — Erfolge
der Röntgen- und, bei Karzinomrezidiven
122 .
Rekonvaleszenten der französischen Armee,
physikalische Therapie bei dens. 96.
Rekonvaleszentenbluttransfusion bei Fleckfieber
453.
Rektumkarzinom, Radiumbehandlung 249.
Rheumatische Kriegserkrankungen, Nachbehand¬
lung in Bädern und Heilanstalten 46.
Rheumatismus 457.
Rindernormalserum bei menschlichem Milz¬
brand 92.
Roggenkleie, Verwendung für die Ernährung
des Menschen 406.
Röntgenbehandlung der Akne 91, —, Gebim-
und Rückenmarkstumoren 451, — in der
inneren Medizin, gegenwärtiger Stand und
Aussichten 452, — der Nagelkrankheiten
483.
Röntgenbeobachtung über funktionelles Ver¬
halten des Ösophagus 488.
Röntgenbestrahlungen, prophylaktische, nach
Karzinomoperation und Erfolge der Rezidiv¬
behandlung mittels Röntgenlicht und Ra¬
dium 122.
Röntgendiagnostik des Verdauungskanals 87,
— HirschsprungBche Krankheit und 452,
— Lungensyphilis und 160.
Röntgendurchleuchtungen, Adaptionsbrille für
91.
Röntgenenergie, wirksame, in der Tiefenthe¬
rapie und ihre Messung'452.
Röntgenschutzpasten 452.
Röntgenstrahlen, chemische Wirkung der 408,
—, Physikalisches über Entstehung und
Natur der 452, — sekundäre Strahlungen
der Röntgenstrahlen und der y-Strablen der
radioaktiven Substanzen 484.
Röntgentherapie bei chirurgischer Tuberkulose,
insbesondere bei Knochen- und Gelenker¬
krankungen 91, — des malignen Granuloms
der Polycythämie 233, — Halslymphome,
tuberkulöse 26, — Prognose und, der
lymphatischen Leukämie 240.
Röntgentiefentherapie bei Jugendlichen und
Eierstocksfunktion 92, — Kleinigkeiten zur
Technik der 90.
! Röntgenzimmer, Gasvergiftung im, und ihre
Verhütung 91.
Rostock, Bericht über die Tagung der Zentral¬
stelle für Balneologie am 3. und 4. Sep¬
tember 1916 in 23.
Rückenmarkstumoren, Röntgenbehandlung 451.
Rückenmarkverletzung, Bläsenexpression bei
Detrusorlähmungen durch 121.
Ruhr, Anomalien der Magensaftsekretion als
Spätfolge der 450, — chronische 30, — The¬
rapie 450.
Ruhrschutzimpfung im Kriege 453.
Salvarsan, Einfluß dess. auf Verlauf von Tabes
und Paralyse 408.
Salzzufuhr, Ödembildung durch, Theorie ders.
345.
Säuglingsernährung, Einfluß auf Erqährungszu-
stand und Muskulatur im Kindesalter
119, — Vollmehl in der 222.
Säuglingskrankheiten, Leitfaden der (Birk)
160.
Schlachtung, Nebenprodukte der, als Nahrungs¬
mittel 407.
Schutzimpfung, Choleraimmunität nach 408.
Schwangerschaft, Tuberkulose und 488.
Schwangerschaftsreaktion, serodiagnostische,
unter Verwendung von Dia-Sorcym-Plazenta-
präparaten 28.
Schwangerschaftsunterbrechung bei Nerven¬
erkrankungen 489, — bei Stoffwechsel¬
krankheiten und Störungen der inneren
Sekretion 93.
Schweinebestand, Einwände gegen Verringerung
dess. 120.
Schwerverletzungen, Behandlung nervenge¬
lähmter Gliedmaßenmuskeln nach 87.
Sekretion, innere, s. auch Innere
Sekundärstrahlen und Härtegrad 90.
Sensibilitätsbezirke, spinale, der Haut, Topo¬
graphie ders. 410.
Serum, Rindernormal-, bei menschlichem Milz¬
brand 92.
Serumtherapie bei Fleckfieber 858.
Siemens-Aureollampe 149, 161, — Erfah¬
rungen 26.
Silberpräparate, elektro-kolloidale, bei akutem
Gelenkrheumatismus 127.
Sklerose, multiple, Ursachen 456.
Soldaten, herzkranke, Behandlung in Kurorten
und Heilstätten 1.
Speicheldiastase, Verdaulichkeitsprüfung der
Stärke verschiedener pflanzlicher Futter¬
mittel durch 406.
Spitzfuß, hysterischer 121.
Spondylitis deformans, Arsonvalisation bei 406.
Original fro-m
UNIVERS1TV OF MICHIGAN
□ igitized by
Google
Sachregister.
XI
Stärke verschiedener pflanzlicher Futtermittel,
Verdaulichkeitsprüfung durch Malz-, Pan¬
kreas- und Speicheldiastase 406.
Stettiner Fürsorgestelle für Lungenkranke mit
offener Tuberkulose, Erfolge und Mißerfolge
ders. 410.
Stickstoffbilanz bei kalorienarmer Ernährung
481.
Stoffwechselkrankheiten, Schwangerschafts¬
unterbrechung bei 93.
Strahlen, Sekundär-, und Härtegrad 90, — ultra¬
violette, bei Tuberkulose, Theorie ihrer
Wirkung 89.
Strahlentiefentherapie 89.
Strahlungen, sekundäre, der Röntgenstrahlen
und der y -Strahlen der radioaktiven Sub¬
stanzen 484.
Strahlungserscheinungen 452.
Stublträgheit, habituelle, Trinkkuren in Kur¬
orten bei ders. 838.
Stümpfe, nicht prothesenreife, Indikation der
chirurgischen Behandlung 478.
Suggestionstherapie funktioneller Neurosen im
Feldlazarett 127.
Symptomatische. Therapie auf experimentell-
pharmakologischer Grundlage 28.
Syphilis des Herzens und der Gefäße 828.
Tabes, Salvarsan und sein Einfluß auf Verlauf
der 408.
Taubheit, hysterische, Behandlung 52, — hyste¬
rische, Therapeutisches 224.
Temperatur des Kindes, Einwirkung äußerer
Einflüsse auf die 407, —, Wirkung von
Feuchtigkeit und, auf die Arbeitskraft der
Muskeln und den Blutzucker 158.
Thalassotherapie Kriegsverwundeter und -be¬
schädigter 106.
Therapie, symptomatische, auf experimentell-
pharmakologischer Grundlage 29.
Tiefenbestrahlung bei Leukämie 122.
Tiefentherapie, Glühkathodenröhren (Coolidge-
Röhren) in der 159.
Trinkkuren in Kurorten bei habitueller Stuhl¬
trägheit 888.
Tuberkulin in der Praxis des Arztes 27.
Tuberkulinimpfung, seltenerer Reaktionsverlauf
bei probatorischer 128.
Tuberkulinimpfungen, Hautreaktion bei dens.
und ihre Bedeutung für Therapie und Pro¬
phylaxe der Tuberkulose 27.
Tuberkulomucin, Erfahrungen mit dems. bei
einem großen Krankenmaterial 93.
Tuberkulose, Alkohol und 128, — äußere,
Kupferbehandlung 90, —, chirurgische,
Röntgentherapie 91, — Erfolge und Miß-
Digitized by
Gck igle
erfolge der Stettiner Fürsorgestelle für
Lungenkranke mit offener 410, —, Haut
reaktion bei Tuberkulinimpfungen und ihre
Bedeutung für Therapie und Prophylaxe
der 27, —, Heilwirkung spontaner Anti¬
körperbildung in der Haut bei äußerer
und innerer 92, — primäre, sekundäre
und tertiäre, folgerichtige Bekämpfung
ders. 31, — Schwangerschaft und 488,
—, ultraviolette Strahlen bei, Theorie ihrer
Wirkung 89.
Tuberkulosehäufigkeit, anatomische Unter¬
suchungen über 457.
Tuberkulosetherapie, spezifische, und allgemeine
Praxis 92.
Tuberkulöse Halslymphome, Röntgentherapie
26.
Tumoren, maligne, kritische Studie zur ex¬
perimentellen Therapie ders. 450.
Überdruckapparat, Improvisation des«. 482.
Überempfindlichkeit, Appendicitis und 161.
—, krankhafte, und ihre Behandlung 129,
198, 879, 411.
Ultraviolette Strahlen bei Tuberkulose, Theorie
ihrer Wirkung 89.
Urämiebehandlung, Grundlagen 487.
Urticaria appendicularis 161.
Takzinenlehre, physikalische Behandlung des.
Gelenkrheumatismus im Lichte der 115.
Variola, Kaliumpermanganatbehandlung 410.
Verdaulichkeitsprüfung der Stärke verschie¬
dener pflanzlicher Futtermittel durch Malz-,
Pankreas- und Speicheldiastase 406.
Verdauungsapparate, diagnostische Bewertung
von okkulten Blutungen bei Karzinomen
ders. 31.
Verdauungskanal, Röntgendiagnostik 87.
Vereinsberichte, siehe Kongresse.
Verschüttungskrankheit, eigenartige 407.
Verwundete der französischen Armee, physi¬
kalische Therapie bei dens. 96.
Vibroinhalation bei chronischen Lungen-
affektionen 120.
Vollbrot 222.
Vollmehl in der Säuglingsernährung und Voll¬
brot im allgemeinen 222.
Waffenbrüderliche Vereinigung Deutschlands
und Österreich-Ungarns, Tagung der medi¬
zinischen Abteilung (11. biB 13. Okt 1917)
57, 443, 475.
Wasser, Emanation dess. 224.
Wasserretention, Kochsalz- und, zur Theorie
der Ödembildung durch Salzzufuhr 845.
Webereche Plethysmographie, Funktionsprüfung
des Herzens mittels ders. 31.
Origiral frcm
UNIVERSITV OF MICHIGAN
XII
Sachregister.
Weil-Felixsche Reaktion 88, — im Harne Fleck¬
fieberkranker 488, — klinische Bedeutung
der8. 488.
Wolhynisches Fieber, Beziehungen zu anderen
Krankheiten 862.
Wundbehandlung, Dampfdusche und 17, — in
der feuchten Kammer 86, —, offene, im
Felde 159.
Wunden, infizierte und infektionsverdächtige,
Behandlung (insbesondere mit Morgenroth-
schen Chininderivaten) 32.
Zabnkaries, Brot und 22.
Zentralheilstätte, neurologische, in Lyon 126.
Zentralstelle für Balneologie, Bericht über die
Tagung ders. in Rostock (3. und 4. Sept.
1916) 23.
Zittern, Behandlung 25.
Zunge als Spiegel des Magens 192.
4
Digitized b 1
Google
Original fro-rn
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Autoren-Register
Alexander, W. 62, 266.
Rachsteg 96.
Ballner und Finger 488.
Bangert 149.
„ K. 176.
Barabas 410. ,
Bardachzi und Barabas 410.
Bauermeister, W. 452.
Behm 158.
Benischke, V. 26. j
Bernoulli 489.
Beyerhaus 488.
Bieling, R. 31.
Bier, A. 32.
Bienenfeld 450.
Birk 160.
Birkner und Deininger 223.
Boas, J. 31.
Bockeimann 407. !
Boehncke 453.
Bdkay, A. v. 6p.
Boenheim 450.
Boral 64.
Böttner 128.
Brauer und Loesner 407.
Bräuning 410.
Brieger 229.
9 Walter 187.
Brugsch 455.
Buttersack 159.
Chvostek 454.
Christen, Th. 90.
Cohn, Toby 121.
Crämer 1?6.
Caenea 92.
Dalmady, Z. v. 46.
Deininger 223.
Dessauer 159.
Dteermann 213.
Deutsch 160.
Deutsch, Friedrich 64.
Dienemann 158.
Dietrich 57.
Draga, L. Th. E. v. 32.
Drexel 158.
Dünner, L. 31, 448.
Ehrenreich 338.
Eisenmenger 223.
| Engelhorn, E. 122.
j Engelmann 224.
Faber 192.
Feer 222,
Finger 488.
Fischer, Ilse, 406.
Fließ, W. 454.
Franke, Maryan 96.
Fränkel, S., Bienenfeld und
Führer 450.
Fresacher, L. 24.
Friedmann, Ulr. 364.
Frisch, Joh. 63.
Führer 450.
Fuld, E. 161.
€1 ähwyler 408.
Gerbartz 845.
Glaeßner, E. 454.
Glax, Jul. 108,
Goldscheider 129, 193, 379,
410, 411.
Goldstein, M. 127.
y. Golz 303.
Grau, H. 89.
Griesbach, H. 119.
Guggenheimer 223.
Guhr, Michael 448.
Guillermin 126.
y. Hansemann 449.
v. Hayeck 93.
Hecht 476.
Heddaeus 121.
Heidenheim 408.
Heinsheimer 222.
Hellpach 482.
Herzfeld, Ernst 311.
His, W. 443, 446.
Hirschfeld 224, 240.
Hoefer 368.
Hoffmann, A. 446.
v. Hortenau, Jul. 63.
v. Hoeßlin 27.
y. Jagic und Salomon 23.
Jansen 481.
Jeannerel 160.
Jellinek, Stefan 121.
Jerusalem 478.
i Imboden 96.
Irenberg 86.
Kabelik, J. 453.
Kaminer, S., und Weingärtner
91.
Kapelusch und Orel 91.
Karstedt 62.
Kathariner 128.
Kaufmann 30.
Kaufmann, F. 89, 483.
„ R. 447.
Kausch, W. 406.
Kantor, H. 95.
Kirchner 444.
Klare 158.
Klemperer, G. 22, 448, 481.
Klinger und Stierlin 486.
Köhler, Alban 90.
Kraus und Brugsch 455.
. F. 124.
„ Penna und Cuenea
92.
I Krebs, Walter 434, 467.
i Kretschmer 262.
Kroner 266.
Digitized by
Gck igle
UNIVERSITY OF MICHIGAN
XIV
Autoren-Kegister.
Kudrnäc, Jos. 24.
Knhn und Steiner 456.
Kühn 490.
Kulka 410.
Kfimmell 445.
Uangstein 85.
Lanz, E. 27.
Laqueur, A. 17, 248. 485.
Lasser-Ritscher 485.
Latzei, Robert 126.
Lee 158.
Leo, W. 409.
Lewandowsky, M. 30.
Liebennei8ter, (Gr. 94.
Lobe] 64, 476.
Lobenhoffer 160.
Loesner 407.
• Löwy, Max 445.
Haase und Zondek 95.
Mamlock, G. 190.
Matz, Friedr. 65, 97.
Mauerhofer 480.
May, R. E. 119, 120.
Mayer, A. 406.
„ Ernst 120.
Mendel 192.
Merian 483.
Messerli 96, 160.
Meßmer 62.
Miescher, G. 452.
Mörchen 456.
Morgenroth, J., und R. Bieling
31.
Moser, E. 87.
Mosler 862, 459.
Moewes, C. 127.
Müller, Otfr. 457.
Nast, E. 407.
Neuhäuser 87.
Neustetter, Otto 95.
Neutra 479.
Noorden, C. v. 22.
„ * „ u. Ilse Fischer
406.
Oeder, G. 84, 77.
Offer 64.
Ohly, A. 450.
Oppenheim, G. 25.
Orel 91.
Papamarku 408.
Pauletig, Marius 406.
Penna 92.
Petruschky 81.
v. Pirquet 451.
Pohorecky 120.
Porten, Ernst v. d. 408..
Reichmann, Frida 23.
Reimann 478.
.Reihhart, A. 457.
Reiß 487.
Reusch 91.
Rodella 487.
Rosenthal, Eug. 122.
„ Jos. 89.
Sachs 489.
Salkowski 482.
Salomon 23.
„ Hugo 443.
Saenger, A. 451.
Schanz 159.
ff A. 407
Scheminzky 224, 452.
Schirokauer 314.
Schleißner 490.
Schlesinger 249.
^ Emmo 87.
ff Eugen 85.
Schmidt, Ad., und Kauffmann
30.
Schmidt, H. E. 91, 452.
Schönfeld, A., und V. Be-
nischke 26.
Schrumpf 323.
Schütz, J. 444.
n Jul. 59.
Schütze 483.
Schwalbe, J. 123, 409.
Schwiening 58.
Scott 158.
Seligmann 453.
Siebelt 86.
Siegel, P. W. 454.
Singer 275.
Sokolow, Clara 407.
Spitzy 125, 475.
Staehelin, R. 450.
Starkenstein, E. 29.
Steiger, Max 452.
Steiner, G. 456.
Steinitz 848.
Stemmler 62.
Sterling, Stephan und Kazi-
miera 88.
Stierlin, Eduard 87, 486.
Stoffel, A. 125.
Stracker, Osc. 87, 478.
Strasser, A. 55, 866, 443.
Strauß, H. 409.
» A. 90.
Thenen, J. 60.
Thoenen, Fritz 5>8.
Tobias 286.
Trendelenburg, W. 91.
Treupel, W. 40^.
Turban 128.
Ulrichs und 0. Wagner 26.
Urtel 159, 482.
Vitecek 488.
Voltz 484.
v. Voornfeld 488.
Wagner, Karl 25.
* O. 26.
Walkhoff 22.
Walterhöfer 371.
Wamekros, Kurt 122.
Wedholm, Karl 119.
Weiland, W. 28.
Weingärtner, M. 91.
Wei8z, Ed. 115.
Wenckebach 446, 448.
B ' K. F. 1.
Werner, Hanns 86.
* P- 92.
Wichmann 92.
Winter, G. 93.
Winternitz 445.
Wintz, H. 452.
Wossidlo, Erich 9.
Wurmfeld, Armin 96.
Zondek 95.
Zörkendorfer 64, 445.
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Digitized by
Gck igle
Original fro-rn
UNIVERSITY OF MICHIGAN
32
Referate über Bücher und Aufsätze.
maßregeln für seine Lebensführung geben
können. Auch wird durch die Plethysmographie
die Unterscheidung zwischen Dilatation und
Hypertrophie des linken Ventrikels, die be- I
kanntlich klinisch Schwierigkeiten macht, mög¬
lich. Eine konzentrische Hypertrophie wird
sich durch eine nachträglich ansteigende Kurve ]
kundtun. Außerdem gestattet die Plethysmo-
graphie eine Kontrolle weiterer therapeutischer
Maßnahmen bei Herzkranken; so kann man j
z. B. vor einer Digitaliskur eine umgekehrte
Kurve, und nachher eine träge Kurve fest¬
stellen. 2. Die Plethysmographie gestattet die
Trennung der organischen und funktionellen
Herzstörungen. Nervöse Herzen haben stets
eine normale Kurve (Weber u. F. Meyer). |
Gerade jetzt während des Krieges, wo die
Zahl der Herzkranken sehr groß ist, stehen
wir sehr häufig vor der schwierigen
Frage, ob es sich um eine organische oder
funktionelle Affektion oder um Simulation
handelt, eine Frage, die wir klinisch nicht
immer exakt zu beantworten vermögen. Hier
hat die Plethysmographie vielfach den Aus¬
schlag gegeben. Unter dem einschlägigen
Material befinden sich auch einige Fälle, bei
denen klinisch zunächst keine Abweichung zu ;
finden war, die aber plethysmographisch nicht |
als gesund oder nervös anzusprechen waren. |
Wiederholte Nachuntersuchungen haben dann
die Richtigkeit des Plethysmogramms bestätigt.
Vielleicht Hegt hierin die größte praktische
Bedeutung der Methode. Es soll freilich
nicht verschwiegen werden, daß es unter den
Nervösen Leute gibt, die so aufgeregt und
unruhig waren, daß die plethysmographische
Untersuchung aufgegeben werden mußte.
L. Katz (Berlin-Wilmersdorf).
A. Bier, Über die Behandlung von heißen
Abszessen, infektionsverd&chtigen und in¬
fizierten Wunden im aUgemelnen und mit
Morgenrothschen Chininderivaten im be¬
sonderen. B. kl. W. 1917. Nr. 30.
Die Chininderivate, insbesondere das in
0,5%iger wässeriger Lösung gebrauchte
Eucupinum bihydrochloricum haben sich bei
örtlicher Behandlung geschlossener, durch
Strepto- und Staphylokokken verursachte Ab¬
szesse mit Ausschluß der Pleuraempyeme be¬
währt; sie versagten ferner bei fortschreitenden
Phlegmonen, waren dagegen bei Gelenkver-
eiterungen wirkungsvoll. * Für die Kriegs-
Chirurgie käme in erster Linie die prophy¬
laktische Behandlung und Versorgung ganz
frischer Infektionen in Betracht.
Während w ässerige Lösungen von Eucupi¬
num bihydrochloricum starke Reizungserschei¬
nungen und Schwellungszustände der Harnröhre,
ohne genügende Anästhesie zu erzielen, im Ge¬
folge haben, erzeugen 1—3%ig© ölige Lösungen
von Eucupinum basicum eine Daueranästhesie
der Harnblase; jene zeigt sich hier vor allem
bei der Tuberkulose in einer bedeutenden Ver¬
minderung der Krämpfe und des Harndranges
sowie einer Vermehrung des Fassungsver¬
mögens der Blase.
J. Ruhemann (Berlin-Wilmersdorf).
L. Tb. E. t. Draga (Zagreb), Zur diagnosti¬
schen Verwertbarkeit der mikroskopischen
Hantkapillaren-Cnter8nchiingen am leben¬
den Menschen. Derselbe, Die Bewegungen
der Haotkapillaren. W. kl. W. 1917.
Nr. 22.
Verfasser bestätigt die Befunde von Weiß
bezüglich der Veränderung der Kapillaren am
Nagelfalz (Vermehrung der Zahl derselben,
stärkere Schlängelung, verminderte Strom-
gescbwindigkeit, Anastomosenbildung der
Schlingen) bei akuter und chronischerNephritis),
erleichtert die klinische Verwertbarkeit der
Methode durch Angabe der direkten Beobachtung
der Kapillaren, illustriert durch einen Fall
die differentiell-diagnostische Bedeutung des
Kapillarverhaltens für die Abgrenzung der
nephritischen Albuminurien von denen anderer
Provenienz und schildert die rhythmische,
aber nicht dem Herzrhythmus entsprechende
peristaltische Wellenbewegung bei Aorten¬
insuffizienz.
J. Ruhemann (Berlin-Wilmersdorf).
Im Anzeigenteil veröffentlicht das Reichsbank-Direktorium eine Bekanntmachung betreffend
den Umtausch der Zwischenscheine für die 4 x / 2 % Schatzanweisungen und 5 % Schuldverschrei¬
bungen der VI. Kriegsanleihe in die endgültigen Stücke mit Zinsscheinen. Gleichzeitig werden
die Inhaber von Zwischenscheinen für die I., III., IV. und V. Kriegsanleihe, die noch nicht in die
endgültigen Stücke mit den bereits seit 1. April 1915, 1. Oktober 1916, 2. Januar, 1. Juli und
1. Oktober 1917 fällig gewesenen Zinsscheinen umgetauscht worden sind, aufgefordert, diese
Zinsscheine möglichst bald bei der „Umtauschstelle für die Kriegsanleihen“, Berlin W. 8, Behren¬
straße 22, zum Umtausch einzureichen.
\V. Büxenstcin, l>ruek«r«*i un<1 iVutsehor Verlag 0. in. b. II., Ilnrlin SW. 48.
Difitized
by Google
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
iH
p*# A. GOLt>SäpHEIDER fj L, BSUEGER \ ■:'>»
^‘’*•*' ■-'■>'•'•■ *-• ■ '•Awvvv t :.. -‘ .M r J(«ffl
SER ..'1
wST - 1 ":'.'"
*fy0i£iV ''-titiiMMl töl« » V«?«g m G«o?ß TtWime*. AnrcoHvam is
wSÄRSjyw^Mwtiw^^yfrv^* ■ *. ^^^** *" * • jt .i
' ■'
^ **■ # i* *^-
; ' ;-Ä
■1
v^v^Y'V-^v-
IlPÄI
iKV^Ä.^i.a'« i\A IN
i
'i .».
■v 1 ^:^r.'. A --J: r) M
t v^ffef
•; • • ‘
AO ,
ZEITSCHRIFT
FÜR
PHYSIKALISCHE UND DIÄTETISCHE
THERAPIE
Begründet von E. v. Leyden und A. Goldscheider
Herausgeber:
A. GOLDSCHEIDER L. BRIEGER A. STRASSER
Dr. W r ALEXANDER, Berlin VP, FHeUrtch-WJIhelm-Stfasse IS.
te k nä •’« K? x *: : ; ;i - Iff ti '■'* "• ■ n Friedrich*
u ttAic. r% ptoxttfe*} Fd't. - YVo Wm AvStrtsser*
tiätrhoftrS ' - ♦ •:.> Li; /- ^ Korrektur
i*yn t 4Q f *>,?»}££ fr H Blättern
INHALT
leitender Ant der
Die pnafmÄHdtoQlscn
öfeiDenaer Oosiferun
wösentiicfren 0ptuma»*Aiöiöe
* ~ trrfeiCtiösf gimtigMe
fn stets yie»cH~
Deutsches Opiumprioarat
Stapels
■ T>W % ; : ’ ~3
;-j
Amputier*
T*#stton
Löiaog
Svrup
C. H. Boehringer Sohn
Literatur u. Pvaben itif Vertagung de' Herr»?« Ante u. Zahnärzte
C. M, BöehHhger So fw* C^em. ..Fabrik' Nieder - tnggiheim a/Rhem
Anzeigen werden angenommen bei der
Annoncen'Expedition Rudolf Masse
Steril* SW, Smlmi, Omsirn, rreTikfur? *. rL Mam&wg,
Köln fth» Leipzig. HAfniheim, Müncheit, Nwmbc^Q,
SbtMburg L EU*, stwllgsri, Pi*$ Wtwt; Warvdwm. d*wü, ^tirwb
/• 'lifM ftJt ptfV^nwtllsrur || •:» ’ f -a,*».-' t *! *>-. • M< t . <.:*.'•! V \K ilt '
AHe auf den Arzt berechneten Fachanzeigen, insbesondere solche von
HeU-j, Nähr- und Kräftigungsmitteln, physikalischen Apparaten und
Instrumenten, Bade* und Kurorten, Brunnen» und Quellenverwaltungen,
Sanatorien und Heilanstalten, Bade-Einrichtunger» und -Präparaten
usw. usw M werden in der „Zeitschrift für physikalische und diätetische
Therapie 1 ' mit bester Wirkung veröffentlicht. Vorteilhafte Insertions-
bedingüngen. Kostenanschlag unverbindlich. Anffagen erbeten an
die Aozeigooverwaltung in BERLIN SW 19, Jerusalemer Strasse 46-49.
du Midi“ (Heilanstalt (« Lungenkranke)
— Massige Preise-, ~ Prospekte«
Sehr ruhige, windgeschQtzte, sonnige Lage«
für Kertfftn « Dann- and
btoff wscfcaeifcrwske» Srholungabedurf*
ilf*, Modsrasf Römf&rt» vorzögHcö«
Verpttegßög, DUUkä&'fea Moderat K.ar*
eiariehtapgan. Aaerkannt schöne
schätzt« Dag«. Das ganze Jahr geöffnet»
Geh. Sanltfitsfat Or. Haug
Of*r Krataenst&irw
Pfeysiluri)sefe*<l( 8 t«ttscli« Mallanstalt
. . mit Tocht«*haa8
Kurh0tc!6d^^N!f9Qf Hof in d.VMUwkoioftla Bat enoarg. Post Sehterfct
mSed Seiende a. 7{ani^BEh
PrÖrtMcte .lur/in *i©n löitöndöTf Arzt und dB^iirar
irftÄffrröt ^ San.«Hal ür ?ÄO ?Ll*&$A s ftorveitaral, vts&vu
guüauul, * -s,. ti. 3« %il d.mfci kiiaUP fwlt^igD 3.
Erstklassige Fabrikate der Firma
Rossel, Schwarz & Co., Wiesbaden
Ländern, New York
Imtörn^itionaLlei ~ Au«Ct&4iur*gr- tötwsäta'r» 1015
' PrHmiiert mit <3e»w .^rogu&Ätn t&r&lu ti&t AUi©s*tbliutf*Q“
Origmulapparyt;^ System Dr, C. 'Esrntfer . Br. Max. Her*.
Of’iginäiappörüte; System ft'. Sl' C. ürmge OHginal-appbrat^ ' für ' .H^is^itirtbchandlurtg
mM>ene $cUut?m&v\s#} . System Dr, Ö, Tyrr/^ue^ Kaflsftad
Rs&rtMuett — Weitestgehende G^rami-en — Offerten
rait» und franko.
Original-Arbeiten.
i.
Sachgemäße menschliche Kriegsernährung.
Von
Dr. med. Gustav Oeder,
leit. Arzt der Dültkuranstalt in Niederlößnitz b. Dresden.
Es scheint mir an der Zeit, unsere menschlichen Ernährungsverhältnisse im
Deutschen Reiche einmal einer von politischen Gesichtspunkten freigehaltenen
rein sachgemäßen Besprechung zu unterziehen. Wir müssen sachverständig
prüfen, was und wieviel wir zur Erhaltung des Lebens, der Gesundheit und Arbeits¬
fähigkeit unserer reichsdeutschen Bevölkerung mindestens jährlich brauchen, und
was wir mindestens durch die inländische Erzeugung an menschlichen Nah¬
rungsstoffen und Nahrungsmitteln dauernd zur Verfügung haben müssen und zu
haben erwarten dürfen.
A. Was und wieviel an Nahrung brauchen wir?
Eine kurze Berechnung soll uns den täglichen und jährlichen Nahrungs¬
bedarf in runden Zahlen zeigen. Dazu ist zuerst nötig, die Zahl der reichs-
deätschen Bevölkerung festzustellen. Ich muß dabei ausgehen von der Volkszählung
am I. Dezember 1910, weil mir die amtlich festgestellten Zahlen der letzten
Volkszählung noch nicht zugänglich sind. Nach den Veröffentlichungen des Kaiser¬
lichen Statistischen Amtes 1 ) waren am 1. Dezember 1910 ortsanwesend insgesamt
64 925 993 Personen. Die amtliche Statistik zeigt vielerlei Gliederungen dieser
Gesamtmasse, von denen uns hier nur die nach Lebensaltern beschäftigen soll.
Diese Gliederung ist nach einjährigen Abstufungen, und zwar von 0 bis u / u ,
n ; 12 bis l'7i2 Jahren usw. erfolgt. Das 1. Lebensjahr umfaßt also statt 12 nur
11 Lebensraonate. Für unsere Zwecke brauchen wir nun nicht Einzeljahresstufen;
es genügen uns zusammengefaßte Altersgruppen von mehreren Jahren, welche
gemeinsamen, ungefähr gleichen Nabrungsbedarf haben, wobei zu beachten ist, daß
ceteris paribus die Zeit des Körperwachstums einen höheren Bedarf hat, wie die
Zeit des Wachstumstillstandes. Eine Sonderstellung nimmt dabei noch das 1. Le¬
bensjahr mit dem relativ weitaus stärksten Wachstum und Nahrungsbedarf ein:
*) Statistik des Deutschen Reiches, 240. Bd., Heft 1 u. 2. Verlag von Puttkamer & Mühl¬
brecht, Berlin 1915.
ZciUchr. L pfcyaik. u. diät. Therapie Bd. XXIL Heft 2. 3
Digitized by
Go igle
UNIVERSITY OF MICHIGAN
34
Gustav Oeder
dann kommt eine etwas schwächere 2. Wachstumsperiode, die man bis zum Ende
des 15. Lebensjahres, und eine noch schwächere 3., die man bis zuin Ende des
21. Lebensjahres rechnen kann. Danach haben wir 4. die Zeit des Wachstumstill¬
standes bis ungefähr zum Ende des 61. Lebensjahres und zuletzt 5. die Periode
des geringen Rückgangs bis zum Lebensende. Ganz scharf ist eine auf solchem
Einteilungsprinzip ruhende Gruppierung nicht; doch dürfte sie dem praktischen
Bedürfnis hier genügen. Ich teile also die Gesamtbevölkerung von 1910 der
Zahl nach in
Geschlechter):
folgende 5 große Altersgruppen (und
zwar ohne
Scheidung
I. von
0 bis zum vollendeten 1. Lebensjahr (11 Mon.)
1 527 531 Personen,
II. vom 2. bis 15. Lebensjahr.
20 580 399
V
m. „
16- » 21. , .
6 286 719
rt
IV. „
22. , 61. .. .
31 417 140
r*
V. „
62. „ 117. „ (älteste Person!) . .
5114 204
Nun schätze ich, ebenfalls wieder ohne Trennung nach Geschlechtern, aber
unter Berücksichtigung des jährlichen Zuwachses für 1. Oktober 1917 die Gesamt¬
bevölkerung auf rund 68 000 000 Personen, wovon entfallen
auf die I. Gruppe ungefähr (11 Monate!) 1750000 Personen,
ii. »
V
. . . 21000 000
ui. „
*
. . . 6 750000
7f
IV. „
r
. . . 33 500 000
n
V. „
r» •
. . . 5 000 000
r>
Bei dieser Schätzung habe ich berücksichtigt, daß ein Teil der ältesten Leute
wahrscheinlich in höherem Masse in den letzten Jahren abgestorben ist, als früher;
deshalb habe ich die Zahl der letzten Altersklasse niedriger eingesetzt, als 1910.
Ferner ist durch die Kriegsverhältnisse zweifellos auch bei den übrigen Alters¬
klassen eine relative Verminderung eingetreten, der ich Rechnung zu tragen hatte;
sonst hätte ich die Gesamtbevölkerung für 1. Oktober 1917, dem bisherigen Jahres¬
zuwachs entsprechend, auf rund 70 000000 schätzen müssen. Besonders in der
III. Altersklasse ist durch den Krieg wohl ein geringerer Zuwachs, als bisher, wahr¬
scheinlich. Dann steht ein nicht unbeträchtlicher Teil der IV. Altersklasse vermntlich
außer Landes; doch wird der dadurch erzeugte Abgang wieder etwas ausgeglichen
durch den Zugang an Kriegsgefangenen, welche innerhalb der Reichsgrenzen unter- 1
gebracht sind. Die angenommene Bevölkerungszahl von rund 68 000 000 dürfte
daher annähernd mit der Wirklichkeit übereinstimmen; mehr sind es sicher nicht,
und weniger — das wäre für unsere Zwecke unbedenklich, weil dann der
Nahrungsbedarf höchstens für eine kleinere Gesamtzahl befriedigt werden müßte,
also die Deckung kleiner sein könnte.
Wollen wir uns nun ein Bild von dem Nahruugsbedarf dieser 68 000 000
Menschen machen, so gehen wir am besten von ihrem Körpergewicht aus, weil
das Körpergewicht den Ernährungszustand relativ am deutlichsten kennzeichnet.
Wir können dabei natürlich nur Durchschnittszahlen zugrunde legen, um die
Rechnung nicht zu sehr zu erschweren. Auf Grund der Queteletschen Durch¬
schnittsgewichte nach Lebensaltern 1 ) habe ich
*) Berechnet nach Prof. Dr. Hermann Vierordt, Daten und Tabellen, S. 13. Jena 1893.
Verlag von Gustav Fischer.
Digitized by
Go igle
Original fro-rn
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Sachgemäße menschliche Kriegsernährung.
35
für die I. Altersklasse das Durchschnittsgewicht der ‘/»jährigen mit rund 7,0 kg,
, . II.
n n n
R
CO
R
r, , 22,0 ff
r „ III.
V V V
R
CO
R
„ „ 54 : 0 „
, . IV.
n ff v
. 44 ,
* » 63,0 „
. . V.
Jf p r
. 71 .
„ n 61,0 „
angenommen.
Daraus berechne ich
fflr 1 750 000 der I. Klasse
ein
Gesamtgewicht von
12 250 000 kg,
„ 21000000 , II. ,
»
v rt
462 000000 p
„ 6 750000 „ III. „
»
» u
364 500 000 „
ff 33 500 000 „ IV. „
n T)
2110500000 rf
„ 5 000 000 „ V. „
rf
rt n
305 000 000 jf
„ 68 000 000 Menschen
3 254 250 000 kg
und für die Durchschnittseinheit
= 47,86 kg
68 000 000
Dieses Gewicht stellt nicht das Gewicht des „normalen“, auch nicht eines „opti¬
malen“ Ernährungszustandes, sondern nur eine Art „Friedenszeitdurchschnitt“ dar,
den man nach allgemeiner Auffassung für die Kriegszeit etwas vermindern darf,
ohne Leben, Gesundheit und Arbeitsfähigkeit der Bevölkerung zu gefährden; doch
soll diese Verminderung auf keinen Fall mehr, wie ca. 10°/ 0 betragen = 4,86kg.
Ich komme so auf ein „Kriegsnotgewleht“ von durchschnittlich . . 43,00 kg.
M. Rubner hat früher den Friedensdurchschnitt auf etwa 46 kg angegeben. Mein
„Kriegsnotgewicht“ wäre also um 6,5 °/ 0 kleiner, als das Bubnersche durch¬
schnittliche Friedensgewicht. Ich glaube danach, daß meine Annahme eines
lebensnotwendigen Mindestdurchschnittes von 43 kg für die Kriegszeit
ernsten Bedenken kaum begegnen wird.
Der Tagesmindestbedarf
an Nahrung für dieses Durchschnittskriegsgewicht ist annähernd zu finden, wenn
man ihn gleichsetzt in seinem Brennwert dem Verbrauch an Energiemengen, die zur
Erhaltung dieser Mindestkörpermasse nach den bisherigen wissenschaftlichen
und praktischen Erfahrungen im Lebensbetrieb täglich durchschnittlich unbe¬
dingt nötig sind. Ich gehe dabei aus von einem
täglichen durchschnittlichen Kalorienbedarf (Erhaltungsumsatz)
bei Bettruhe auf jedes Kilo Körpergewicht Erwachsener von 25 Kalorien,
Zimmerarbeit „ ,, „ „ „ „ 35 „
.. mittlerer Arbeit „ „ „ „ ,, ,, 45 „
.. schwerer Arbeit „ „ „ „ „ „ 55
und nehme an, daß (mit Ausnahme des 1. Lebensjahres) im Wachstumsalter der
Gruppe II derselbe Erhaltungsumsatz wie bei schwerer Arbeit, im Wachstumsalter
der Gruppe III der Umsatz wie bei mittlerer Arbeit, im Lebensalter der Gruppe IV
ein Umsatz, der dem arithmetischen Mittel von mittlerer und Zimmerarbeit ent¬
spricht, und im Lebensalter V ein Umsatz vorhanden ist, der dem arithmetischen
Mittel von Bettruhe und Zimmerarbeit gleichkommt. Für das 1. Lebensjahr rechne
ich durchschnittlich 100 Kalorien pro Kilo und Tag. Um nun zu sehen, welchen
Kaloriengesamtdurchschnitt ich meiner Berechnung des täglichen Mindestbedarfs
zugrunde zu legen habe, habe ich das Kriegsnotgewicht jeder Altersklasse in
Kilo mit dem entsprechenden Kalorientagesumsatz pro Kilo multipliziert und die
Gesamtsumme der Kalorien durch die Gesamtsumme der Kilo dividiert. Ich erhalte
3*
Digitized by
Go igle
Original from
UNIVERSETY OF MICHIGAN
36
Gustav Oeder
so (Kriegsnotgewicht = Friedensgewicht —10 °/ 0 ):
für die
I. Altersklasse
II.
III.
IV.
V.
12 250 000 — 1225 000 = 11025 000X 100 = 1 102 500000 KaU
462 000 000 — 46 200 000 = 415 800000 X 55^= 22 869 000 000 „
364 500 000 - 36 450 000 = 328 050 000 X 45 = 14 762 250 000 w
2 110500 000 — 211050000 = 1899450000 X 40 = 75978 000 000 „
305000 000 - 30 500 000 = 274 500 000 X 30 = 8 235 000 000 „
für 2 928 825 000 kg 122 946 750 000 Kal.
oder für 1 kg Kriegsnotgewicht einen täglichen Mindestbedarf von 41,98
rnnd 42 Kalorien. Ich bin mir wohl bewußt, daß dieser Kaloriendurchschnitt
etwas niedrig gegriffen ist, weil eine große Zahl der Bevölkerungsgruppen III
und IV in der Kriegszeit anstrengendere Arbeit, wie im Frieden, zu vollbringen
hat; insbesondere unsere Feldsoldaten, die Landarbeiter und ein Teil der Rüstungs¬
arbeiter; doch haben die mehr als die Hälfte ausmachenden weiblichen Personen im
allgemeinen wegen ihrer geringeren Muskelmasse einen etwas niedrigeren Bedarf,
als die männlichen; ich habe aber beide gleich hoch berechnet; dadurch wird
wohl ein hinreichender Ausgleich geschaffen; auch darf man bedenken, daß der
Bedarf, den ich für alle 24 Stunden des Tages im Durchschnitt gleich gerechnet
habe, nur für etwa 10 Stunden dem eigentlichen Arbeitsumsatz der Erwachsenen
(45 bis 55 Kalorien) gleich ist, während etwa 6 Stunden den Umsatz bei Zimmer¬
arbeit, und etwa 8 Stunden nur den Verbrauch bei Bettruhe zu decken verlangen.
In Berücksichtigung dieser Verhältnisse glaube ich, daß der Durchschnitt von 42 Ka¬
lorien pro Kilogramm und Tag zwar knapp, doch ausreichend ist namentlich für
eine Berechnung, welche nur den durchschnittlichen Mindestbedarf uns beziffern
soll. Sollte dieser Durchschnitt aber manchen zu hoch gegriffen erscheinen, so
wollen dieselben sich vergegenwärtigen, daß ein etwaiger niedrigeren Bedarf auch
gedeckt ist, wenn der Nachweis gelingt, daß die für den höheren Bedarf erforder¬
liche Nahrungsmenge vorhanden ist!
Ich werde also mit den 2 Zahlen:
43 kg als durchschnittlichem Kriegsnotgewicht und
42 Kalorien als durchschnittlichem Kriegs-Notbedarf
für die tägliche Nahrung rechnen dürfen. Der tägliche Nahrungsmindestbe¬
darf für die Durchschnittseinheit muß demnach
mit 43 X 42 = 1806 Kalorien
in seinem Brennwert berechnet werden.
B. Deckung.
Die Deckung muß diesem durchschnittlichen Minimalnahrungsbedarf ent¬
sprechen. Sie hat also mindestens täglich 1806 Kalorien auf die Durchschnitts¬
einheit, und tägliche Nahrung in diesem Brennwert zu liefern. Innerhalb
dieser Gesamtdeckungshöhe können die einzelnen Nahrungsstoffe und -mittel für
den Einzelfall verschieden gemischt werden, wobei aber nicht nur die Gesamthöhe
sondern auch bestimmte Mindestmengen für die 3 Hauptgrundstoffe der Nahrung
— Eiweiß, Fett und Kohlehydrate — unverrückbar eingehalten werden müssen.
Unter keinen Umständen darf die minimale Gesamtdeckung auch nur tage¬
lang, geschweige denn dauernd unterschritten werden, weil sonst das
Leben, die Gesundheit und die Arbeitsfähigkeit ernstlich bedroht, ja
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Sachgemäße menschliche Kriegsernährung. 37
einer mehr oder weniger schnellen völligen Vernichtung preisgegeben
werden. Bei den folgenden Ausführungen habe ich das Wasser und die so¬
genannten „Nährsalze“ außer Betracht gelassen. Sie sind zwar ebenso lebens¬
wichtig, wie Eiweiß, Fett und Kohlehydrate, haben aber keinen eigentlichen
Brennwert und stehen im allgemeinen in unbeschränkter Menge jederzeit zur
freien Verfügung. Von den 3 Hauptbrennstoffen der Nahrung werde ich auch im
einzelnen nur die Mindestmengen zugrunde legen, unter die man ohne Schä¬
digung des Körpers nicht herabgehen kann. Wenn auch über diese Mindestmengen
die Meinungen der Sachverständigen in manchen Punkten etwas auseinander gehen,
so wird man sich doch über eine mittlere Linie verständigen können. Als
Eiweißminimum
nehme ich im Durchschnitt 1,0 g reines Eiweiß pro 1 kg Körpergewicht und 1 Tag
an. Für die Erwachsenen dürfte das reichlich, für die Wachsenden allerdings
niedrig und für das Gi eisenalter hoch sein; namentlich für das 1. Lebensjahr
wird man einen erheblich höheren Bedarf (das 2- bis 4fache!) im Auge behalten
müssen; doch dürfte es nicht schwer sein, diesem Bedarf bei der Nahrungszuteilung
aus Überschußbeständen besonders Rechnung zu tragen. Das „Optimum“ der
Eiweißzufuhr dürfte für alle höher sein, als der hier angenommene Durchschnitt.
Von dem Minimum kann je etwa die Hälfte aus dem tierischen und pflanz¬
lichen Eiweiß entnommen werden. Im tierischen Anteil noch weiter herunter zu
gehen, erscheint mir meiner Erfahrung nach nicht ratsam; es spricht doch manches
dafür, daß das Pflanzeneiweiß nicht ganz denselben biologischen Wert für den
Aufbau und Ersatz des menschlichen Zelleiweißes hat, wie das tierische; auch
für den Menschen nicht denselben Wert, wie für den Pflanzenfresser; einige
nehmen auf Grund besonderer Erfahrung sogar an, daß die menschliche Fort¬
pflanzungsfähigkeit durch pflanzliches Eiweiß nicht so gut erhalten werden
kann, wie durch tierisches.
Ich nehme also hier für 43 kg Durchschnittskörpergewicht 43 g reines Eiweiß,
= 176,3 Kalorien als tägliches Minimum an und decke davon durchnittlich
täglich 21,5 g durch tierisches Eiweiß im Brennwert von 88,15 Kalorien und
21,5 g durch pflanzliches „ „ „ „ 88,15 Kalorien.
Das Fettminimum
setze ich ebenfalls im Durchschnitt mit 1,0 g reinem Fett auf 1 kg Körpergewicht
und Tag ein. Dabei braucht wohl biologisch kein Unterschied zwischen tierischem
und pflanzlichen Fett gemacht zu werden. Ein Herabgehen aber unter die Gesamt¬
menge dürfte schon deshalb nicht unbedenklich sein, weil sonst durch die nötige
äquivalente Vermehrung der Kohlehydratnahrung die gesamte Nahrungsmasse
zu voluminös würde, und weil die Erfahrungen eine Begünstigung der Ent¬
stehung von „Hungerödemen“ und des Manifestwerdens latenter Tuberkulosen durch
fettärraere Nahrung wahrscheinlich gemacht haben. Das „Fettoptimum“ scheint
nicht unerheblich über dem hier angenommenen Minimaldurchschnitt zu liegen.
Ich rechne also für 43 kg Durchschnittsgewicht
täglich 43 g reines Fett = 399,9 Kalorien.
Mit dieser Umgrenzung des Mindestbedarfs der täglichen Nahrung an den durch
diese 2 Komponenten, Eiweiß und Fett, zu deckenden Brennwerten ist auch
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
38
Gustav Oedcr
die Kalorienmenge und damit die Menge des täglichen
Kohlehydratminimums
ohne weiteres gegeben. Die Kohlehydratnahrungsmittel müssen mindestens
1806 — 576,2 = 1229,8 Kalorien decken,
also täglich 299,8 g reines Kohlehydrat liefern.
Fast V.t des täglichen Kalorienmindestbedarfs ist demnach aus den
Eiweiß- und Fettspendern,
etwas über 2 /., aus den Kohlehydratspendern unserer Nahrung zu holen.
C. Die Nahrungsmittel,
welche als hauptsächliche Spender für die 3 Nahrungsgrundstoffe von der
inländischen Produktion geboten werden, sind als
1. vorzugsweise Eiweißspender: Schlachttierfleisch, Geflügel, Wild, Fische,
Magerkäse und Vogeleier;
2. vorzugsweise Fettspender: Butter, Schweineschmalz, Margarine und öle;
3. vorzugsweise Kohlehydratspender: Zucker, Kartoffeln, Getreide, Hülsen¬
früchte, Wurzelgewächse, Kraut-, Kohl- und Blattgemüse, Obst und Bier.
Den täglichen Gesamtkalorienbedarf für 43 kg und die erforderlichen Eiweiß-,
Fett- und Kohlehydratmengen können wir beispielsweise im einzelnen aus fol¬
genden Nahrungsmitteln in beigefügter abfallfreier Menge und Zusammensetzung
bekommen:
1. Eiweißspender:
E.
F.
K.
40,0 g fettes knochenfreies Schlachtfleisch (Kalb) .
7,44
2,84
—
10,0 g knochenfreies Geflügel (Hahn).
2,27
0,30
0,25
5,0 g Fisch ohne Gräten, Kopf u. Flossen (Hering)
0,75
0,35
—
20,0 g Käse (Magerkäse) ..
6,76
2,22
0,82
75,0 g
17,22
5,71
1,07
2. Fettspender:
100,0 g Vollmilch (Kuh).
320
3,50
4,80
10,0 g Butter (Kuh).
0,07
8,12
0,05
15,0 g Schmalz (Schwein).
0,03
14,27
—
10,0 g Margarine („Sana“).
0,05
8,45
0,04
135,0 g
3,35
34,34
4,89
3. Kohlehydratspender:
150,0 g Mehl (80 % Roggenausmahlung).
10,05
1,35
104,70
675,0 g Speisekartoffel (geschält).
10,13
0,68
135,00
45,0 g Zucker (Rübenzuckerraffin.) ......
—
—
44,06
75,0 g grünes Gemüse (Schoten).
3,53
0,23
7,80
3,00 g Obst (Kirschen, entsteint).
0,27
—
3,69
975,0 g
23,98
2,26
295,25
1185,0 g Gesamtgewicht
44,55
42,31
301,21 = 1811,1 Kal.
In dieser Nahrung haben wir auf 1 kg Körpergewicht und Tag 42,12 Kal.
Ich bemerke dazu, daß der Eiweiß-, Fett- und Kohlehydratgehalt dieser Nahrungs¬
mittel hier natürlich nur nach ungefähren Durchschnittszahlen ausgerechnet werden
konnte; ich habe sie der Nahrungsmitteltabelle von Dr. Schall und Dr. Heisler 1 )
') Dr. Hermann Schall und Dr. August Heisler, Nahrungsmitteltabelle. Verlag von
Kurt Kabitzsch, Wtlrzburg 1910.
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Sachgemäße menschliche Kriegsernährung.
39
entnommen. Anspruch auf absolute Genauigkeit können diese Zahlen um so weniger
machen, als die Zusammensetzung der einzelnen Nahrungsmittel immer schwankt.
Deshalb ist auf die kleine Unterdeckung beim Fett und die geringe anscheinende
Überdeckung beim Eiweiß und bei der Gesamtsumme auch gar nicht zu achten.
Bei Ersetzung einzelner durch andere äquivalente Nahrungsmittel kann die erforder¬
liche Ersatzmenge auch nicht immer genau abgewogen werden; die Mengengewichte
sind eben runde Zahlen, bei denen nicht erwartet werden kann, daß die daraus
errechneten Kalorienmen&en stets auf Tüpfelchen ganz genau den Bedarf decken.
Annähernd aber stimmt die Rechnung.
In das Berechnungsbeispiel habe ich aus der großen Zahl der fast regel¬
mäßig in Betracht kommenden Nahrungsmittel nur eine kleine Zahl — allerdings
die wichtigsten — wahlweise eingesetzt. Als Ersatz dafür und zu ihrer Ergänzung
stehen uns noch zu Gebote und können auch zur nötigen Abwechslung tageweise
gebraucht werden:
1. Hühner- und andere Geflügeleier,
2. Schlachtblut (und Wurst),
3. Eßbare Eingeweide der Schlachttiere,
4. Scblacbttiere (außer dem genannten
Kalb),
5. Geflügelarten (außer dem genannten
Hahn),
6. Wildbret,
7. Fischarten (außer dem - genannten
Hering),
8. Schaltiere,
9. Gelatinen,
10. Käsearten (iußer dem genannten
Magerkäse),
11. Knochenmark,
12. Öle aus Samen, Bucheckern und
Getreidekeimen,
13. Lebertran,
14. Speck, Talg,
15. Sahne,
16. Vegetabile Milch,
17. Getreidearten (außer dem Roggen),
18. Teigwaren,
19. Mais,
20. (Reis),
21. Kastanie,
22. Hagebutte,
23. Kohlrübe und Kohlrabi,
24. Weiße, rote, gelbe Rüben,
25. Rettiche und Radieschen,
26. Kraut-, Kohl- und Blattgemüse,
27. Hülsenfrüchte (außer den genannten
Schoten),
28. Spargeln,
29. Schwarzwurzeln,
30. Pilze,
31. Tomaten, Gurken und Kürbisse,
32. Weintrauben und andere Beeren,
33. Nüsse und Mandeln,
34. Kern- und Steinobst (außer den
Kirschen),
35. Bienenhonig,
36. Schokoladen und Malzzucker,
37. Biere,
38. Frauenmilch u. a. m.
Je nach der Jahreszeit, Örtlichkeit, verfügbaren Vorräten, etwaiger Krankheit,
individuellem Geschmack und Gewohnheit wird tageweise bald das eine, bald das
andere dieser Nahrungsmittel zum ganzen oder teilweisen Ersatz der im Berechnungs¬
beispiel genannten herangezogen werden können; doch wird der Ersatz nur inner¬
halb der Eiweiß-, Fett- und Kohlehydratgruppen und immer nur in Mengen von
gleichem Brennwert 'und annähernd gleichem Gehalt an den 3 Grundnährstoffen
erfolgen dürfen, wie er für die Beispielsnahrungsmittel angenommen war. Kleine
Unterschiede in der Zusammensetzung nach Gesamtbrennwert können wochenweise
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
40
Gustav Oeder
ausgeglichen werden. Nur so kann die Gesamt- und Einzeldeckung des Bedarfs
gewährleistet werden. Wenn eben bei der Einsetzung der Ersatzstoffe ins
Berechnungsbeispiel an einem Tage zuviel Eiweiß oder Fett herauskäme, kann
der andere Tag durch eiweiß- oder fettärmere Stoffe den Ausgleich bringen. Auf¬
fallen könnte, daß ich im Berechnungsbeispiel die Geflügeleier nicht eingestellt
habe. Das wird seine Erklärung finden dürfen in der Tatsache, daß sie für die
Kalorienberechnung wegen ihrer unsicheren und kleinen Produktionsmengen keine
Bedeutung haben; ich habe eben in dem Beispiel nur die wichtigsten und in stets
erfaßbarer Menge vorhandenen Nahrungsmittel dabei berücksichtigen können.
Wenn ich beim Schlachtfleisch bloß die Kalorienwerte für das Kalb eingesetzt
habe, so geschah das, weil in diesem Mittelwert eine Ersetzung leicht durch die
anderen Schlachttierfleischwerte möglich ist. Den Magerkäse habe ich als
Beispiel gewählt, weil er sozusagen als Nebenprodukt bei der Butterherstellung
aus demselben Grundmatevial (Kuhmilch) gewonnen werden kann. Beim Schmalz
bin ich vom Schweineschmalz ausgegangen, weil das Schwein neben der Kuh
unser bester Fettproduzent aus allerlei pflanzlichen Kohlehydraten ist.
Roggenmehl, .Kartoffeln und Rübenzucker, die ich im obigen Beispiel noch
genannt habe, sind die Grundlagen der menschlichen Kohlehydratnahrung. Änliche
Erwägungen waren für die Auswahl der anderen Beispiele maßgebend.
Bei dieser Gelegenheit muß ich noch einmal auf einen Umstand besonders
aufmerksam machen, der mir gegen eine reichlichere Verwendung pflanzlicher
Kohlehydratnahrnngsmittel zu sprechen scheint, nämlich auf das Volumen und
Gewicht der menschlichen Nahrungsmittel. In unserem Berechnungsbeispiel
wiegt die gesamte tägliche Mindestnahrung für 43 kg Kriegsnotgewicht bereits
mindestens 1185 g; dazu kommt noch das nötige Wasser. Wenn ich dieses Nahrungs¬
gewicht auf das Körpergewicht des Erwachsenen umrechne, kommen für 64,5 kg
(= l’/sfaches Durchschnittsgewicht) bereits 1780 g heraus; dazu noch 1500 g Wasser!
Das ergibt täglich 3280 g = über 6 V 2 Pfund tägliches Mindestnahrungs¬
gewicht! Mehr können nur wenige Menschen aufnehmen; bei vielen reicht das
Fassungsvermögen ihres Magen-Darmkanals nicht einmal dazu aus. Da
die Kohlehydratnahrung am voluminösesten ist, kann sie nicht schrankenlos ver¬
mehrt werden. Man wird häufig, um das Nahrungsvolumen dem Fassungsvermögen
des Magens und Darms anzupassen, sogar die Kohlehydratmenge vermindern und
den Ausfall durch äquivalente, aber kompendiösere Fettmengen ersetzen müssen,
die bei kleinerem Gewicht und Volumen den größten Brennwert liefern; oft beträgt
das Volumen des Fettes nur V 20 äquivalenter Kohlehydratmengen aus den
Vegetabilien! Dieser Umstand zwingt meist dazu, die pflanzlichen Nahrungsmittel
durch das Tier erst in das kompendiösere Fett umwandeln zu lassen. Dazu
brauchen wir vor allem das Schwein. Das mögen die bedenken, die immer nur auf
den Brennwertverlust hinweisen, der durch diese Umwandlung theoretisch entsteht!
D. Der jährliche gesamte Mindestnahrungsbedarf
für die 68 000 000 Menschen im Deutschen Reich läßt sich auf Grund des oben
berechneten täglichen Durchschnittsbedarfs für 365 Tage leicht in seinem Brenn¬
wert beziffern. Die Gesamtkaloriensumme würde sein:
1806 X 365 X 68 000 000 = 44 8 2 4 92 0 000 000 Kalorien.
k Digitized by Gck >gle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Sachgemäße menschliche Kriegsernährung.
41
Mit dieser schwindelnd hohen Zahl kann man jedoch keine rechte Vorstellung
der jährlich nötigen Nahrungsmengen verbinden. Um ein verständlicheres Bild
davon zu bekommen, müssen wir die Nahrungsmittel selber in ihren einzelnen
Mengen ausrechnen. Ich gehe dabei von den täglichen Mindestmengen des
Einzeldurchschnitts aus, die im Berechnungsbeispiel angegeben sind, wobei t ich
beim Schlachtfleisch die einzelnen Viehsorten, und beim Getreide die wichtigsten
Getreidesorten einzeln aufführen werde, die hauptsächlich in Betracht kommen.
Diese Berechnung ergibt in Tonnen (= 1000 kg) rund:
• täglich jährlich
1. für täglich -10,0 g abfallfreies Schlachtfleisch von Ochsen, Bullen,
Stieren, Jungvieh, Kälbern, Schweinen, Schafen
und Ziegen . . .
2 720 t
992 800 t
'2
10,0g abfallfreies Gef 1 ügel-u. WiIdfl eisch von Huhn,
Hahn, Gans, Ente, Rebhuhn, Fasan, Truthahn,
•V -
Reh, Hirsch, Hase, Kaninchen usw.
„ 5,0 g abfallfreies Fleisch der Fluß und Seefische
680 t
248 200 t
(außer Aal) .
340 t
124 100 t
4. .
20,0 g Magerkäse aus Kuhmilch.
1360 t
496 400 t
100,0 g Kuhvollmilch.
6800 t
2482 000 t
6. -
10,0 g Kuhbutter.
680 t
248 200 t
4 -
„ 15,0gSchweineschmalz .
1020 t
372 300 t
8.
10,0 g Margarine (Sana).
680 t
248 200 t
c*
45,0 g Zucker aus Zuckerrüben .
3060 t
1 116 900 t
IO. _
^ 150,0 g 80% Mehl aus Roggen und Weizen.
10 200 t
3 723000 t
11 -
675,0 g geschälte = 750 g ungeschälte Kartoffeln
51 000 t
18 615 000 t
12. _
75,0g abfallfreies grünes Gemüse.
5 100 t
1 861 500 t
IX .
30,0 g „ Obst.
2 040 t
744 600 t
Um diesen Jahresbedarf an den einzelnen Nahrungsmitteln zu befriedigen,
brauchen wir
I. Fleisch.
Zur Gewinnung der 992 800 t abfallfreien Schlachtfleisches gehören:
im Einzel-
Gesamt-
Kuocb.
Scblachttiersorten Schlacht¬
Schlacht¬
=
Fleisch
Fett u.
und
gewicht
gewicht
Sehnen
rund
425 000 Ochsen i
575 000 Bullen j J ' db ° kg
350 000 t
60 %
= 210 000 t
25% =
87 500 t
15%
1 700 000 Kühe .... 275 B
467 500 t
65%
= 303 875 t
20% =
93 500 t
15%
1 000 000 Stiere u. Jung¬
rinder . . . 150 „
150 000 t
70%
= 105 000 t
15% =
22 500 t
15%
4 000000 Kälber (unter 3
Monaten) . . 35 kg
140 000 t
60%
= 105 000 t
10% =
14 000 t
15%
_
15 000 0C0 Mastschweine 65 „
975 000 t
50%
= 487 500 t
40% =
390 000 t
10%
_
1 000 000 Schafe (2 bis 4j.) 30 „
30 000 t
60%
= 18 000 t
30 % =
9 000 t
10%
,
500 000 Ziegen .... 20 ,
10000 t
70%
= 70001
15%,=
1050 t
15 %
24 2u0 000 Schlachttiere
1 236 375 t
617 550 t
Eine solche Zusammenstellung könnte wie ein Phantasiespiel mit Zahlen aus-
sehen, wenn ihm die Wirklichkeit nicht entspräche. Ich darf daher kurz darauf
hin weisen, daß im Jahr 1914 nach der Fleischbeschaustatistik tatsächlich 1 ) ge-
>) Vierteljahrshefte der Statistik des Deutschen Reiches 1915, herausgeg. vom Kaiserl.
Stat. Amt, Heft H.
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
42
Gustav Oeder
schlachtet wurden: 29 302 528 Stück, und zwar
546 330 Ochsen
575 761 Bullen
1 619 932 Kühe
889 634 Jungvieh
3 850 263 Kälber (unter 3 Mon.)
19 441 273 Schweine
1869 847 Schafe
509 488 Ziegen
gegenüber meiner Annahme + 96 330,
7 > v n + 761,
* . » - 80 068,
, „ , - 110 366,
- » - H9 737,
+ 4 441 273,
„ . „ + 869 847,
„ „ . + 9488.
Ich habe also einen um rund 5 000 000 Stück niedrigeren Schlachttierbedarf
angenommen, als wir ihn 1914 tatsächlich zur Benutzung gehabt haben. Dabei
habe ich das durchschnittliche Schlachtgewicht der einzelnen Tiere mit Rück¬
sicht auf den teilweisen Mangel an Mastfutter nicht hoch eingesetzt. Die Zahl
der Schlachtochsen habe ich herabgesetzt, weil die Ochsen wegen Pferdemangels
wohl in größerer Zahl wie früher als Zugtiere benutzt werden müssen. Diesen
Ausfall an Schlachtvieh habe ich durch stärkere Heranziehung der älteren Kühe
und der Jungrinder ausgeglichen. Die Zahl der jungen Schlachtkälber habe ich
erhöht, weil ihre Frühabschlachtung die für die menschliche Ernährung frei¬
werdende Kuhmilchmenge vermehrt. Die Zahl der Schlachtschweine habe ich
erheblich vermindert, weil der Mastfuttermangel die Schweineaufzucht erschwert,
und die alten Schweinebestände durch die bisherigen Abschlachtungen reduziert
worden sind. Die Zahl der Schlachtschafe habe ich erheblich vermindert, weil
zum teilweisen Ausgleich unseres Baumwollmangels eine Vermehrung der Woll¬
schafe nützlich erscheint. Die Zahl der Schlachtziegen habe ich etwas ver¬
mindert, weil eine größere Zahl von Milchziegen zur Deckung des Milchbedarfs
namentlich für kranke Menschen in die Privathauswirtschaft eingestellt worden
ist. Ich glaube, durch diese Änderungen der Wirklichkeit in genügender Weise
Rechnung getragen zu haben. Doch werde ich unsere Viehhaltung noch besonders
zu besprechen haben. Ich komme nun zur
H. Kuhmilch.
Zur Deckung des menschlichen Mindestbedarfs brauchen wir — immer nach
dem obigen Beispiel betrachtet — jährlich:
1. Vollmilch zum Trinken und Kochen. 2482000 t
2. Vollmilch zur Herstellung des 248 2001 Butter (30kg = 29 Liter auf 1kg Butter!) 7 446 000 t
zusammen Vollmilch 9 928 000 t
Zur Hervorbringung dieser Vollmilchmenge gehören
rund 2 000 000 Kühe, denen die Kälber nach 20 Tagen weggenommen werden. Diese
Kühe liefern durchschnittlich in 280 kalbbefreiten Tagen je 6500 g
täglich, also in der ganzen Milcbperiode je 1720 kg (= 1667 Liter), zus. 3 440 000 t
rund 2 000 000 Kühe, denen die Kälber nach40Tagen weggenommen werden, 260 kalb¬
befreite Tage zu je 6000 g ergeben pro Kuh 1560 kg (= 1512 Liter), zus. 3 120 000 t
rund 4 500 000 Kühe, denen die Kälber nach 120 Tagen weggenommen werden, 180 kalb¬
befreite Tage zu je 5000 g ergeben pro Kuh 900 kg (= 872 Liter), zus. 4 050 000 t
Diese 8 500 000 Milchkühe liefern für den Menschen verfügbare Vollmilch im Jahre 10 610 000 t
Gebraucht werden.,. 9 928 000 t
Wir würden dabei einen Jahresüberschuß haben von. 682 000 t
als Sicherung für Verderb u. a. also = 670 000000 Liter.
Digitized by
Gck igle
Original fro-rn
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Sachgemäße menschliche Kriegsernährung. 43
Der für den Menschen nutzbare Milchertrag ist, wie mir praktische Landwirte
bestätigt haben, hier durchweg sehr niedrig angenommen. Ich habe die in die
Saugzeit des Kalbes fallende Kuhmilchabsonderung völlig außer Berechnung ge¬
lesen, obgleich ich weiß, daß das Kalb in der Regel nur Vs bis ’/s der täglichen
Muttermilch braucht und säuft. Auch sind im Durchschnitt nur 300tägige Milch-
und 65tägige völlige Trockenstellungsperioden zugrunde gelegt, obgleich die Mehr¬
zahl der Kühe jährlich länger Milch gibt. Es darf daher als wahrscheinlich be¬
zeichnet werden, daß mindestens mit dem angenommenen Milchertrag dauernd
gerechnet werden kann, solange das nötige Milchvieh der Zahl nach und das nötige
Futter vorhanden ist, wobei zu beachten ist, daß das „Kalben“ einen viel größeren
Einfluß auf die Milchproduktion hat, wie das Futter! Auch die für die Butter¬
bereitung angesetzte Vollmilchmenge ist mit 29 Litern für 1,0 kg Butter als relativ
hoch zu bezeichnen; man rechnet wohl im allgemeinen nur mit 28 Litern. Statt
des Hohlmaßes habe ich grundsätzlich das Gewicht eingesetzt, da ich die Tages¬
portion für 43 kg Mensch auch dem Gewicht nach mit 100 g angenommen habe.
Die Umrechnung in Litern basiert auf einem spezifischen Durchschnittsgewicht von
1032 (pro Liter). Aus der verfügbaren Vollmilch für Butterbereitung wird gleich¬
zeitig die Magermilch für die Herstellung von 469 000 t Magerkäse ge¬
wonnen. Man braucht dazu rund.. 6 000000 t Magermilch.
♦ Es bleiben dabei noch etwa 220 000 t Magermilch aus der für die Butter¬
bereitung verfügbaren Vollmilch übrig, weil mit dem Rahm nur etwa 1 225 000 t
Milch weggenommen werden. Aus dieser Rahmmenge bleiben nach der Ent-
bntterung noch etwa 975 000 t Buttermilch übrig. Bei der Bereitung des Mager¬
käses verbleiben weiter noch etwa 5 000 000 t Molken.
Diese Prüfung der Milchwirtschaft ergibt also, daß der angenommene
jährliche Milchertrag unter Berücksichtigung des Verarbeitungsverlustes von
ca. 5 °/ 0 hinreicht für
1. 2 482 000 t Vollmilch zum Trinken,
2. 682 000 t Vollmilchreserve,
3. 248 200 t Butter,
4. 469 000 t Magerkäse,
5. 220 000 t Magermilch,
6. 975 000 t Buttermilch, -
7. 5 000 000 t Molken.
III. Schweineschmalz
gewinnen wir bei der Schlachtung von 15 Mill. Mastschweinen (siehe oben!),
ca. 40 °/ 0 des Schlachtgewichts = 390 000 t, wodurch die geforderten jährlichen
372 000 t reichlich gedeckt sind.
IV. Margarine.
Ich habe dabei die „Sana“ - Margarine ins Auge gefaßt, weil zu ihrer
Herstellung keine Kuhmilch, sondern Mandelmilch genommen wird. Die Fabri¬
kation dieser Margarine ist mir allerdings nicht genau bekannt. Ich weiß
nicht, wie viele Mandeln (oder Kürbiskerne) zur Gewinnung von 1 Tonne Sana
gehören.
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSETY OF MICHIGAN
44
Gustav Oeder
Für den Fettanteil können wir aus dem Schlachttierfett
etwa 220 000 t Rinder- und Schaftalg und noch
„ 18 000 t Schweineschmalz benutzen; außerdem braucht man
wohl noch . . . 23 800 t Sesamöl, eine Menge, von der ich nicht weiß, ob
wir sie haben; auch nicht, ob sie teilweise durch Lein-, Raps-, Mohn-, Sonnen¬
blumensamen-, Erdnuß-, Walnuß-, Buchecker-Öl ersetzt oder ergänzt werden
könnte. Immerhin kann die vollwertige Ersetzungsmöglichkeit der obigen
jährlichen Margarinegesamtmenge schon durch die verfügbaren Speisefette als
vollkommen gesichert angesehen werden, wenn es nicht möglich sein sollte,
daraus Sana in der nötigen Menge zu fabrizieren.
Wenn ich die zur Gewinnung des Fleisches, der Kuhmilch, der Butter, des
Magerkäses und der Margarine nötige Viehwirtschaft zusammenfassend be¬
trachte, so würden zweifellos die eingestellten Viehzahlen nach jeder Richtung
ausreichend sein. Was aber
V. Geflügel und namentlich Wild
angeht, so muß ich in Ermangelung zuverlässiger Durchschnittszahlen für die Zahl
des Geflügels und Wildes, für das Lebendgewicht und die Abfälle, von einer Unter¬
suchung über die für die Gewinnung von jährlich 248 200 t nötigen Geflügelfleisch¬
mengen hier absehen und kann das glücklicherweise auch, weil die angenom¬
mene Zahl der Sc^hlachttiere schon 1 235 875 t Fleisch lieferte, also über die
eingestellte Schlachtfleischmenge . . 992 800 t hinaus eine Überschußreserve
von. 243 075 t ergab.
Es blieben also von den . . . 248 200 t durch Geflügel und Wild selber
im Notfall nur ca. . . . . . . . 5 125 t zu decken — eine relativ so
kleine Menge, daß an ihrer Beschaffbarkeit ein Zweifel nicht bestehen kann. Von
Sachverständigen wird der jährliche Fleischertrag aus Wildabschuß auf etwa
30 OOO t geschätzt.
VI. Fluß- und Seefische.
Im allgemeinen wird man dabei 50 bis 55 °/ 0 Abfälle rechnen, also rund
jährlich 500 000 t brutto brauchen. Einzelheiten über die verfügbaren Mengen
sind nicht bekannt, sie wechseln auch sehr; doch spielen die Fische keine so
erhebliche Rolle zur Deckung des menschlichen Eiweiß- und Nahrungsbedarfs,
daß die Nichtlösung dieser Frage das Gesamtergebnis meiner Berechnung ins
Schwanken bringen könnte. Denn zum Teil könnte der Ausfall (wenigstens im
Eiweiß) durch Vermehrung der Käseproduktion aus der überschüssigen Magermilch
und durch' Eier gedeckt werden.
Wichtiger als die Einzelerörterung des Fluß und Seefischbedarfs ist die
Besprechung des Kohlehydratbedarfs und seine Gewinnung aus Zucker, Kartoffeln
und Getreide.
Bei Besprechung der Kohlehydratspender beginne ich mit dem
VII. Zucker;
denn er stellt die reinste Form der Kohlehydratnahrung dar. Da die Gewinnung
des Zuckers aus Zuckerrohr u. a. in Deutschland ausgeschlossen erscheint, kommt
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Sachgemäße menschliche Kriegsernährung. 4C>
hier nnr die Zuckerrübe als Zuckerlieferant in Betracht. Um die im Beispiel an
genommenen 45 g pro Durchschnittseinheit und Tag zu haben, brauchen wir fiir
die Gesamtbevölkerung
jährlich 1 116 900 t Zucker.
Za ihrer Herstellung ist ungefähr die 7 V 2 fache Menge an Zuckerrüben, also
jährlich rund 8 500 000 t Zuckerrüben
erforderlich.
VIII. Kartoffeln.
Sie sind neben Fett und Mehl das Rückgrat unserer ganzen Volksernährung
weil sie auch die Haupt-Fleisch- und Fett Spender unter unseren Haustieren —
die Schweine — mit zu ernähren und zu mästen haben. Um täglich dem Durch¬
schnittsmenschen 675 g geschälte Kartoffeln liefern zu können, brauchen wir
täglich etwa 750 g ungeschälte Kartoffeln, also für die Gesamtbevölkerung
jährlich 18 615 000 t Speisekartoffeln.
Da die Kartoffel beim Aufbewahren durch Verdunstung, Keimen und Faulen teil¬
weise schwindet, so müssen wir dafür etwa 15 % dazu nehmen, also bereitstellen
jährlich rund 21 500 000 t Speisekartoffeln.
IX. Mehl.
Für die Herstellung der auf täglich 150 g 80 % Roggenmehl oder äquivalente
Mengen anderer Mehle angenommenen Durchschnittsmenge brauchen wir Mehl¬
getreide. Ich will beispielshalber nur Weizen und Roggen als Hauptmehlspender
hier heranziehen und den gesamten Mehlbedarf
mit ’/ 3 aus Weizen und 2 / s aus Roggen
berechnen. (Die objektiv geringe Menge von 150 g täglichem Mehl ist unsere*
diesjährigen Getreideernte schon angepaßt.) Bei täglich 50 g Weizenmehl brauchen
wir jährlich 1241000 t Weizenmehl und dabei bei 80 % Ausmahlung des
Weizens (unter Einrechnung von 5 °/ 0 Mahlverlust) für 751 Mehl 100 t Getreide, als«
jährlich 1654 000 t Weizen.
Bei 100 g täglichem Roggenmehl pro Durchschnittseinheit brauchen wir
jährlich 2 482 000 t Roggenmehl
und dazu 1001 Getreide auf 651 Mehl, bei 15% Spelzabgang und Mahlverlust, folglich
jährlich 3 820 000 t Roggen.
Für X. die grünen Gemüse und XI. das Obst ist es schwierig, bestimmte
Gesamtzahlen] anzugeben, weil viel zu viele Sorten davon in Betracht kommen,
und eine genaue Statistik über die Produktion fehlt. Da die durch diese
Nahrungsmittel zu deckenden Brennwerte nur etwa VöO des Kalorienbedarfs aus-
machen, ist eine genaue Berechnung wohl auch überflüssig. Natürlich will ich
damit den Wert der grünen Gemüse und des Obstes für die menschliche Ernährung
nicht unterschätzen. Sie sind besonders ihres Nährsalzgehaltes wegen absolut
unentbehrliche Nahrungsmittel.
Gewürze (Knollen u. a.) bedürfen hier keiner Besprechung.
(Schluß folgt.)
Digitized by
Go« igle
Original fro*m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
46
Z. v. Dalmady
ii.
Oie Nachbehandlung rheumatischer und ähnlicher Kriegs¬
erkrankungen in Bädern und Heilanstalten 1 ).
Mitteilung ans der Nachbehandlungsanstalt des kgl. ung. Landesfürsorgeamtes
„Csäsäzrfürdö“ in Badapest.
Von
Doz. Dr. Z. t. Dalmady.
Die Nachbehandlung von Kriegsrheumatismus und ähnlichen Erkrankungen
unterscheidet sich in mehreren Beziehungen von der Art, mit welcher wir diese
Krankheiten in Friedenszeiten zu behandeln gewohnt sind. Der Unterschied wird
hauptsächlich durch folgende Umstände bedingt:
1. Eine große Anzahl der Fälle zeigt eine von der gewohnten abweichende
Form, und die Differentaldiagnose muß auch solche Möglichkeiten in Betracht
ziehen, an welche wir in Friedenszeiten kaum zu denken hatten.
2. Die Beurteilung der subjektiven Beschwerden und rein funktio¬
nellen Störungen muß eine andere sein, als zu Friedenszeiten, und kann höchstens
mit der in der Versicherungspraxis geübten verglichen werden.
3. Es muß eine so große Anzahl der Kranken gleichzeitig behandelt werden,
daß wir unsere Einrichtungen und die Auswahl der Methoden diesem Umstande
anzupassen gezwungen sind.
Um ein klares Bild zu gewinnen, müssen wir diese Momente nachher betrachten.
Es ist vor allem festzustellen, daß den besprochenen speziellen Heilanstalten
mit der stereotypen Diagnose „Rheumatismus“ alle mögliche Krankheiten, die mit
Gliederschmerzen einhergehen, zugeschoben werden. (Es scheint, daß in der
Praxis die Konstatierung von Gliederschmerzen sozusagen automatisch die Ver¬
ordnung einer physikalischen Therapie nach sich zieht, welche gegen rheumatische
Beschwerden angewandt wird. So kommt es, daß im Krankenmaterial der Anstalten
alle mögliche durch Gliederschmerzen charakterisierte Krankheiten vertreten sind,
— von Lungentuberkulose bis zur Tabes, von Zuckerkrankheit bis zum Plattfuß,
ja es kommen selbst echte Rheumatismusfälle dazwischen vor.) Daraus folgt,
daß die genaue Diagnose eigentlich im Bade, bzw. in der Heilanstalt gestellt
wird, woraus die wichtige Forderung gezogen werden muß, daß die speziellen
Nachbehandlungsanstalten mit allen Einrichtungen und Mitteln der Diagnostik
ausgestattet sein müssen.
') Vortrag gehalten an der gemeinschaftlichen Tagung der ärztlichen Abteilung der
Waffenbrüderlichen Vereinigung in Baden bei Wien.
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die Nachbehandlung rheumatischer und ähnlicher Kriegserkrankungen usw.
47
Die Diagnose wird Erschwert durch den Umstand, daß wir sehr oft Fällen
begegnen, die in keine der bekannten Krankheitsgruppen einzustellen sind, und
andererseits, daß wir auch solche Krankheiten bei der Differentaldiagnose in
Betracht ziehen müssen, an welche wir in der Friedenspraxis kaum zu denken
batten.
Es ist schon seit Beginn des Krieges bekannt, daß die Gliederschmerzen in
überwiegender Mehrzahl unserer Fälle die unteren Gliedmaßen ergreifen.
Man kann wohl behaupten, daß in 90 °/ 0 die unteren Gliedmaßen erkrankt sind.
Es ist weiterhin festgestellt worden, daß eigentliche Rheumatismen verhält¬
nismäßig selten Vorkommen.
Die rheumatischen Schmerzen der unteren Extremitäten werden oft
durch organische Erkrankungen und Veränderungen erklärt. So sind der schmerz¬
hafte Plattfaß, die Metatarsalgie, die Tarsalgie, bedingt durch einen Calca-
oenssporn, Folgezustände von Verrenkungen, Distorsionen oder anderer
traumatischer Verletzungen oft als Ursache der Schmerzen zu erkennen.
Manchmal scheinen Varikositäten die Schmerzen zu verursachen. In anderen
Fällen sind die Sehnenscheiden oder die Schleimbeutel entzündlich erkrankt.
Eine entzündliche Erkrankung der Gelenke ist verhältnismäßig selten und wird,
am häufigsten am Kniegelenk gefunden. Daß alle möglichen Gelenkerkrankungen
Vorkommen, sei nur nebenbei bemerkt. Echte Neuritiden — mit allen charakte¬
ristischen Symptomen — kommen auch häufig vor, besonders der Ischias, wie
iies schon von Professor Blind eingehend beschrieben wurde.
Es kommen jedoch Fälle mit objektiven Krankheitszeichen vor, die gewisser¬
maßen charakteristisch für die Kriegspraxis sind. Es sind in erster Linie die
Gliederschmerzen nach Erfrierungen und überhaupt die Spätfolgen der Erfrierun¬
gen zu erwähnen. Schon Volk und Stiefler beschrieben die Muskelschmerzen
bei Erfrierungen, — und besonders Schneyer schilderte eingehend die Gefühls-
störungen als Spätfolgen derselben. Wir konnten auch eine Anzahl von Fällen
beobachten, bei denen das Krankheitsbild nur als eine Spätfolge von Erfrierungen
zu denken war. Die Kranken beklagen sich über heftige Fuß- und Unter¬
schenkelschmerzen, die besonders bei kühler und feuchter Witterung und%
nach Anstrengungen heftig werden. Bei feuchtkühler Witterung werden auch
Brennen und Jucken erwähnt. In der Anamnese — deren Angaben durch die
raitgebrachten Vermerkblätter bestätigt worden sind — fällt der Beginn der
Krankheit mit einer Erfrierung der Füße zusammen. Der Fuß ist häufig rötlich
oder zyanotisch verfärbt und diese Verfärbung kann bis zur Mitte des Unter¬
schenkels, in seltenen Fällen noch höher reichen. Die Kapillaren der Haut
scheinen atoniscb zu sein. Die Haut in einem Teile der Fälle mit Schuppen
bedeckt, ist im anderen dünn und glänzend. Es besteht eine außerordentliche
Neigung zu Anschwellungen und Ödemen, besonders nach Anstrengungen. Die
Nägel zeigen oft trophische Störungen, selbst in Fällen, die keine Verstümmlungen
oder andere Zeichen einer schweren Erfrierung aufweisen. Die aktive Beweglich¬
keit des Fußes ist oft bedeutend vermindert, die passive Beweglichkeit im Gegen¬
teil oft außerordentlich frei, falls Ödeme und Schmerzhaftigkeit die Bewegung
nicht hindern. Die elektrische Erregbarkeit der Muskeln und Nerven .ist herab¬
gesetzt. Die Muskulatur ist in den meisten Fällen gut erhalten. In einer kleinen
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
48 Z. v. Dalmady
Gruppe der Fälle ist der Fuß in equino-varus Stellung, von welcher er schwer
reponibel ist. Die Röntgenuntersuchung zeigt oft ein eigentümliches Klaffen
sämtlicher Gelenke und die Knorpelüberzüge der Gelenkoberflächen scheinen
verdickt zu sein. An den Knochen ist oft eine diffuse Atrophie zu beobachten.
Diese Erscheinungen kommen selbstverständlich nicht in jedem Falle der Erfrierung
vor, sind jedoch sehr beachtenswert, um so mehr als die Pathologie der Spätfolgen
von Erfrierungen noch viele Lücken aufweist. Wie ersichtlich, sind die meisten
Symptome auf eine Läsion der Nerven, eine Neuritis, .zurückzuführen, es scheinen
jedoch nicht nur die Nerven, sondern sämtliche Gewebe des betroffenen
Körperteils gelitten zu haben. Auch R. Winternitz konnte Knochenatrophien
als Folgen von Erfrierungen nachweisen. Ein Erfolg ist schwer zu erreichen,
der Verlauf ist äußerst chronisch.
Infiltrationen in den Muskeln, wie sie Strasser beim Kriegsrheumatis¬
mus beschrieben hat und die auf echte Myositiden hinweisen könnten, wurden bei
unseren Kranken äußerst selten gefunden. Verhältnismäßig häufiger fanden wir
eine andere Infiltration der Muskeln, die zweifellos in der Kriegspraxis von
Bedeutung ist, nämlich die skorbutische Infiltration. Skorbut ist, wie bekannt,
auch bei unseren Truppen öfters vorgekommen; sie konnte jedoch in erschreckenden
Dimensionen in den sibirischen Gefangenenlagern wüten, da wir eine ganze Reihe
von Austauschinvaliden zur Sicht bekommen, die die schrecklichsten Folgen des
schwersten Skorbuts aufweisen. Bezeichnend ist die brettharte Infiltration,
besonders an der unteren Hälfte des Unterschenkels, wo die Muskeln und Sehnen,
mit dem Unterhautgewebe zu einer Masse verschmolzen, die normalen Umrisse
vollständig verwischen. Die Muskulatur ist häufig atrophisch, oft beinahe ver¬
schwunden. Es besteht eine Kontraktur im Kniegelenk und auch das Knöchel¬
gelenk ist mehr oder weniger steif. In schweren Fällen reichen die beschriebenen
Veränderungen bis zur Mitte des Oberschenkels. Häufig sind nur diese Folgen
des Skorbuts nachzuweisen, in einer Minderzahl der Fälle sind noch Spuren der
Sugillationen sichtbar, und selbst das ZahnfleiSbh kann noch krankhafte Ver¬
änderungen aufweisen. — Auch diese Kranken beklagen sich über heftige reißende
und bohrende Muskelschmerzen. — Ich habe den Eindruck, daß mit Ausnahme
der verzweifeltesten Fälle eine langsame allmähliche Besserung durch entsprechende
Maßnahmen zu erreichen ist.
Wir dürfen nicht vergessen, daß nachgewiesenermaßen die ersten Symptome
des Skorbuts Wadenmuskel- und Schienbeinschmerzen sind, und daß abortive
Fälle des Skorbuts nur diese Symptome aufweisen.
Hiermit sind wir bei den Krankheitsformen angelangt, bei denen außer den
subjektiven Beschwerden und den Funktionsstörungen keine objektiven Symptome
zu finden sind. Die Beurteilung dieser Fälle bei Militärpersonen ist eine äußerst
schwere Sache, da wir auch mit Simulation und Aggravation rechnen müssen. Wir
müssen bedenken, daß eine ganze Reihe von Krankheiten mit subjektiven Glieder¬
schmerzen ohne anderweitige objektive Symptome einhergehen kann, so die echten
Myalgien, die neurasthenischen Schmerzen, leichte Fälle von Neuritiden
und Neuralgien, der eben erwähnte Skorbut usw., ja selbst die Möglichkeit
der Beri-beri muß in Betracht gezogen werden. Die Diagnose wird außerordentlich
erschwert, wenn auch Verletzungen die Krankheit komplizieren.
□ fgitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die Nachbehandlung rheumatischer und ähnlicher Kriegserkrankungen usw. 49
Es ist auffallend, daß wir den gewohnten Lokalisationen der i heuraatischen
Schmerzen ziemlich selten begegnen. Schulter-, Hals- und Nackenschmerzen sind
ziemlich selten, Schmerzen der Lendengegend kommen häufiger vor, und zwar
beide Seiten befallend, im Gegensatz zu der gewöhnlichen, meist einseitigen
Lumbago. Die Lumbalschmerzen sind häufig nur Begleiterscheinungen oder Vor¬
läufer von einer Ischias, wie dies besonders Blind betont. Auch müssen wir
immer an die Spondylitis ankylotisans denken, die unter den Kriegserkrankten
etwas häufiger vorzukommen scheint. — Strasser hat die Aufmerksamkeit auf
eine eigentümliche Kriegserkrankung, den „Tornisterrheumatismus“ gelenkt.
Es bestehen Rückenschmerzen besonders an den Stellen, wo gewisse Teile des
Tornisters einen ständigen Druck auf die Haut und Muskulatur ausüben.
Wie schon erwähnt, sind in überwiegender Mehrzahl der Fälle die unteren
Gliedmaßen erkrankt. Dies wurde schon frühzeitig erkannt. Die Arbeiten von
E. Freund, Schrötter, Schüller, Stransky, Labor usw. beschrieben eingehend
diese eigentümlichen Krankheitsformen und sonderten einen Teil unter den Namen
..Tibialgie“ „Gamaschenneuritis“ usw. ab. Es steht fest, daß die meisten zur
Behandlung kommenden Fälle sich in mehreren Beziehungen von dem Bilde der
gewohnten Myalgien bzw. Neuritiden unterscheiden. Nach unseren Erfahrungen
treten die Schmerzen gewöhnlich symmetrisch auf; sie beschränken sich nicht auf
einzelne Muskelgruppen, verbreiten sich eher auf ganze Teile der Glieder-. Es
werden auch bei vollständiger Ruhe Schmerzen empfunden, ihre Exazerbation bei
den Bewegungen scheint jedoch nicht so heftig zu sein und so konsequent aufzu¬
treten, wie bei den echten Myalgien. Verschlimmerungen kommen seltener' vor,
wie beim echten „Muskelrheumatismus“, es besteht aber auch keine ausgesprochene
Neigung zur Besserung. In einem Teil der Fälle sind die Schmerzen weniger
auf die Muskeln, als auf das Schienbein und die Knöchel lokalisiert. Das sind
eben die Fälle, die als spezielle Krankheitsformen abgeschieden worden sind. Tn
der Praxis gelingt es jedoch nicht immer eine scharfe Grenze zu ziehen. Der
Moskeltonus scheint nicht gesteigert zu sein. Druckschmerzen werden oft angegeben;
typische Druckpunkte sind jedoch selten aufzufinden. „Muskelknötchen“ konnte
ich nie finden.
Das ganze Krankheitsbild ist ziemlich verschwommen und unbestimmt, wodurch
der Verdacht nahe liegt, daß bei der Deduktion entweder verschiedene Krankheiten
oder auch die Angaben von aggravierenden und simulierenden Kranken in Betracht
gezogen worden sind. — Dem entsprechen auch die Erfahrungen, die bezüglich
der Therapie gemacht worden sind. Die meisten Fälle verhalten sich refraktär
gegen eine jede Behandlung, ein anderes Mal können die verschiedensten Prozeduren
recht befriedigende, sogar verblüffende Erfolge zeitigen.
Es sei erwähnt, daß auch Patienten mit „traumatischer Neurose“ sich
sehr oft über Gliederschmerzen beschweren, welche sie jedoch nicht im mindesten
in der Ausführung der verschiedensten Zuckungen und krampfhaften Bewegungen
za hindern scheinen. Die Kombination von Schmerzhaftigkeit und gesteigerter
Bewegung macht den Fall immer verdächtig, um so mehr, als Schmerzen nicht
in das eigentliche Krankheitsbild der Hysterie gehören.
Wie ersichtlich, ist unser heutiges Krankenmaterial nicht dazu geeignet,
um aus den Erfahrungen Schlüsse auf Beeinflußbarkeit der rein mit subjektiven
ZeiUfhr. f. physfk. 11 . diät. Therapie Bd. XXII. Heft 2. 4
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
50 Z. v. Dalmady
Symptomen verlaufenden Krankheiten und Wirksamkeit und Wert der verwendeten
Prozeduren zu ziehen.
Wir haben als die dritte Eigentümlichkeit der Nachbehandlung von Kriegs¬
erkrankungen die Notwendigkeit der Massenbehandlung erwähnt. Wenn wir auch
bei Untersuchung, Diagnose und Indikationsstellung einen jeden Fall gründlich,
eingehend und individualisierend vornehmen, sind wir bei der Ausübung der
Therapie zu einer gewissen Schematisierung gezwungen, um so mehr als selbst bei
sehr verschiedenen Erkrankungen dieselben Eingriffe angezeigt sein können.
Zur Ausübung der Thermotherapie kommen in erster Linie die Thermalbäder
in Betracht, besonders, wo große Bassins zur Verfügung stehen. Für Vollbäder
ist eine Temperatur von 39 bis 40° C zu wählen, für Teilbäder sind auch Tempera¬
turen von 42 bis 44° C zulässig. In großen Bassins soll das Wasser nicht tiefer
als 60 bis 70 cm sein. Für entsprechende Schief ebenen und Rutschbahnen für
schwergehende Patienten ist zu sorgen. Die hygienischen Vorschriften der gemein¬
samen Bäder sind strengstens einzuhalten, so ist die Vorwaschung strengstens
durcbzuführen, Reinigung des Bassins, Erneuerung des Badewassers, Spucknäpfe
am Rande des Wassers, gute Ventilation usw. sind unvermeidliche Forderungen.
Für eine Abkühlung der Patienten muß durch Duschen, Ruheräume usw. gesorgt
werden, obzwar die heißen Bäder nach meinen Erfahrungen ebensogut gegen die
für Rheumatismus schädlichen Kältewirkungen schützen, wie gegen eine jede
Erkältung. Es ist besser mit wirklich erhitzten Körper in die Winterkälte heraus¬
zutreten, als nach einer unvollständigen Abkühlung.
Ob die Thermen, Schwefelbäder usw. auch spezifische, neben der Wärme
wirksame Faktoren haben, ist — wie erwähnt — bei unserem Krankenmaterial
nicht festzustellen. Es ist als erwiesen zu betrachten, daß auch gewöhnliches
erwärmtes Wasser erfolgreich angewendet werden kann. — Den heißen Solbädern
kommen auch die von Frankenhäuser nachgewiesenen Nachwirkungen zu, sie
sind deshalb für unsere Zwecke sehr geeignet.
Die Heißluftbäder haben den Vorteil, leicht improvisiert werden zu können
und sind durch ihre relative Ungefährlichkeit zur Massenbehandlung gut geeignet.
Eigentlich ist ein jedes überheiztes Zimmer, in welchem eine gute Ventilation
mit Vermeidung eines fühlbaren Luftzuges zu erreichen ist, tadellos verwendbar,
wie dies z. B. die nachahmungswürdigen Einrichtungen Langes, der in einem
Kriegslazarett ein Rheumatikerbad improvisieren konnte, beweisen. — Die Dampf¬
bäder sind für Massenbehandlung viel weniger geeignet, da selbst die eingehendste
Untersuchung nicht genau voraus bestimmen kann, wie der Patient die Wärme-
Stauung vertragen wird. Wo die Einrichtungen gegeben sind, sind sie anzu¬
wenden, jedoch mit sorgfältiger Individualisierung und unter ständiger Kontrolle.
Zur Behandlung einzelner Glieder haben sich besonders die Sandbäder
und auch die Schlamm- und Moorumschläge beim Massenverkehr bewährt In
meinem Institut wird hauptsächlich der radioaktive Schlamm von Kolop verwendet,
mit sehr gutem Erfolge. Es sei bemerkt, daß auch der gewöhnliche Lehm, be¬
sonders der sogenannte, zur Ziegelfabrikation verwandte „blaue Lehm“ ganz gut
für unsere Zwecke verwendbar ist.
Endlich seien die Sonnenbäder als zur Massenbehandlung geeignete Kur
erwähnt.
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die Nachbehandlung rheumatischer und ähnlicher Kriegserkrankungen usw. 51
Die übrigen Methoden der Thermotherapie wie die Heißlnftbäder für
einzelne Glieder mit sehr hohen Temperaturen, die Glühlampenbäder und be¬
sonders die Diathermie sind nur in ausgewählten Fälleu und mit besonderer Sorg¬
falt und individualisierend zu verwenden. Ich kann die Bestrebungen, die auch
diese Methoden für eine Massenbehandlung anzupassen bestrebt sind, nicht
billigen.
Die Thermalkur wird selten allein verwendet, es werden beinahe immer
auch die Eingriffe der Mechanotherapie, Kinesitherapie usw. vorgenommen. Es
ist Regel, daß immer die Wärmeprozeduren in der Reihenfolge die ersten sein
müssen, der Patient muß mit hyperämischen, erhitzten Gliedern zur Massage
oder Gymnastik komnten.
Die Notwendigkeit, Zeit und Kräfte zu sparen, hat solchen Prozeduren eine
besondere Bedeutung verliehen, bei denen mehrere Heilkräfte gleichzeitig
verwendet werden. Die Kombination führt oft zu einer gegenseitigen Potenzierung
der Wirkung und zeitigt sehr günstige Erfolge.
Solche Kombinationen sind z. B. die subaquale Massage und die Dusch¬
massage mit heißem Wasser, das heiße Bügeleisen und überhaupt die von Gold¬
scheider inaugurierte Thermomassage in jeder praktischen Form. Die Kombina¬
tion von Elektrizitätsanwendung und Massage ist keine glückliche zu nennen.
Der Zweck der Massage, den Muskelparenchym durchzukneten, die Blut- und
Lymphgefäße durch Druck zu entleeren, ist nur am weichen, ungespannten Muskel
zu erreichen. Der durch den faradischen Strom kontrahierte steinharte Muskel
ist der Massage nicht zugänglich. Die Kombination hat nur dann einen Sinn,
wenn nicht die Muskeln selbst, sondern die oberhalb des Muskels gelegenen Ge¬
webe massiert werden sollen. In diesem Falle bildet der hart gewordene Muskel
die harte Grundlage, gegen welche die massierten Gewebe gedrückt werden
können. Die gebräuchlichen Instrumente, besonders die faradische Rolle, sind
nicht als ernste Massageinstrumente zu betrachten. Der Sch nee sehe E-las-to-
Massageapparat allein kann, mit dem faradischen Strom verbunden, beide Kräfte
wirksam vereinigen und ist zur Massage der außerhalb der Muskeln gelegenen
Teile gut verwendbar. — Es ist zwar richtig, daß Massage und faradische
Reizung in vielen Fällen gleichermaßen indiziert sind. Die Applikation darf je¬
doch nicht simultan erfolgen.
Die Kombination von thermischen Eingriffen mit Elektrisieren hat sich
besser bewährt. Selbstverständlich werden hier hauptsächlich die „katalytischen 1 ’
Wirkungen des Stromes angestrebt und weniger die reizende Bewegungen her¬
vorrufende Wirkung. Solche Kombinationen sind die elektrischen Bäder mit
heißem Wasser ev. in Form der Vierzellenbäder. Wir haben sehr gute Er¬
fahrungen durch die Verwendung der Schlammumschläge als Elektroden, wie in
meiner Anstalt auf Anregung Dr. Balassas seit längerer Zeit gebraucht. Die
aufgelegten Schlammkataplasmen werden mit entsprechend geformten und dimen¬
sionierten Zinkblechelektroden bedeckt und mit der Stromquelle verbunden. Es
können beide Elektroden solche Schlammumschläge sein, anderenfalls nehmen wir
eine indifferente feuchte Elektrode. Die Schlammkompressen sind auch bei der
Diathermie zu verwenden, wodurch die perkutan zugeführte und im Innern ent¬
standene Wärme gleichzeitig zur Wirkung kommen.
4*
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
52 W. Alexander
Die gleichzeitige Anwendung von thermischen Eingriffen und Kinesitherapie
kommt einerseits in Form der kinesitherapeutischen Bäder, andererseits als
Kombination von Wärmeapplikationen und adressierenden und mobilisierenden
Plingriffen in Betracht. Die Einpackung der durch entsprechende Apparate ge¬
spannten Gelenke in Schlamm, wie sie Laqueur, E. Fischer und andere ver¬
wenden, führt schneller und in schonenderer Weise zum Ziele, als die getrennte
Verwendung der Prozeduren. Die Adamsche Kombination von Diathermie und
Apparatengymnastik scheint auch sehr günstig zu wirken, ihre Ausführung fordert
jedoch große Sorgfalt und tadellose Applikation der Elektroden. Es sei erwähnt,
daß sich in unserer Praxis folgende Elektroden am besten bewährten: gewöhn¬
licher Glafeerkitt wird zu entsprechender Platte geformt, allseitig vollständig mit
Stanniol bedeckt und mit leichtem Druck dem ebenfalls mit Stanniol bedecktem
Körperteil angepaßt.
Was die Auswahl und Dosierung der einzelnen physikalischen Eingriffe be¬
trifft, müssen wir immer bestrebt sein, dieselbe Individualisierung erreichen zu
können, an die wir aus Friedenszeiteu gewohnt sind und der wir unsere Erfolge
zu verdanken haben. Die Massenbehandlung darf nur formell eine solche sein,
die sorgfältige Überwachung muß jederzeit eine jede Schematisierung zu verhüten
trachten. Unter solchen Bedingungen werden unsere Bäder und Anstalten
auch in der Nachbehandlung von Kriegserkrankungen ihrem alten Ruhme
entsprechen.
III.
Beitrag zur Behandlung der hysterischen Taubheit.
Von
W. Alexander
in Berlin.
Die suggestive Heilung der hysterischen Taubheit ist umständlicher und un¬
sicherer, als die Heilung anderer psychogener Symptome, weil der Hauptträger
der Heilwirkung, das gesprochene Wort, nicht in Betracht kommt. Dieses ist
durch das geschriebene Wort auch nicht annähernd zu ersetzen, weil, mehr noch
als der sachliche Inhalt, Tonfall und Klangfarbe wirksam werden. Wäre dem
nicht so, so könnte man die hysterisch Tauben durch gedruckte Vorschriften
heilen, die Person des Arztes wäre gleichgültig. Es entspricht auch meiner Er¬
fahrung, daß viele Fälle hysterischer Taubheit von selbst oder zugleich mit an¬
deren hysterischen Symptomen, z. B. Stummheit, verschwinden, wenn man die
Suggestion auch nur gegen die letztere gerichtet hat. Doch bleiben genug Fälle
übrig, in denen das nicht geschieht, und andere, in denen die hysterische Taub¬
heit von vornherein das einzige Symptom war. Dann verlangt es eine besondere
□fgitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Beitrag zur Behandlung der hysterischen Taubheit.
53
Behandlungstechnik, welche die Sperre zwischen dem gesunden Gehörorgan und
der Stelle der bewußten Perzeption durchbricht oder umgeht.
Wie bei der motorischen Lähmung psychogenen Ursprungs die faradische
Reizung dem Kranken die Bewegungsmöglichkeit der gelähmten Extremität de¬
monstriert und die Vorstellung des „Nichtkönnens“ auslöscht, so muß auch bei
sensorischen Ausfallserscheinungen ein adäquater Reiz die spezifische Sinneswaht-
nehmung auslösen, um den Kranken zu überzeugen, daß die Ansprechbarkeit nicht
erloschen ist. R. Hirschfeld hat sich hierzu bei der hysterischen Blindheit des
Phänomens des galvanischen Lichtblitzes bedient und empfiehlt neuerdings 1 ) bei
hysterischer Taubheit das galvanische Klangphänomen (Klangerzeugung durch
Ka. Schl.-Zuckung am Warzenfortsatz).
Das Wirksame dieser beiden Methoden liegt darin, daß, die verloren ge¬
glaubte Sinnesfunktion durch die Person des Arztes dem Kranken sofort wieder¬
gegeben wird; ermöglicht wird die Wirkung wohl durch die Überrumpelung, die
darin liegt, daß Gesicht und Gehör erstmalig auf einem Wege erzeugt (für den
Kranken „wiedererweckt“) werden, der dem Laien unbekannt ist. Ist der moto¬
rische oder sensorische Effekt aber erst einmal wieder ausgelöst, so ist dem weiteren
suggestiven Ausbau der Heilung der Weg geebnet.
Die Hirschfeldsche Mitteilung über seine Behandlung der hysterischen
Taubheit veranlaßt mich, eine andere, von mir seit längerer Zeit geübte Technik
bekanntzugeben, die auf demselben Prinzip beruht; nur erzeugt sie den ersten
Klang auf andere Weise: nämlich mit der Stimmgabel durch Knochenleitung.
Das eigenartige Phänomen des Hörens durch Knochenleitung kommt dem psycho¬
gen Tauben so überraschend und frappiert ihn so, daß sich die Überrumpelung
deutlich in seinem veränderten Gesichtsausdruck zeigt: der Ausdruck der freudigen
Überraschung, den ich bisher ausnahmslos beobachtet habe, dürfte zugleich diffe¬
rentialdiagnostisch gegen Simulation sprechen, von der ich allerdings noch keinen
sicheren Fall gesehen habe 2 ).
Nach genauester Ohruntersuchung schreibe ich dem Kranken auf, daß das
Ohr gesund ist und daß durch den Knall 3 ) nur die Nervenleitung etwas gestört
ist. Er werde die Stimmgabel sofort hören, dann käme auch gleich das normale
Gehör wieder. Die angeschlagene Stimmgabel wird nun auf den Warzenfortsatz
aufgesetzt: in den meisten Fällen gibt der Kranke sofort mit freudigem Lächeln
zu, einen Ton zu hören. Damit ist das Spiel gewonnen. Gewöhnlich gibt er
dann auch sofort das Hören lauten Sprechens zu und ist damit praktisch geheilt.
In wenigen Fällen wird nicht sofort der Ton zugegeben; einer der Kranken sagte:
„es brummt wie ein Flieger“; ein anderer: er fühlte es nur „Zittern“. In diesen
Fällen begnügt man sich mit dem Anfangserfolg und erweitert ihn mit Sicherheit
in wenigen weiteren Sitzungen zur Heilung.
Auf diese Weise habe ich bisher eine lückenlose Serie von 12 Fällen geheilt.
Xnr einen habe ich bisher noch in Beobachtung, bei dem ich nichts erreicht habe.
«) Med. Klinik 1917. Nr. 33.
*) Weitere sehr wertvolle Hinweise auf das rein äußerliche Verhalten des Taubheit-Simulanten
gibt F. Auerbach (Deutsche mllitärärztl. Ztschr. 1917. Heft 23, 24) und Oppenheim (B. kl. W.
1917. Nr. 52. S. 1248).
*) Es handelte sich in allen Fällen um Detonationsfolgen ohne Verwundung.
Digitized by
Go igle
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
54 W. Alexander, Beitrag zur Behandlung der hysterischen Taubheit.
Er war stumm und taub. Die Sprachstörung heilte in einer faradischen Sitzung,
die Taubheit ist bisher refraktär. Spezialistische Untersuchung erklärte das Ohr
für gesund und Simulation für ausgeschlossen. Dazu kommt, daß das gleichzeitige
und gleichbedingte Auftreten der sicher hysterischen Sprachstörung mit genügender
Sicherheit für hysterische Taubheit spricht. Auch das von Muck (Med. Klin. 1917,
Nr. 35) beschriebene Symptom des Stimmbandzuckens bei unerwartetem Geräusch
war positiv. In diesem Falle versagte auch der Trick, den ich in einem anderen
Falle mit Erfolg an wandte: ich verband den Stimmgabelfuß mit einer Elektrode
des faradischen Apparates. Der Kranke, der die Stimmgabel allein nicht hören
wollte, gab auf meine Suggestion an, er höre den Ton nur, wenn er gleichzeitig
den Strom fühle. Bei langsamer Abschwächung des Stromes in zwei weiteren
Sitzungen hörte er, die Stimmgabel ohne Strom und wurde geheilt. Ich glaube
den Grund des erwähnten Versagers darin gefunden zu haben, daß der Kranke,
ein ziemlich stumpfsinniger Bauernknecht, die Stimmgabel nicht kannte, sich, aber
trotz schriftlicher Erklärung wohl keine, für sein Auffassungsvermögen ausreichend
plastische Vorstellung machen konnte, was vor sich gehen sollte 1 ).
Mein bisheriger Heilungsprozentsatz von 12:1 rechtfertigt es, wenn ich die
Methode als wirksam empfehle. Sie wäre, auch wenn die galvanische Methode,
woran ich nicht zweifle, sich als ebenso wirksam erweisen sollte, nicht überflüssig,
weil jede Abwechslung und Bereicherung der suggestiven Methoden willkommen
ist. Sie hat mit der galvanischen Methode gemeinsam die Einfachheit und Aus¬
führbarkeit ohne otologische oder neurologische Spezial-Kenntnisse. Als einen
Vorzug sehe ich es an, daß sie auch in den vordersten Sanitätsformationen, ein¬
schließlich dem Kriegslazarett, in denen der galvanische Apparat fehlt, anwend¬
bar ist, weil die Stimmgabel im Sammelbesteck vorhanden ist.
Je früher die Behandlung aber einsetzt, je weniger die Vorstellung des
Nichthörenkönnens fixiert ist, desto besser die Prognose. Auch Hirschfeld gibt
an, daß in nicht schnell geheilten Fällen sich die Heilung gewöhnlich sehr lange
verzögert, wenn sie überhaupt noch eintritt.
Da die Differentialdiagnose zwischen hysterischer und organischer Taubheit
oft sehr schwierig sein kann, dürfte die große Sicherheit der Methode sie vor
der Heranziehung zeitraubenderer Methoden auch als Diagnosticum ex juvantibus
anzuwenden gestatten; als solches übertrifft sie sogar die von Nonne 2 ) in dem¬
selben Sinne empfohlene Hypnose noch an Einfachheit und Schnelligkeit.
Da mir im Felde nur ein Bruchteil der Literatur, und dieser nicht einmal
regelmäßig, zur Verfügung steht, kann ich nicht behaupten, daß die Stimmgabel¬
methode nicht schon bekannt und in Anwendung ist. Weder Hirschfeld erwähnt
sie in seiner zitierten Arbeit, noch K. Gold stein (Med. Klinik 1917. Nr. 28),
der eine gute, wohl vollständige Übersicht über die verschiedenen Behandlungs¬
methoden der Kriegsneurosen gibt, wobei er mit besonderem Nachdruck gerade
für einfache Methoden und deren frühzeitige Anwendung eintritt.
') Doch dürfte es nicht viele Menschen geben, denen die Stimmgabel nicht in der
Schule, einem Gesangverein oder dergleichen bekannt geworden wäre.
*) Neurol. Zentralbl. 1917. Nr. 19. S. 830.
\
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Alois Strasser, Diskussionsbemerkungen zur Debatte Uber die Behandlung usw. 55
IV.
Diskussionsbemerkungen zur Debatte über die Behandlung der
Kriegsnephritiden (Geh. Rat Prof. His).
Ärztetagung der Waffenbrüdernchen Vereinigung in Baden vom 11. bis 13. Oktober 1917.
Von
Professor Dr. Alois Strassen
Im Verlaufe des langen Krieges bekamen wir verschiedene Formen von Nierenerkrankungen
zur Beobachtung. Wir waren darauf vorbereitet, daß die Menge von Infektionsgelegenheiten,
die großen Muskelerraüdungen und Kälteschädlicbkeiten die Nephritiden in großer Zahl erzeugen
werden, zumal auch bei der sorgfältigsten Untersuchung sehr viele Leute ins Feld gegangen
sind, die großenteils, wenn auch nicht manifest nierenkrank, doch auch nicht ganz nierengesund
waren. Die Statistik hat hierfür sichere Beweise gebracht.
Die Flut von Nierenerkrankungen schwerer Art brachte uns zunächst das Frühjahr 1915,
für uns vorwiegend aus den ersten großen Karpathenschlachten, und wir müssen gestehen, daß
nicht nur die Menge der Fälle, sondern auch deren Art uns überraschte. Nicht die mitunter
enorme Eiweißausscheidung und auch nicht die kolossalen Ödeme waren überraschend, sondern
für mich die starke Blutung aus der Niere, die in ihrer Größe und besonders Hartnäckigkeit
bis dahin nur selten beobachte wurde. Ieh kann sagen, daß von den 400 bis 500 Fällen, die auf
meiner Abteilung lagen, sicher 90 % durch besonders starke Hämaturie ausgezeichnet waren. Die
anfänglich starke Blutung verminderte sich recht bald, aber wenn auch alle anderen nephritischen
Symptome bis auf Spuren zurückgegangen waren, blieb eine noch immer beträchtliche Blutung
und ich kann mich an sehr viele Fälle erinnern, die nach 5 bis 6 Monaten und länger noch immer
bluteten. Eine zweite hervorragende Eigenschaft dieser’Kriegsnephritiker war die Polyurie.
Selbst Fälle, die anfänglich beträchtliche Verminderung der Harnsekretion aufwiesen, zeigten nach
unglaublich kurzer Zeit eine Polyurie, die sie zwar meist von den Ödemen befreite, an der
Hämatnrie aber nichts änderte.
Ich will kurz berichten, daß sorgfältige Analysen, die Verdünnungs- und Verdichtungs¬
proben mit Wasser und die Ambardsche Blutanalyse, die in 36 Fällen durchgeführt wurde, bei
den ödematösen Fällen mit Oligurie und mitunter mit urämischen Symptomen die bekannte Störung
der Wasser- und Salzsekretion zeigten, bei den anderen, also in der überwiegenden Zahl der Fälle,
aber ein normales Verhalten, so daß man eine eminent nephritische Störung auf diesem Wege
kaum beweisen könnte.
Diese Umstände ließen mich denken, daß es auch in der überwiegenden Zahl der Fälle
nicht um Nephritiden handelt, wie wir sie nach Scharlach, Diphtherie, Streptokokkeninfektion
zu sehen gewöhnt waren, sondern um eine andere Schädigung, die den Epithelbelag des Harn¬
apparates der Niere in anderer Weise befällt, wie die bakteriell toxische Schädigung, wie sie
uns bekannt ist. leb glaube, es handelt sich um eine in viel größerem Maßstabe ein¬
tretende Abstoßung des Epithelbelages, um eine förmliche Abrasion und zwar
sowohl der glomerulären als auch der tubulären Epithelien. Für den Verlust
der glomerulären Epithelien spricht die große Blutung, für den der tubulären Epithelien die
Polyurie und beide finden den selbstverständlichen Ausdruck im Bilde des Sedimentes, wo in
den ersten Wochen Unmassen von Epithelien und Zylindern stets zu finden waren. — Für das
Digitized by
Go igle
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
56 Alois StraBser, Diskussionsbemerkungeil zur Debatte über die Behandlung usw.
Erscheinen massenhafter Epithelien und Zylinder im Sedimente genügen allerdings relativ ge¬
ringe akut nephritische Schädigungen, wie dann auch starke Hämaturien von langer Dauer bei
Scharlachnephritis, wenn auch nicht sehr oft, doch auch nicht allzu selten Vorkommen und nach
Angina auftretende Hämaturien als hartnäckige wohlbekannt sind. Indessen ist die Angina in
der Anamnese unserer Nepbritiker geradezu außerordentlich selten erwähnt. — Betrachtungen
über die Ätiologie der Kriegsnephritiden sind heute nicht in erster Reihe an der Tagesordnung
und darum will ich nur kurz erwähnen, daß ich als vorwiegende, wenn auch vielleicht nicht
»alleinige Ätiologie in der brutalen Durchkühlung in Verbindung mit bedeutender Muskel-
anstrengung suche. — Ob und welche Infektionsmomente noch eine Rolle spielen, müßte sich
erst herausfinden lassen. Bisher ist’s nicht gelungen und ich fürchte, daß, was man bisher nicht
festzustellen in der Lage war, wohl auch nicht festzustellen sein wird; denn die Fälle sind als
akute Fälle uns aus der Hand geglitten, aber auch die massenhafte Erkrankung ist in den zwei
folgenden Winterfeldzügen nicht vorgekommen und dadurch die Möglichkeit der Klarstellung
auch heute einigermaßen gering. — Man hat in der Kriegführung auch gelernt, die Mannschaft
vor den brutalen Kälteschäden zu schützen.
Da nun heute mehr von Therapie die Rede sein soll, habe ich die Ansicht über die Art
der Nierenschädigung darum näher präzisiert, weil ich durch sie Ausblicke auf die Prognose
gewinnen wollte.
Ich habe ursprünglich die Prognose als sehr ungünstig angesehen und bin sehr erfreut,
daß ich die Sache anscheinend zu schwarz beurteilt habe. — Ich habe die Prognose aus folgender
Oberlegung schlecht gestellt. — Die Schwere der Veränderung des gloraerulären Apparates ist
sicher maßgebend für die nachfolgende Veränderung, insbesondere für den tubulären Apparat,
und dessen Epithelbelag. — In der Nierenpathologie wird dieser Vorgang so dargestellt, daß
die Kanälchen bei Verödung des Glomerulus durch Inaktivität auch veröden und man würdigt
die vorwiegend auf Oscar Störks Untersuchungen basierende Ansicht nicht zur Genüge, daß
die Kanälchen bei Verödung der Glomeruli nicht so sehr durch Inaktivität atrophieren, sondern
mehr durch direkte Ernährungsstörung, weil sie vielfach nicht durch direkte Abzweigungen der
intertubulären Gefäße versorgt werden, sondern von Arterienästchen, die aus den Vasa afferentia
stammen und selbstverständlich mit der Verödung des Glomerulus zugrunde gehen. — Ich kenne
nun eine größere Anzahl von Leuten, die nach schwerster Form der Kriegsnephritis vorläufig
fast gesund sind, einige, die wieder ins Feld gezogen sind und dort gut geblieben sind.
Über die Regenerationsfähigkeit in der erkrankten Niere kann man verschiedener Ansicht
sein, sie ist auch bei entzündlichen Nierenerkrankungen (infektiös-toxischen) sicher nicht gering,
aber eine so große Besserung, wie ich sie bei den Kriegsnephritiden gesehen habe, ist 'bei den
infektiös-toxischen Formen schwerer Art geradezu eine Seltenheit — Die freudige Enttäuschung,
die ich nun durch den vielfach unerwartet guten Verlauf gesehen habe, bestärkt mich in meiner
geschilderten Auffassung der Schädigungsart, weil ich die Vorstellung habe, daß der biologische
Ablauf entzündlicher Vorgänge in geschlossenen Organen, die eine absolute Schonung nicht
erfahren können, anders sein muß, als die Regeneration abrasierter Epithelbelege ohne die ent¬
zündliche Schädigung der Zellen. — Zur Ergänzung muß ich wohl auch angeben, daß ich den
schädlichen Vorgang in einer bedeutenden Ischämie und starken Stasen in- der Niere sehe, also
in schweren Kreislaufstörungen, die durch übermäßige Muskelarbeit, durch statische (ortho-
statische) Belastung und durch brutale Kältewirkung entstehen.
Es soll damit nicht gesagt sein, daß eine so zur Not gebesserte oder scheinbar geheilte
Niere nicht sehr vulnerabel sei, und darum erwächst für uns die Pflicht der Nachbehandlung
dieser Fälle.
Das therapeutische Prinzip im akuten und subakuten Stadium ist sicherlich das der
Schonung des erkrankten Organs, in späterer Zeit, also in der Zeit der Nachbehandlung, ist
schon die Übungsbehandlung von großer Wichtigkeit.
Bei der Schonungsbehandlung ist sowohl die diätetische als auch die baineohydrothera¬
peutische Behandlung von Wichtigkeit, bei der Übungsbehandlung mehr die letztere. Ich habe
die feste Überzeugung, daß die Regeneration durch die letzteren Behandlungsmethoden in be¬
deutender Weise gefördert werden kann, zumal wir durch sie die Kreislaufsverhältnisse im all¬
gemeinen und die der Niere im speziellen außerordentlich gut beeinflussen können; gleichzeitig
erwächst der diätetischen Behandlung die Pflicht der Schonung, die Sorge um Vermeidung der
Digitized by
Gck igle
Original fro-rn
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Berichte über Kongresse und Vereine.
57
bekannten diätetischen Schäden insolange, als man genügend Anhaltspunkte fiir die Annahme
bat, daß die Regeneration des Epithels einen erwünscht hohen Grad erreicht hat.
Diese ganz schematischen Hinweise auf die Richtung der Behandlung genügen schon, um
festxustellen, daß die Nachbehandlung der Kriegsnephritiden in Kurorten und Anstalten mit
großer Aussicht auf Erfolg durchgeführt werden kann und muß.
Gestatten Sie, daß ich noch ganz kurz einige Spezialformen der Behandlung erwähne, die
ich auf meiner Abteilung geübt habe. — Medikamente gab ich fast keine, außer wenn augen¬
blickliche dringende Indikationen sie erforderten. — Meine Nephritiker wurden schematisch, wie
es bei der zeitweise sehr großen Zahl der Fälle nicht anders möglich war, folgendermaßen be¬
handelt. — Sie bekamen dreimal wöchentlich ein protrahiertes Bad von 35° C von 30 bis 40
Minuten, dreimal eine Überhitzung im Bette, 50° C 30 Minuten. Sonntag Pause.
Von den großen absoluten Milchkuren bin Ich sehr bald abgekommen, da die Flüssigkeits-
znfuhr mir zu groß schien. — Es bewährte sich im.Prinzipe die Karelische Methode viel besser,
wenn auch die Ernährung unter ihr naturgemäß litt.
Ich führte sonst Kohlehydratkuren durch und zwar mit allergrößtem Erfolge. — Ich
gab durch einige Zeit einer Reihe von Kranken Semmel, dann wieder ausschließlich Kar¬
toffeln zu essen, und zwar 7 bis 8 Semmeln oder 1 kg Kartoffeln täglich, daneben bis 500 g
Milclu kein Wasser. — Diese Stickstoff-, salz- und wasserarme Diät wurde ausgezeichnet ver¬
tragen, die Diurese stieg mitunter ganz enorm (von 600 g auf 4")00 in 3 bis 4 Tagen). Die Ent¬
wässerung ging flott von statten und ich konnte meist nach 8 bis 9 Tagen zu einer gemischten
Xienndiär übergehen, bei der sich die Kranken dann sehr wohl fühlten.
Ich verhehle mir nicht, daß diese Kuren im Prinzip? nichts anderes darstellen, als Modi¬
fikationen der Karelischen Kur und sich mit zahlreichen in der Literatur beschriebenen ähn¬
lichen Methoden im wesentlichen decken.
Berichte über Kongresse und Vereine.
Waffenbrüderliche Vereinigungen Deutschlands und Österreich-Ungarns.
1.Tagung der medizinischen Abteilungen vom 11. bis 13. Oktober 1917 in Baden b. Wien.
Sitzung vom 11. Oktober 1917 nachmittags.
Vorsitzender: Hofrat Prof. Dr. Hans Horst Meyer, Hofrat Prof. Dr. v. Grösz,
GStA. Dr. Johann Frisch.
Schriftführer: Dr. Thenen, Dr. v. Aufschnaiter.
Wirklicher Geheimer Obermedizinalrat Professor Dr. Dietrich (Berlin): Balneotherapie
und Kriegsheschädigtenfürsorge. Der Weltkrieg schwächt die Volkskraft der kämpfenden
Nationen am meisten durch die Schäden, die Leben und Gesundheit der Kriegsteilnehmer
bedrohen. Um sie zu vermindern, haben die Mittelmächte schon seit Beginn des Krieges eine
besondere Fürsorge für die geschädigten Kriegsteilnehmer eintreten lassen. In erster Linie
stehen die Heeresverwaltungen mit ihren neuzeitlichen Einrichtungen, sodann die bürgerliche
Kriegsbeschädigtenfürsorge mit ihren verschiedenen Gebieten. Von diesen geht uns Ärzte und
unseren Verhandlungsgegenstand am meisten das Heilverfahren an. Für dieses haben wir
vor unseren Feinden viel voraus, wir haben einen hoben Stand der medizinischen Wissenschaft,
ein vortreffliches Heeressanitätswesen, ejne große Zahl tüchtiger Ärzte und die kostbaren
Schätze an Heilfaktoren, die unsere Kur- und Badeorte bergen.
Die bisherigen Kriegserfahrungen stimmen darin überein, daß diese Heilfaktoren für die
meinten Kriegskrankungen von wesentlicher Bedeutung sind, selbst für die chirurgischen Kriegs-
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSETY OF MICHIGAN
58
Berichte über Kongresse und Vereine.
kranken, für die Kriegsverstümmelten, denen klimatische Kuren und in geeigneten Fällen
auch Kuren in Wild- und Moorbädern, auch Jodbädern, von großem Nutzen sind. Der Haupt¬
gegenstand der baineotherapeutischen Fürsorge sind jedoch die innerlich kranken Kriegsteil¬
nehmer, die Kriegskranken.
Bei den Kriegserschöpften wirken die ärztlich dosierten klimatischen Kuren sowie die
Eisen- und Arsenquellen; bei den Eikrankungen der Verdauungswerkzeuge die erdigen, die
alkalisch-salinischen, die alkalisch-muriatischen Quellen, die alkalischen Thermalwässer und die
Bitterwässer, je nach der Art des Leidens; die Erkrankungen der Atmungswerkszeuge werden
durch die verschiedensten klimatischen Heilmittel, durch Kochsalzthermen, alkalische und erdige
Quellen, auch alkalisch-sulfatische Wässer auf das beste beeinflußt; bei den Herzerkrankungen
der Kriegsteilnehmer wirken die kohlensäurehaltigen Bäder, die Thermalsolbäder, die Eisen¬
säuerlinge, auch die Bitterwässer, dazu kommen sorgfältige ausgewählte klimatische Faktoren;
bei Nierenerkraökungen können milde alkalisch-muriatische oder erdige Quellen als Nachkur
gebraucht werden; Nervenkrankheiten werden durch Wildbäder, Solthermen, Moorbäder, auch
durch die verschiedene Einwirkung des Klimas günstig beeinflußt; bei den rheumatischen
Erkrankungen sind die Thermalbäder, Heißsolquellen und die Schlamm- und Moorbäder von
anerkanntem Erfolg. Alle diese Wirkungen werden in ihren Beziehungen zu den Kriegserkran¬
kungen in den späteren Vorträgen näher gekennzeichnet werden.
Auf zwei allgemeine Gesichtspunkte muß wie überhaupt bei jeder Behandlung der erkrankten
Kriegsteilnehmer, so namentlich auch bei der baineotherapeutischen Fürsorge mit besonderer
Sorgfalt geachtet werden: Erstens muß die durch den Krieg und seine Eindrücke verursachte
seelische Veränderung der Kriegsteilnehmer berücksichtigt werden. Bei jeder therapeutischen
Maßnahme, ist die seelische Behandlung nicht außer acht zu lassen. Sodann ist bei
der Behandlung der erkrankten Kriegsteilnehmer auf eine möglichst frühzeitig einzuleitende
geeignete Beschäftigung Bedacht zu nehmen, die in zahlreichen Fällen an sich schon
lindernd und heilend wirkt. Das gilt besonders auch für die Heilanstalten, Kur- und Badeorte.
Endlich noch eine Frage der Organisation. Die vorauszusehende gewaltige Inan¬
spruchnahme der baineotherapeutischen Fürsorge |ordert eine besondere Zentralstelle, von der
aus alle vorhandenen Heilschätze des Landes gesammelt und nutzbar gemacht, durch die eine
Beschleunigung und Verbilligung der Fürsorgearbeit erreicht und Doppelunterstützungen ver¬
mieden werden können. Die von dem Zentralkomitee der deutschen Vereine vom Roten Kreuz
geschaffene Abteilung „Bäderfürsorge“ hat sich als eine derartige Zentralstelle für alle deutschen
Kur- und Badeorte sowie alle in Betracht kommenden Ärzte, Apotheker, Anstalts- und Heim*
besitzer gut bewährt. In ähnlicher Weise wirkt auch die Zentralstelle für Kriegskrankenfürsorge
der Österreichischen Gesellschaft vom Roten Kreuz in Wien.
OStA. Professor Dr. Schwiening (Berlin): Organisation der Kur- und Bäder¬
behandlung in der deutschen Armee.
Schwiening schildert in kurzen Umrissen die Bäderfürsorge im deutschen Heere, gedenkt
der Errichtung des Militärkurhauses in Landeck und der Wilhelmsheilanstalt in Wiesbaden und
ffihrt an graphischen Darstellungen die Frequenz der deutschen Kurorte durch Militärkurgäste
vor. Die folgende Tabelle ist besonders lehrreich.
Kurorte für
Heeres¬
angehörige
Offiziers- Mannschafts-
Plätze
Unmittelbar vor dem Kriege
Anfang 1915.
Mitte 1915 .......
Anfang 1916.
Mitte 1917.
70
163
2076
94
2 335
16 950
170
5 339
27 438
190
6135
37 045
189
6122
35 490
Schwiening schließt mit folgenden Worten: Die Ausführungen zeigen, daß die deutsche
Heeresverwaltung wie im Frieden so auch im Kriege der Kur- und Bäderbehandlung der
Heeresangehörigen die ihr gebührende Beachtung geschenkt hat. Die getroffenen Vorkehrungen,
bei deren Durchführung sich die Heeresverwaltung der Unterstützung aller beteiligten Stellen
der Kur- und Badeorte in weitestgehendem Maße zu erfreuen hatte, werden gestatten, noch
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Berichte über Kongresse und Vereine. 59
erheblich mehr Heeresangehörige, als tatsächlich geschehen, zu derartigen Kuren- zuzulassen.
Wenn die Vorkehrungen das Bedürfnis übersteigen, so ist das ja ein erfreuliches Zeichen, das
darauf hinweist, daß die Zahl der Kurbedürftigen nicht so groß ist, wie ursprünglich angenommen,
and wiederum auf die Güte des allgemeinen Gesundheitszustandes des Heeres sowohl wie auf
die günstigen Ergebnisse der sonstigen Behandlungsarten in den Lazaretten schließen läßt.
Dieses Übersteigen der vorhandenen Vorkehrungen gegenüber dem Bedarf in den nichtdeutschen
Kuranstalten läßt es auch verständlich erscheinen, daß die deutsche Heeresverwaltung bisher
nur in beschränktem Maße von den außerdeutschen Kurorten Gebrauch gemacht hat. Immerhin
sind ja auch einige österreichische Kurorte, Teplitz, Karlsbad, Marienbad, in stärkerem Maße
von deutschen Militärkurgästen besucht worden, wie ja auch anderseits eine ganze Reihe von
Angehörigen der österreichisch ungarischen Armee in deutschen Bädern Heilung und Erholung
von den Kriegseinwirkungen gesucht und hoffentlich gefunden hat.
Daß die Heeresverwaltung sich auch in Zukunft den Ausbau der Kur- und Bäderbehandlung
für Heereszwecke, insbesondere für die Kriegsbeschädigten, wird angelegen sein lassen, braucht
kaum noch besonders erwähnt zu werden; wie sich im einzelnen die Organisation hierfür
gestalten wird, darüber schweben zurzeit noch Verhandlungen zwischen den beteiligten Dienst¬
stellen. Die Heeresverwaltung, die Organe der sozialen Versicherung, das Rote Kreuz mit
seinen ausgezeichneten weitschauenden Vorkehrungen für die Bäderfürsorge für die heeres-
entlassenen Krieger, die bürgerliche Organisation für die Kriegsbeschädigtenfürsorge — alle sind
bestrebt und am Werke, den kurbedürftigen Kriegsbeschädigten die Heilschätze unserer Bäder
zugute kommen zu lassen. Gerade diese Vielseitigkeit der dazu berufenen Stellen und zahl¬
reichen privaten Organisationen, die sich dazu berufen fühlen, bergen eine gewisse Gefahr, die
zu umgehen unser derzeitiges Bestreben ist. Soweit die Heeresverwaltung selbst in Frage
kommt, so kann versichert werden, daß sie das Wort König Friedrich Wilhelms IV.: „So gut
wie möglich, nicht so billig wie möglich, soll der kranke Soldat gepflegt werden“, auch auf die
siechen, krank und verwundet gewesenen Soldaten anzuwenden bestrebt sein wird.
RA. Privatdozent Dr. Julius Schütz (Wien): Organisation der Kur- und Bäder¬
behandlung in der österreichisch-ungarischen Armee. Trotz teilweise ungünstiger
geographischer Verhältnisse (viele Kurorte in der Kampfzone!) wurden die Kurorte in weit¬
gehendem Maße für die Behandlung kranker und verwundeter Krieger herangezogen. Sogar
im Bereiche der Armee im Felde und in den besetzten Gebieten sind einige Kurorte im Betrieb.
Die eigentliche Kurortebehandlung wird durch weitgehende Anwendung physikalisch-diätetischer
Methoden außerhalb der Kurorte ergänzt. Ref. zeigt, daß es zweckmäßig war, für einzelne
Krankheitsgruppen bestimmte Organisationstypen zu schaffen und mit der physikalisch-diätetischen
Behandlung so frühzeitig als möglich zu beginnen. Am intensivsten wurde dieses Prinzip bei
«ler Nephritis durcbgeführt. Schilderung der betreffenden Organisation, welche für jeden
einzelnen Mann eine spezialistische Fürsorge von der Front bis ins Hinterland ermöglicht.
Hierbei zeigte sich die Wichtigkeit der Verknüpfung von klassifikatorisch-
diagnostischen mit therapeutischen Maßnahmen. Auch für Magen-, Darm-, Herz-
und Lungenkrankheiten sind außerhalb der Kurorte Spezialanstalten errichtet, doch fällt
bier den Kurorten immerhin der Hauptanteil der Behandlung zu. Im Laufe des Krieges sind
fortschreitend Verbesserungen in der Organisation der Verteilung in die einzelnen Kurorte,
Vereinfachungen der betreffenden Transferierungsvorschriften erfolgt und Vorsorge getroffen
worden, möglichst weiten Kreisen die hohe Bedeutung der balneotherapeutiscben und physikalisch-
diätetischen Methoden für die Kriegsbehandlung und die Verhütung dauernder Invalidität —
speziell bei InternkraDken — ständig in Erinnerung zu bringen. Wichtig ist u. a. der Grund¬
satz, daß die in den Kurorten etablierten Sanitätsanstalten für Kranke des betreffenden
Indikationskreises reserviert bleiben und daß nach Abschluß der baineotherapeutischen Be¬
handlung der Kranke wieder an die Sanitätsanstalt transferiert werden muß, welche ihn zuge¬
wiesen hatte.
Die Erfahrungen des Krieges haben gezeigt, daß die baineologischen und physikalisch¬
diätetischen Behandlungsmethoden sich den übrigen ebenbürtig gezeigt haben und für die
Behandlung interner Kriegsbeschädigten geradezu eine dominierende Rolle spielen. Ref. spricht
die Hoffnung aus, daß diese Erkenntnis nach dem Kriege dazu führen möge, diese Methoden
den breiten Massen der Unbemittelten und Armen mehr als bisher zugänglich zu machen.
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSETY OF MICHIGAN
60
Berichte über Kongresse und Vereine.
Hofrat Professor Dr. A. v. Bökay (Budapest): Organisation der klimatischen Kur-
und Bäderbehandlung für Kriegsinvalide in Ungarn. Drei Faktoren wirken dahin, die
ungarischen Heilquellen und klimatischen Kurorte zur Heilung der kriegsverwundeten und
kranken Krieger segensreich zu verwenden: 1. das Landeskriegsfürsorgeamt, 2. der Ungar¬
ländische Verein vom Roten Kreuz, 3. die Heeressanitätsverwaltung.
Aus den angeführten Daten erhellt, daß die ungarischen Heilbäder zur Behandlung
unserer kriegsverwundeten und kranken Soldaten genug intensiv benützt wurden und daß wir
nach bestem Können zur Erhaltung unserer Schlagfertigkeit beigetragen haben. Das Landes¬
kriegsfürsorgeamt, der Ungarländische Verein vom Roten Kreuz und die Heeresverwaltung
haben insgesamt 10 Thermalbäder, 7 über andere Heilquellen verfügende Heilbäder und 9 klima¬
tische Kurorte in Anspruch genommen. Wenn ich die Zahl aller in Anspruch genommenen
summiere, so ist das Resultat 26. Es ist das eine Ziffer, der man alle Achtung zollen muß und
in den 16422 zählenden Belegräuraen dieser Orte wurden bisher 149935 kriegsverwundete und
kranke Soldaten behandelt, unter diesen einige tausend Offiziere. Aus der Summierung der
Daten geht hervor, daß die balneologischen Institutionen Ungarns bestrebt waren, ihre Pflicht
zu erfüllen.
Dr. J. Thenen (Wien): Organisation der Kurbäderfürsorge für Kriegsinvalide
in Österreich.
Die österreichische Zivilstaatsverwaltung hat mit dem am 16. Februar 1915 vom Minister
des Innern hinausgegebenen Erlaß zur Bildung von „Landeskoramissioncn zur Fürsorge für
beimkehrende Krieger“ ihre Tätigkeit auf dem Gebiete der Kriegsfürsorge zur Wiederherstellung
der Arbeitsfähigkeit Kriegsinvalider eingeleitet. In der großzügigen programmatischen Erklärung
dieses Erlasses bestimmt die Zivilverwaltung das Ziel, in Ergänzung der Fürsorge der KriegB-
verwaltung und der segensreichen Wirksamkeit des Roten Kreuzes, den aus dem Felde zurück -
kehrenden Kriegern zur möglichsten Widerherstellung ihrer Arbeitskraft zu
verhelfen, sie dadurch dem Erwerbsleben als nützliche Mitglieder der Gesell¬
schaft wieder zuzuführen und so vor dem Schicksale mit sich und der Welt
zerfallener Almosenempfänger zu bewahren. In den Rahmen der Aktion fällt
'die wirksame Spezialbehandlung von kranken oder verletzten Kriegern in Heilstätten,
Badeorten, orthopädischen Anstalten, die Unterbringung in Genesungsheimen, die Beschaffung
von therapeutischen Behelfen, in der Absicht, die Arbeitsfähigkeit in möglichst hohem Grade
wiederherzustellen.
Die Zivilverwaltung erblickt in der Invalidenfürsorge die Erfüllung einer Pflicht im
Interesse des einzelnen Individuums sowie im Interesse der Allgemeinheit. Dieser
Auffassung wird in zahlreichen weiteren Erlässen immer wieder der prägnanteste Ausdruck
verliehen. Es wird somit für alle Zukunft zum Leitsätze erhoben, daß die Invalidenfürsorge
als eine die Gesamtheit und den Staat verpflichtende Wohlfahrtsinstitution zu betrachten sei.
Die organisatorische Grundlage der Invalidenfürsorge beruht auf den am Sitze der politischen
Landesbehörden der einzelnen Kronländer errichten Landeskommission zur Fürsorge für heim¬
kehrende Krieger — in Böhmen der staatlichen Landeszentrale für das Königreich Böhmen —,
welche, im verwaltungstechnischen Sinne autonom, an der Durchführung der Aufgaben der
Kriegsfürsorge mitwirken sollen.
Ein großer Teil der in das Arbeitsgebiet der Zivilstaatsverwaltung fallenden Aufgaben
obliegt derzeit noch der Heeresverwaltung, da diese während der Dauer der Mobilität die
bestehenden militärischen Anstalten den Heilbedürftigen im weitesten Ausmaße zugänglich
machen und gleichzeitig einen Überblick über den gesamten Krankenstand gewinnen kann.
Mit der Beendigung des Krieges, insbesondere nach durchgeführter Demobilisierung, wird
sich das Arbeitsgebiet der Zivilstaatsverwaltung ganz bedeutend erweitern und es wird an sie
die Pflicht herantreten, auch für diejenigen Personen, welche durch Internierung in Feindes¬
land oder Verschleppung in dieses an ihrer Gesundheit Schaden gelitten haben, Obsorgen
au treffen.
Auf dem Gebiete der Heilfürsorge widmen sich die Landeskommissionen gegenwärtig
der Ausgestaltung des Heilstättenwesens zur Bekämpfung der Tuberkulose, zur Behandlung von
Nervenkrankheiten, zur Unterbringung von Geisteskranken und zur Erhaltung orthopädischer
Anstalten. Die Vorsorgen zur Bekämpfung der Tuberkulose haben in den letzten Jahren in
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Berichte über Kongresse und Vereine. 61
Österreich anerkennenswerte Forschritte anzuweisen, nachdem die unermüdliche Aufklärungs¬
arbeit der Ärzte durch die Erfahrungen im Kriege eine zwingende Beweisunterlage gefunden
haben, und sich allenthalben die Erkenntnis Bahn gebrochen hat, daß die Bekämpfung der
Tuberkulose zu den dringendsten Aufgaben eines auf die Erhaltung und Förderung des Volks
wohles bedachten Staatswesens gezählt werden müsse.
Der Forderung nach Unterbringung kurbedürftiger Kriegsbeschädigter [in Badeorten und
klimatischen Stationen können die Lahdeskommissionen nur in geringem Maße entsprechen, da
sie ihre Fürsorgetätigkeit aus verwaltungstechnichen Gründen nur auf die eigenen Kronländer
beschränken müssen und sie grundsätzlich nur ihren landeszugehörigen oder den vor dem Kriege
ansässigen Militärpersonen zuteil werden lassen. Die Hauptbedingung einer sachgemäßen
Unterbringung von Kurbedürftigen ist jedoch, daß der Kranke an den geeigneten Platz
gesendet wird. Die Erfüllung dieser Forderung läßt sich mit territorialer Abgrenzung des
Wirkungsgebietes der Landeskommissionen nicht vereinigen.
Nach den bisherigen Erfahrungen bildet aber die Unterbringung Kriegskranker in Kur
orten, die Bereitstellung der dortselbst. geübten Heilmethoden, eine wuchtige, von vielen
Kranken als besonders w’ohltuend empfundene Ergänzung der therapeutischen Maßnahmen.
Um nun alle verwaltungstechnischen Schwierigkeiten anszuscbalten und den Kriegskranken alle
Behelfe, die überhaupt verfügbar sind, und deren Anwendung erprobt ist, zugänglich zu machen
hat die Österreichische Gesellschaft vom Koten Kreuz diesen Zweig der Fürsorgetätigkeit in
eigene Verwaltung übernommen und mit der materiellen und moralischen Unterstützung der
Militär- und Zivilstaatsverwaltung durchgeführt.
Die Zentralstelle für Kriegskranken- (Kur- und Bäder ) Fürsorge der Österreichischei;
Gesellschaft vom Koten Kreuze wird in Anbetracht ihrer umfassenden Aufgaben von der
Militär und Zivilstaatsverwaltung subventioniert; um jedoch jene Entwicklung zu erlangen»
welche die übernommene Aufgabe einer im Staate eng angegliederten Wohlfahrtsinstitution
erfüllen soll, wird es einer umfassenden Mithilfe der privaten Wohltätigkeit bedürfen. Es kann
nämlich keinem Zweifel unterliegen, daß die Zentrale gleichfalls nach eingetretener DemobiU
Nation gesteigerten Anforderungen gerecht werden muß und auch in der Kurversorgung der au*
der Gefangenschaft zurückkehrenden Krieger bedeutende Aufgaben zu erfüllen haben w r ird. Es
wird ferner zu erwägen sein, daß diese Wohlfahrtsaktion auf diejenigen Maßnahmen ausgedehnt
werden soll, welche die Regierung als notwendige Fürsorgeaktionen für die zuriiekkehrenden
Internierten oder Verschleppten einleiten wird.
Zur erfolgreichen Ausgestaltung der Kur- und Bäderfürsorge gehört auch die Beschaffung
dauernder Unterkünfte und geeigneter Ileime unter Beaufsichtigung und mit eigen-:
Bewirtschaftung, letztere, um den Kurgebrauch auf eine möglichst lange Zeit dos Jahres aus
zudehnen und sich von dem aus wirtschaftlichen Bedingungen hervorgegangenen Brauch d*-:
,Kursaison* freizumachen. Für Kranke kann nur eine Indikation Geltung haben, das ist die¬
jenige, welche in den klimatischen Verhältnissen gelegen ist. Es würde sich aus vielen, in
Zwecke des Heilverfahrens gelegenen Gründen nicht minder im Interesse der wirtschaftliches
Kunintemehmungen empfehlen, kurbedlirftige Kriegsteilnehmer vorwiegend außerhalb jener
Zeit, an welcher zahlreiche private Kurgäste zusammenströmen, in die Badeorte zu senden.
Eine überaus erfolgreiche Tätigkeit auf dem Gebiete der Heilfürsorge für kriegskranke
Offiziere entwickelt gegenwärtig die seit 35 Jahren bestehende k. k. Gesellschaft vom
Weißen Kreuz.
Vor wenigen Wochen wurde in Österreich das Fundament zu einem der bedeutendsten
staatlichen Reformwerke gelegt Es wurden eigene Ministerien für Gesundheitswesen und
Soziale Fürsorge geschaffen. Im Kriege entstanden, haben diese Stellen in erster Hinsicht an
der Behebung der durch die Kriegsereignisse hervorgerufenen Schäden an Volksgesundheit
mitzuwirken; in weiterer Zukunft haben sie die hohe Aufgabe zu erfassen, ein auf modernen
Grundsätzen beruhendes Gesundheitswesen und ein vom Geiste der Zeit getragenes Wohlfahrts¬
wesen auszugestalten. Wir Ärzte hegen die Zuversicht, daß alle Erwartungen nicht nur
erfüllt, sondern weit übertroffen werden müssen, wenn die der Volkswohlfahrt gewidmete Arbeit
sich frei und abseits vom Getriebe der Politik entfalten kann. Die im harten Krieg gereifte
Erkenntnis, daß der Mensch das kostbarste Gut des Staates ist, darf auch in dauernder Friedens-
zeit nicht mehr in Vergessenheit geraten.
Digitized’by
Gck igle
Original from
UNIVERSETY OF MICHIGAN
Berichte über Kongresse und Vereine.
62
Aussprache. Dr. Karstedt (Berlin), Vertreter des Zentralkomitees der Deutschen
Vereine vom Roten Kreuz und stellvertretender Vorsitzender der Abteilung „Bäder- und
Anstaltsfürsorge beim Roten Kreuz“: Namens des Zentralkomitees der Deutschen Vereine vom
Roten Kreuz und insbesondere im Namen der Abteilung Bäder- und Anstaltsftirsorge und deren
Vorsitzenden, Herrn Oberbürgermeister Geib, möchte ich, wenn auch etwas verspätet, nicht
unterlassen, der hochansehnlichen Versammlung den Gruß zu entbieten. Gestatten Sie mir,
nach den sachverständigen Ausführungen meiner Herren Vorredner nur einen kurzen Hinweis
auf eine breitere Anfassung des Themas. Es ist bereits hier von vielen Seiten in ehrender und
anerkennender Weise der Tätigkeit unserer Abteilung „Bäder- und Anstaltsfürsorge“ gedacht
worden. Große Schwierigkeiten und Bedenken waren zu überwinden.
Vorbauend als Fundament Ihrer weiteren Verhandlungen haben wir bereits am 25. Juli 1. J.
einen Vertrag mit Wien geschlossen, der in bezug auf Kur- und Anstaltsfürsorge die Gegen¬
seitigkeit zwischen der deutschen Abteilung „Bäder- und Anstaltsfürsorge“ und der gleichartigen
Wiener Organisation in feste Form gießt. Ich darf der Hoffnung Ausdruck geben, daß dieses
Werk praktischer waffenbrüderlicher Betätigung zum Segen beider Staaten auf lange hinaus
wirken und sich auswirken möge.
San.-Rat Dr. Stemmler (Bad Ems): Im Anschluß an die Vorträge vom Geh. Rat
Prof. Dr. Dietrich und Dr. Karstedt möchte ich nur kurz ausführen, in welcher Weise dem
Zentralkomitee der Deutschen Vereine vom Roten Kreuz für seine in die Bäder- und Kurorte
entsandten Patienten die ärztliche Hilfe garantiert ist.
Als die Frage der Kriegsfürsorge für das Rote Kreuz brennend wurde und diese Frage
in einer glänzenden Versammlung im Herrenhause in Berlin erörtet und erläutert worden war,
hat das Rote Kreuz mit dem Standes verein der reichsdeutschen Badeärzte einen Vertrag
geschlossen, der ihm die ärztliche Hilfe voll und ganz gewährleistet. Auf die Einzelheiten
dieses Vertrages will ich nicht weiter eingehen, sondern nur erwähnen, daß derselbe die freie
Ärzte wähl garantierte und die Kasernierung der Patienten in den offenen Kurorten ausschließt.
Dieser Vertrag ist für uns Badeärzte natürlich auch ein Opfervertrag, den wir aber gern
als patriotische Opfergabe auf den Altar des Vaterlandes gelegt, um die Opfer an Gut, Leben
und Gesundheit, die unsere Kinder an der Front dargebracht haben, mit offener Hand reichlich
zu vergelten. Dieser Vertrag stellte dem Roten Kreuz die Hilfe von 600 deutschen Bade¬
ärzten zur Verfügung, die bestrebt sind, die hehre Aufgabe des Roten Kreuzes zu erfüllen, die
Opfer an Leben und Gesundheit durch Opfer an Gut in Vergessenheit zu bringen.
RA. Dr. H. Meßmer, Leiter der Zentralstelle für Kriegskranken- (Kur- und Bäder )
Fürsorge der Österreichischen Gesellschaft vom Roten Kreuz:
Durch die Herren Referenten ist die Notwendigkeit einer erhöhten Fürsorge für jene
Kriegskranken, die zur Wiederherstellung ihrer Gesundheit den Gebrauch einer Trink- oder
Badekur oder des Aufenthaltes in einem Höhenkurorte oder am Meere benötigen, klar vor
Augen geführt worden.
Die Heilquellen Österreichs bilden ein Nationalvermögen von unermeßlichem Werte.
Darum müßte der Staat viel mehr als bis jetzt dafür Sorge tragen, daß diese Werte den
Erhaltern der Nation, d. s. die arbeitenden Stände und jetzt unsere Helden an
<ier Front als ein ihnen gebührendes Recht leichter zugänglich gemacht werden.
Hier einzugreifen, wird eine notwendige und dankenswerte Aufgabe der neuge¬
schaffenen Ministerien für Volksgesundheit und soziale Fürsorge sein.
Die Einrichtungen von Anstalten und Heimen für weniger zahlungsfähige Kurgäste und
für mittellose darf nicht verhindert werden, weil darin einige eine Geschäftsstörung erblicken.
Das darf nicht zugelassen werden und dagegen muß mit allen Mitteln auch von
seiten der Behörden Stellung genommen werden.
Es sollte dafür Sorge getragen werden, daß in den Kurvorstehungen nicht allein die
Kurinteressen, sondern auch die Kurgäste und insbesondere die Wohlfahrtsorganisation ihre
Vertretung haben und auch den Ärzten mehr Rechte eingeräumt werden.
Schließlich möchte ich noch auf den bestehenden Mangel eines Zentralsammelpunktes für
alle diese Aktion betreffenden Bestrebungen hinweisen. Gerade die Kur- und Badefürsorge
für Kriegsteilnehmer darf naturgemäß weder durch Landes- noch durch Reichsgrenzen beengt
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Berichte über Kongresse und Vereine.
63
sein und muß volle Freizügigkeit im Bereiche der Länder aller Verbündeten besitzen, wie sie
ja auch allen bedürftigen Kriegsteilnehmern der Mittelmächte zukommen soll. Die Zersplitterung
einer derartigen Aktion wird nicht nur die für Zwecke der Kur- und Bäderftirsorge aufbring-
baren Mittel zerstreuen, sondern auch den Kurwerbern die Möglichkeit erschweren, die richtige
Stelle zur Erfüllung ihrer Ansuchen ausfindig zu machen, wie anderseits ermöglichen, daß
Gesuchsteller durch Anstrebung von Doppelunterstützungen andere Kurbedürftige schädigen.
Deshalb muß eine Zentralstelle bestimmt werden und müssen die großen Organisationen,
die Bich heute schon auf diesem Gebiete betätigen, in engster Fühlungnahme
miteinander arbeiten.
GStA. Dr. Johann Frisch (Wien): Ich möchte mitteilen, daß ein Erlaß des Kriegs¬
in inisteri ums auf dem Wege ist, welcher allen Militär-, beziehungsweise Spitalkommanden,
bekanntgibt, welche Bäder und zu welchem Zwecke dieselben den Heeresangehörigen zur
Verfügung stehen. Die Worte, die viel verheißenden Äußerungen Seiner Exzellenz des Kriegs¬
ministers lassen mit voller Beruhigung in die Zukunft schauen, nachdem die Heeresverwaltung
die große Bedeutung der physikalischen Therapie erkannt hat und bestrebt ist, mit allen ihr
zu Gebote stehenden Mitteln dieselbe nicht nur aufzubauen, sondern auch in den Bädern eine
umfassende Forschungsarbeit zu inaugurieren.
Kaiserlicher Rat Dr. Julius v. Hortenau, Präsident des küstenländischen Fremden¬
verkehrsverbandes (Abbazia): Ich wende mich im Namen des küstenländischen Fremden¬
verkehrsverbandes an die ärztlichen Abteilungen der Waffenbrüderlichen Vereinigungen mit der
Bitte um deren tatkräftige Unterstützung einer Aktion, die bei Kriegsbeginn seitens des
Verbandes geschaffen wurde und den Zweck verfolgt, die hohen Pflichten der Kriegskranken¬
fürsorge mit den volkswirtschaftlichen Interessen der österreichischen Adrialänder in Einklang
zu bringen. Dieses Ziel soll erreicht werden:
1. durch Systemisierung von Stiftsplätzen in den Hotels und Pensionen an unserer Küste
zuiu Preise von 4 und 6 Kronen täglich für Erholungsbedürftige;
2. durch die Errichtung eigener Heilanstalten für Pflegebedürftige;
3. durch die Aufbringung eines Unterstützungsfonds zu Kurzwecken für mittellose Kriegskranke;
4. durch Gewährung unverzinslicher Darlehen aus Staatsmitteln für im Kriege notleidend
gewordene Hotelunternehmungen an der Adria, welche sich an unserer Kriegskrankenfürsorge
beteiligen.
Letzteres halten w T ir für eine voraussetzliche Bedingung einer tunlichsten Erweiterung der
Aktion durch größtmöglichste Beteiligung unseres Hotelgewerbes, das während des Krieges so
schwere Vermögens Verluste erlitten hat, daß man billigerweise nur dann auch auf dessen Mit¬
wirkung an humanitären und patriotischen Aktionen rechnen kann, wenn es seitens der staatlichen
Verwaltung gestützt und gehalten wird.
Die Aufnahme, die unser Unternehmen bei der Regierung und den Behörden fand, läßt
uns hoffen, daß ein großer Teil der 30 000 Fremdenbetten, die an unserer Küste verfügbar sind,
während eines Teiles des Jahres unserer Aktion zur Verfügung stehen werden, da schon die
bereits vorliegenden Platzanweisungen bei turnusweiser Vergebung jährlich Tausenden von Kriegs¬
kranken den Kuraufenthalt an unserer Küste ermöglichen werden. Eine weitere Voraussetzung
und Bedingung, die unserseits an die Vergebung dieser Stiftsplätze gebunden wird, ist der Aus¬
schluß von offener Tuberkulose.
Nur durch strikteste Einhaltung dieser Bedingung wird es möglich sein, einerseits die
heimische Bewohnerschaft, die nach den furchtbaren Entbehrungen des Krieges den günstigsten
Boden für die schrankenlose Ausbreitung dieser Volksgeißel bieten würde, zu schützen, anderseits
die österreichische Riviera im Interesse der gesamtstaatlichen Volkswirtschaft dem Fremden¬
verkehre zu erhalten.
Wir hoffen und erwarten von der staatlichen Tuberkulosenfürsorge, daß sie die Heilschätze
der heimischen Küste unseren Kranken durch die Errichtung eigener Heilstätten zur Verfügung
stellen werde, die bei entsprechender Führung keinerlei Gefahr für die heimische Bevölkerung
bedeuten, sind jedoch auch selbst bereit, die durch die Errichtung geeigneter Objekte im
Rahmen der von uns projektierten eigenen Heilanstalten helfend einzugreifen, wenn der Staat
uns hierzu berufen sollte.
Digitized by
Go. .gle
>-
Original fro-rn
UNIVERSITY OF MICHIGAN
64 Berichte über Kongresse und Vereine.
Die Gründung der Waffenbrüderlicben Vereinigung beweist uns, daß wir in unserem
Bestreben nicht allein stehen, das Gefühl der Zusammengehörigkeit zwischen den Waffengenossen,
das auf ungezählten Schlachtfeldern und auf der Hochwacht des Meeres seine Blnttaufe erhielt,
mit allen Mitteln gegenseitiger Hilfsbereitschaft für alle Zukunft zu stärken und zu erhalten,
ln Anbetracht der Gemeinschaft unserer Ziele gestatte ich mir daher die Bitte an die hoch¬
geehrte Versammlung, uns behilflich zu sein, an den Sonnengestaden der österreichischen
Adriaküste ein Denkmal der Dankbarkeit zu errichten für alle innerhalb und außerhalb der
schwarzgelben Grenzpfähle, die für Österreich-Ungarns Bestand und Zukunft kämpften und
litten. Sie dienen damit den Opfern dieses Krieges und halten Ihrem eigenen Vaterlande
die Treue.
RA. Dr. Offer (Wien*: In der Vorraussicht, daß nach erfolgter Demobilisierung für
Kriegsbeschädigte eine weitgehende Vorsorge getroffen werden muß, habe ich dem k. k. Ministerium
für Landesverteidigung eine größere Anzahl von Verpflegstagen in meiner Anstalt zur Verfügung
gestellt, für im Kriege erkrankte Offiziere, welche auch nach der Demobilisierung einer Behand¬
lung bedürfen. Die Verteilung dieser Plätze wurde dem Ministerium für Landesverteidigung
überlassen nach dem Schlüssel, daß je 1000 Verpflegungstage den Angehörigen der Landwehr,
des gemeinsamen Heeres sowie den Heeresverwaltungen unserer Verbündeten (Deutschland,
Türkei und Bulgarien) zur Verfügung gestellt wurden. Nach diesem Beispiel können alle An¬
stalten Österreichs für die Möglichkeit der Nachbehandlung der Kriegsbeschädigten ihr Scherf¬
lein beitragen.
Regierungsrat Dr. Löbel (Dorna-Watra) weist an der Hand eingehender statistischer
Ziffern nach, daß der Besuch der Kurorte, wenn man die Jahre 1915 bis 1917 verfolgt, einen
steten Rückgang aufweist. Man wäre geneigt, diese Tatsachen auf die herrschenden Verpflegs-
schwierigkeiten zurückzuführen. Das herrschende Schlagwort, daß der Bädergebrauch ein Luxus
sei, müsse verschwinden. Dies könne nur durch eine wesentliche Verbilligung des Bäder¬
gebrauchs bewirkt werden. Redner verweist diesbezüglich auf ein Übereinkommen zwischen
dem Kriegsrainisterium und dem Ackerbauministerium in betreff der Benützung des Bades
Dorna-Watra durch Heeresangehörige hin und empfiehlt die Bestimmungen dieses Vertrages
zur Danachrichtung.
Medizinalrat Dr. Boral (Wien) betont, daß es von größter Wichtigkeit sei, in den Sammel-
stellen für Nierenkranke nur spezialistisch ausgebildete Ärzte zu verwenden.
RA. Dr. Friedrich Deutsch (Karlsbad): Mit Beziehung auf die Ausführungen des
Herrn RA. Dozenten Dr. Schütz möchte ich mir erlauben, darauf hinzuweisen, daß für alle Kur¬
orte, also auch diejenigen, welche bereits stabile Militärsanitätsanstalten besitzen, eine Erweiterung
derselben, beziehungsweise die Neueinrichtung solcher Anstalten späterhin erforderlich »ein
wird. Da ist zu bemerken, daß der weitaus größte Teil der Kurbedürftigen im Kriege in den
nichtstabilen Reservespitälern Aufnahme findet. Sehen wir die durch den Krieg bedingte Ver¬
mehrung der Krankheiten, welche einen Kurgebrauch nötig machen, so dürfte diese Anregung
auf fruchtbaren Boden fallen. Darf ich nur darauf hinweisen, in welch auffallender Weise sich,
um ein Beispiel zu nennen, die Erkrankungen der Gallenwege vermehrt haben, die vor dem
Kriege bei Männern eine so unverhältnismäßig geringere Verbreitung hatten. Weiteres möchte
ich erwähnen, daß in Karlsbad die Aufnahme kurbedürftiger Mannschaftspersonen zwar in
das Reservespital, nicht aber in die Militärbadeheilanstalt durch bloßes Einvernehmen der
Spitalskommandanten erfolgen kann. Ebenso ist die Aufnahme von Offizieren an die Ver¬
leihung eines Freiplatzes von seiten des Militärkommandos Prag gebunden, was ich mir zu
bemerken erlaube.
Stadtphysikus Dr. Karl Zörkendorfer (Marienbad) weist darauf hin, daß die Errichtung
von Heilstätten durch verspätete Freigabe gesperrter Baumaterialien so verzögert wurde, daß
die beste Jahreszeit zum Bauen nicht ausgenützt werden konnte, die Herstellung um ein Jahr
verzögert wurde und wegen der immer mehr zunehmenden Steigerung in den Preisen der Bau¬
materialien die Baukosten ungemein vergrößert werden. Er ersucht den Vertreter des Sanitäts¬
departements im Kriegsministerium, dahin zu wirken, daß solche Verzögerungen in Zukunft
vermieden werden.
W. Ilüxeiifttoin, Druckerei und Deutscher Verlag C». in. b. II., Berlin SW. 48.
Digitized by
Go igle
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Mmmix
‘IÄHJBLmw?,
;||i»p
,‘v*Hv .0'igit(ze<d by
• • • *
>■■'■■.-!: • •• --• - ■ ^ ^ .Jjglgg»^
ZEITSCHRIFT
. PO*
PHYSIKALISCHE UND DIÄTETISCHE
THERAPIE
Begründet von E. v. Leyden und A. Goldscheider
Herausgeber:
A. GOLDSCHEIDER L. BRIEGER A. STRASSER
Redaktion
Dr. W. ALEXANDER, zurzeit Marieaburg (Westpr.)* Lazarett Schützetfhaus.
Manuskripte, Referate tmd Sonderabdrucke Werdeü ab Herrn br. W. Alexander, zurzeit Marienburg (Westpr.J,
Lazarett Schötzenhtühj portofrei erbeten; die Mafiuskripte aus Oesterreich-Udgftni sind Herrn Prof. Dr.
A.Strasser,Wien IX, Widerhofergasse 4, zu übersenden. Die gewünschte Anzahl voh Sonderabzügen ist auf der
Korrektur zu vermerken, 40 Sonderabzüge werden unentgeltlich geliefert. Abbildungen müssen auf besonderen
Blittcrn (nicht in das Manuskript) und in reproduk tio nsfähiger Ausführung eingesandt werden.
INHALT
I. Original-Arbeiten. s«i.
L Ueber die krankhalte Ucberemplindliohkeit und ihre Behandlung. Von Geh. Med. • Rat Prof. Dr.
Goldscheider (Foitcetzung).19$
il. Die Funktion des Magendarms als Grundlage der Diagnostik. Von Prof. Dr. Dst ermann in
St. Blasien-Freiborg i* Br.. 21$
II. Referate über Bücher and Aufsätze.
Seite Seite
A. Diätetisches (Ernährungstherapie). C. Elektro-, Licht- und Röntgentherapie.
Htinsheimer. Kriegskost und Magenchemismus 222 Hirschfeld, Bemerkungen zur Therapie der
Feer, Ueber die Verwendung des VoTlmehls in der hysterischen Tanbheit.224
Säuglingsernährung und über das Vollbrot im
allgemeinen. . . ... 222 D. Verschiedenes.
Blrkne rund Dein Inge r, Beiträge zur Zusammen- Engelmann, Gefahren und Verhütung der Er¬
setzung und Untersuchung von Fleisch und Fleisch- kältungskrankheiten, insbesondere bei Kleidungs-,
wurst .Schuh- und Kohlenknappheit.224
B. Hydro-, Balneo- und Klimatotherapie.
Eisenmenger. Der hydrostatische Druck als thera¬
peutische Komponente des Bades.223
Scheminzky. Die Emanation des Wassers . . . . 224 _
Hotel u. Kurhaus St. Blasien
im südlichen badischen Schwarzwald, 800 m über dem Meer
mit Anstalt für physikalische Heilmittel
Alle einschlägigen Kurmittel ✓ Luftbäder / Terrain kuren / Ausgedehnte Tannenwälder
Lslter der ärztlichen Abteilung: Prof. Dr. DETERMAMN
Sanatorium Luisenheim. St. Blasien
ffflr Merz>, Magen., Darm-, Stoffwechsel- und Nervenkranke, Diätkuren
Laltsaisr Arzt: Prof. Dr. EDENS . In fe.id.n Häusern Infektiös Erkrankt, ausgeschlossen
Früheres Scincitoriiim
* * *'***^ y * V.® UUIlUlVfl ****** Zwei Gebäude mit zusammen
56 Zimmern, Saal, Küche, Veranda sowie ein Maschinenbaus mit Gärtner wohnung ist durch midi
zu verkaufen.
Bis zum Tode des Inhabers wurde hier ein diätetisch - physikalisches Sanatorium betrieben.
Gefällige Anfragen erbitte unter J. A. 9902 durdi Rudolf Mosse, Berlin SW 19.
Verlag von GEORG THIEME in Leipzig
Soeben erschien
Ein Handbuch
für Aerzte und Bevölkerungspolitiker
unter Mitwirkung von
Prof. Br C, Adam, Direktor des Kaiser Friedrich-Hauses in Berlin — Prof. Or.
Öeirmajin, Direktor derliermatoidgisehen Klinik in Heidelberg — Prof. Dr H H aik*
■n Berlin ?£ Prof. Dr. M. Henkel in jena - K-und k-Konsul G. von Hoffman:)
in Berlin. - Geb. Obvr-Med-Rai Dr. Kroime, Vortragender Rai im Ministerium des
tönern in Berlin — Geh. Rät Prof. Dr. jur. K. v. Lilienthal in Heidelberg — Ge'r.
Med.-Kar Prof, ßr F, Mjrnius, Direktor der Medizinischen ÜB}versi!ätsklin>k in
Pas Kn: V, - Dr. pj«c?ek in Berlin Df W. Scballoiayer nt Pl*neggMüne(i«n -
Prof, Dr, W, Strobmayei in jen* - Dr. W. Weinberg in Snsifgort
herausgegeben von
Preis M. 15,
und 25% Teuerungszuschlag
Original -Arbeiten
i.
Über die krankhafte Überempfindlichkeit und ihre
Behandlung.
Von
Geb. Med.-Rat Prof. Dr. Goldseheider.
(Fortsetzung.)
II. Überempfindlichkeit durch Übermüdung und Überreizung.
Die Ermüdung zeigt sich in einem objektiven und subjektiven Tatbestand.
Ersterer besteht, ganz allgemein ausgedrückt, in der Abnahme der Leistung bzw.
Leistungsfähigkeit, letzterer in dem subjektiven Gewahrwerden der Ermüdung,
welches sehr zusammengesetzter Art ist (s. unten). Am Muskel, wo die Verhält¬
nisse am übersichtlichsten sind, tritt uns die objektive Ermüdung in der mit
der Dauer der Arbeitsleistung abnehmenden Größe der letzteren entgegen; die
„Ermüdungskurve“, gewonnen durch die Registrierung der Hubhöhen bei häufig
wiederholter Gewichtshebung, ist beim ausgeschnittenen Muskel eine gerade Linie,
beim Menschen eine individuell verschieden verlaufende Kurve, welche außerdem
eine ganze Reihe von Abhängigkeiten erkennen läßt: Lebensweise, Aufregungen,
geistige und körperliche Anstrengungen, Nachtruhe, Verdaungstörungen, endlich die
Übung sind von Einfluß (Mosso). Die bei der willkürlichen Bewegung erkennbaren
Ermüdungserscheinungen setzen sich zusammen aus den im Mnskel selbst, den in
der Nervenzuleitung und den im Willensimpuls (psychisch) ablaufenden Ermüdungs¬
vorgängen. Daß die Innervation verändert ist, geht aus den Beobachtungen von
Pieper 1 ) hervor: der Aktionsstrom des ermüdeten Muskels läßt anstatt normaler
SO nur 25 bis 20 diphasische Schwankungen erkennen, welche z. T. niedriger und
von größerer Länge sind und kleine superponierte Zacken zeigen, woraus ge¬
schlossen werden muß, daß weniger Impulse vom Nervensystem zum Muskel
kommen und daß dieselben nicht so gleichzeitig wie in der Norm zu allen Fasern
des Muskels gelangen.
Herabsetzung der Empfindungstätigkeit durch Ermüdung ist im Bereiche
des Gesichts-, Gehörs- und Geruchsinnes festgestellt.
Die Hautsensibilität läßt Ermüdungserscheinungen weniger sicher er¬
kennen. Die nach taktilen Reizungen zurückbleibenden Hypästhesien sind wahr¬
scheinlich durch Hemmung bedingt; hierher gehört auch die Aufhebung der feinen
0 Elektrophysiologie menschlicher Muskeln. 1913.
Zeitschr. f. physik. u. diät. Therapie Bd. XXII. Heft 7. 13
Digitized by
Google
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
194
Goldscheider
Kitzelempfindung nach Bestreichen der Haut. Die Herabsetzung der Kälte- und
Wärmeempfindlichkeit durch Kälte- bzw. Wärmereize beruht weniger auf Er¬
müdung als auf der Veränderung der Eigentemperatur der peripherischen End¬
organe der Haut. Die bei geistiger Ermüdung beobachteten Herabsetzungen der
Hautsensibilität (Griesbach u. a.) sind auf psychische Prozesse zu beziehen 1 ),
welche freilich von physiologischer Ermüdung der Gehirn-Ganglienzellen abhängen.
Daß sowohl die Funktion der empfindenden Rindenzellen wie die den Assoziations-,
Vorstellungs- und Willensvorgängen zugrunde liegenden materiellen Prozesse
der physiologischen Ermüdbarkeit unterliegen, ist unzweifelhaft.
Mechanische, elektrische usw. Reizungen der sensiblen Hautnerven hinter¬
lassen eine Hypästhesie, welche ebenso wie die Hyperästhesie eine Irradiation
erkennen läßt (vgl. Kap. I.). Hypästhesie und Hyperästhesie sind gleichzeitig vor¬
handen („relative Hyperästhesie“), derart, daß sehr schwache Reize abgeschwächt,
etwas stärkere gesteigert empfunden werden. Am auffälligsten tritt dies Ver¬
hältnis bei schmerzhafter Erregung der Hautnerven hervor, welche neben einer
Hyperalgesie eine ausgesprochene Hypästhesie für unterschmerzliche Reize erzeugt.
Bei dieser Herabsetzung der Empfindung handelt es sich jedoch nicht um eigent¬
liche Ermüdung, sondern um Hemmungsvorgänge. Eine Begründung dieser An¬
sicht würde hier zu weit führen (vgl. Über Schmerz und Schmerzbehandlung.
Ztschr. f. phys. und diät. Therapie Bd. 19, 1915.)
Das Vorkommen von Ermüdung im Bereiche der Reflextätigkeit erscheint
gesichert. So ist die Abschwächung der Sehnenreflexe nach wiederholter Aus¬
lösung vielleicht auf Ermüdung des zentralen Anteils des Reflexbogens zu beziehen,
falls nicht etwa Hemmungseinflüsse hierbei mitspielen. Der nach großen An¬
strengungen beobachtete völlige Verlust der Sehnenreflexe, welcher ein bis mehrere
Tage anhalten kann, muß auf eine Erschöpfung der Reflexzentren bezogen werden.
Edinger 2 ) gibt Beispiele dieses Vorkommens an. Für die bloße Abschwächung
der Reflexe nach anstrengenden Muskelbewegungen kommt auch die Ermüdung
der Muskeln selbst in Betracht. Der Nachlaß der Hautreflexe bei mehrfach
hintereinander ausgeführter Prüfung dürfte auf Hemmung zu beziehen sein; die
Abschwächung des Pupillenreflexes unter gleichen Bedingungen zugleich auf Netz¬
hautermüdung.
Die Ermüdbarkeit der peripherischen Nervenfasern ist außerordentlich gering,
jedoch läßt sich in sauerstofffreier Atmosphäre Nervenermüdung herbeiführen
(von Baeyer und Fröhlich). Wahrscheinlich ist die Ermüdbarkeit kranker
Nerven eine größere (Haberlandt).
Die Ermüdung verschwindet durch Ruhe. Auch der ausgeschnittene, durch
elektrische Reizung ermüdete Kaltblütermuskel erholt sich, vorausgesetzt, daß er
sich in einer sauerstoffhaltigen, Atmosphäre befindet (Joteyko). Die glatte
Muskulatur ist wie die quergestreifte ermüdbar und erholungsfähig. Ermüdung
und Erholung sind allgemeine Eigenschaften der lebendigen reizbaren
Substanz.
Verworn zeigte, daß bei Einwirkung eines galvanischen Stromes auf Rhi-
zopoden die Reizerscheinungen (Kontraktion der Pseudopodien und der Körper-
! ) Vgl. die Zusammenstellung bei M. Lobs ien. Die experimentelle Ermüdungsforschung. 1914.
Der Anteil der Funktion an der Entstehung von Nervenkrankheiten. 1908.
X
Digitized by
Google
Original fro-rn
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Über die krankhafte Oberempfindlichkeit und ihre Behandlung.
195
Substanz selbst) mit der Dauer des Stromes abnehmen und schließlich ganz auf-
hüren (Aktinosphärium) und deutet diesen Vorgang als Ermüdung. Die nach
Steinach beobachteten Ermüdungserscheinungen bei der Reizsummation wurden
bereits im I. Kap. erwähnt.
Ermüdete Muskeln werden wieder reaktionsfähig, wenn die Blutgefäße mit
physiologischer Kochsalzlösung ausgespült werden (Ranke). Noch besser wirkt
nach Kronecker die Durchspülung mittels einer Lösung von übermangansaurem
Kali oder mittels sauerstoffhaltigen Blutes. Durch Sauerstoffmangel wird das Ein¬
treten der Ermüdung beschleunigt, teils durch die Anhäufung lähmender ungenügend
oxydierter Stoffe (Zuntz, Winterstein), teils durch den mangelnden Ersatz des
zur Funktion erforderlichen Sauerstoffs.
Geistige Ermüdung erhöht die Ermüdbarkeit des Muskels, was Mosso auf
toxische Stoffe bezieht.
Bedeutungsvoll ist der von E. Weber durch plethysmographische Unter-
snchnngen erbrachte Nachweis, daß die während der Arbeit vermehrte Durchblutung
des Muskels sich beim Ermüdungszustand in das Gegenteil umkehrt. Die Gefäße
verengern sich, die Sauerstoffzufuhr sowohl wie die Entfernung der Ermüdungs¬
stoffe wird erschwert. Der Muskel wird dadurch auf verringerte Arbeitsleistung
eingestellt, erzwungene Weiterarbeit unter diesen Umständen muß die Zellen
schädigen. Die Gefäßerweiterung bei der Tätigkeit wie der entgegengesetzte
Vorgang bei der Ermüdung sind von regulatorischer Bedeutung. Diese Tatsache
stempelt die Pletyhsmographie zu einer ausgezeichneten objektiven Methode der
Ermüdungsmessung. Bei dem Zustandekommen der Ermüdung und in umgekehrtem '
Sinne der Erholung spielen mehrere Faktoren mit: einerseits die Anhäufung von
Produkten der bei der Tätigkeit entstehenden Stoffzersetzung, andererseits der
Verbrauch der zur Tätigkeit bez. zur Restitution der Substanz notwendigen Stoffe
und zwar in erster Linie des Sauerstoffs und ferner gewisser kohlenstoffhaltiger
Verbindungen. Verworn bezeichnet als „Ermüdung“ im engeren Sinne die durch
Vergiftung mit den eigenen* Zersetzungsprodukte entstehende Lähmung, als „Er¬
schöpfung“ die „aus dem Verbrauch und mangelnden Wiederersatz der lebendigen
Substanz entspringende Lähmung“. Auch Kraus läßt diese beiden Vorgänge als
Ermüdungsbedingungen gelten 1 ).
Diese Beziehungen haben wahrscheinlich nicht bloß für die Muskeln und
Neurone, sondern für die lebendige Substanz schlechthin Gültigkeit.
Die bei der Muskeltätigkeit entstehenden Zersetzungsstoffe („Ermüdungs¬
stoffe“) wurden von Ranke, Mosso und vor allem von Weichardt studiert.
Letzterer stellte durch außerordentlich sorgfältige und schwierige Versuche fest,
daß bei der Ermüdung ein im Muskelpreßsaft nachweisbares Toxin entsteht, welches
anderen Tieren injiziert, je nach injizierter Menge, alle Stadien der Ermüdung
herbeiführt. Weichardt spaltete auch in vitro durch verschiedene Verfahren
aus Eiweiß hochmolekulare Stoffe ab, welche, Tieren injiziert, Sapor, Atmungsver-
lang8amuug und Temperaturerniedrigung bewirken („Kenotoxine“) und den bei der
physiologischen Ermüdung entstehenden entsprechen. Weichardt fand ferner,
daß bei Tieren, in deren Blntbahn man Ermüdungstoxin bringt, ein spezifisches
*) Die Ermüdung als ein Maß der Konstitution. 1897. Bibliotheca medica.
13*
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
19(j Goldscheider
Antitoxin entsteht, mit welchem man auch in vitro das Toxin absättigen kann.
Durch Injektion geringer Dosen von Kenotoxin kann man Tiere (z. B. Mäuse)
leistungsfähiger machen (aktive Immunisierung); desgleichen durch Injektion von
Serum von mit Kenotoxin (aus Muskelpreßsaft) vorbehandelten Tieren gegen In¬
jektion von Kenotoxin sowie gegen natürliche Ermüdung schützen. Auch am
Menschen sind unter Ausschluß suggestiver Beeinflussungen Versuche mit Anti-
kenotoxin-Einverleibung mit positivem Ergebnis ausgeführt worden (Weichardt,
Lorentz, Labsien), deren weitere Nachprüfung freilich erwünscht erscheint.
Welche Rolle die Antikenotoxinbildung bei der Erholung spielt, muß noch
weiter aufgeklärt werden. Sie stellt jedenfalls nur einen Teilfaktor der sich ab¬
spielenden komplizierten Vorgänge dar. Neben der Bildung und Entfernung der
Ermüdungsstoffe spielt die Assimililation und zwar sowohl der Ersatz des ver¬
brauchten Sauerstoffes wie der zersetzten Substanz eine bedeutsame Rolle. An
sie knüpft auch die Erhöhung der Leistungsfähigkeit durch Übung an (vgl. I. Kapitel).
Kenotoxin ist das Giftspoktrum der höhermolekularen Eiweißspaltprodukte. Werden
solche in zweckmäßiger Dosierung injiziert, so tritt eine Erhöhung der Leistungsfähigkeit
ein, welche Weichardt in exakter Weise bestimmt hat. Dieselbe wird von dem auf
diesem Gebiete bahnbrechenden Forscher als „Protoplasma-Aktivierung 44 aufgefaßt. Auch
die Injektion gewisser Chemikalien erzeugt eine erhöhte Resistenz gegen die ermüdende
Wirkung des Kenotoxins, was Weichardt darauf bezieht, daß durch dieselben Kenotoxin
aus dem Organ-Eiweiß abgespalten wird, welcher Vorgang eine Kenotoxin-Immunität
herbeiführt. Die nach körperlicher und geistiger Anstrengung beim Menschen anfänglich
zu beobachtende Erhöhung der Leistungsfähigkeit ist der genannte Autor gleichfalls geneigt,
auf eine aktive Kenotoxin-Immunisierung zu beziehen. Die Protoplasma-Aktivierung wird
von Weichardt als ein allgemeiner physiologischer Vorgang bezeichnet, welcher sich
nicht auf die erhöhte Antitoxinbildung und Antikörperbildung überhaupt beschränkt, sondern
sich in einer gesteigerten funktionellen Leistung (z. B. Motilität), in der Verminderung
der allgemeinen Ermüdbarkeit auch bei geistiger Arbeit, ja vielleicht auch in einer
Erhöhung der Wachstumsreize ausspricht. Näheres über diese Ergebnisse von Weichardt
und seiner Schule findet man außer in der Schrift „Über Ermüdungsstoffe, 2. Aufl. 44 in
dem Kapitel über Ermüdungsstoffe im K olle- Was s er mann sehen Handbuch der patho¬
genen Mikroorganismen 1913, in „Arbeitshygienische Untersuchungen 44 (mit Lindner), Arch.
f. Hygiene, Bd. 86, und in einer zusammenfassenden Darstellung „Über Proteintherapie“.
M. m. W. 1918, Nr. 22.
Meines Erachtens ist die „Protoplasma-Aktivierung“ auf den Vorgang der kumu¬
lativen Assimilation (vgl. Kap. 1) zurückzuführen.
Von Interesse sind die bei der Tätigkeit bzw. Ermüdung beobachteten anato¬
mischen Veränderungen der tätigen Zellen.
Die Tätigkeit wie die Ermüdung führt in den Nervenzellen zu feinen strukturellen
Veränderungen. Pugnat ließ Hunde auf der Truthahn bis zur Ermüdung und Erschöpfung
laufen. Er fand, und zwar lediglich an den oberflächlich gelegenen Zellen der Hirnrinde,
bei völliger Erschöpfung des Tieres Chromatolyse aller Grade bis zu völligem Fehlen
der chromatophilen Substanz sowie mangelhafte Färbbarkeit des Kernes und Dislokation
desselben an die Peripherie der Zelle. Guerrini beobachtete bei langdauemder Ermüdung
Verkleinerung der Nervenzellen, unregelmäßige Konturierung derselben, Chromatolyse,
Vakuolen, Zerstörung der achromatischen Substanz, Vergrößerung des perizellulären L\ r mph-
raums, Ansammlung von Leukozyten um die Zelle. Chiarini studierte die Veränderungen
in den Ganglienzellen der Netzhaut von Wirbeltieren bei Belichtung und Dunkelheit.
Licht erzeugt auch hier Chromatolyse, während sich in der Dunkelheit die chromatophile
Substanz wiederherstellt. Zahlreiche Versuche über den Einfluß der Tätigkeit, Ermüdung
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
197
Über die krankhafte Cbercmpfindlichkeit und ihre Behandlung.
und Rohe sind mittels elektrischer Reizungen ansgeführt worden, welche jedoch nicht als
wesensgleich mit den eigentlich funktionellen Reizen betrachtet werden können. Ihr Er¬
gebnis ist im allgemeinen gleichfalls dahingehend, daß während der Tätigkeit die chroma-
tophile Substanz, welche Marinesco als Kinetoplasma bezeichnet, verzehrt wird, nnd
zwar nicht bloß an den zerebralen, sondern auch an den spinalen Zellen.
Marinesco 1 ) faßt die Resultate dahin zusammen, daß die Strukturveränderung der
Nervenzellen während der Tätigkeit in einer Vergrößerung der Nervenzelle und ihres
Kerns bestehe, während die chromatophile Substanz sich vermindert und sich in der
amorphen Grnndsubstanz ansbreitet. Der Kern kann wandständig werden. Bei der Er¬
müdung bzw. Erschöpfung kommt es zu einer Volumverminderung der Zelle und des Kerns,
welcher deformiert werden kann. Die Menge der chromatophilen Substanz wird noch
mehr reduziert. Während der Ruhe stellt sich die chromatophile Substanz wieder her.
Diese Beobachtungen gestatten m. E. nicht, eine scharfe Grenze zwischen dem Befund
bei der Tätigkeit und bei der Ermüdung zu ziehen. Was hier als Ermüdung bezeich¬
net wird, ist nach der Art der angestellten Versuche vielmehr das Extrem einer solchen,
eine völlige Erschöpfung. In Wirklichkeit setzt die Ermüdung alsbald mit der Tätigkeit
ein nnd wächst mit derselben. Man kann daher die strukturellen Veränderungen, welche
sich bei der Tätigkeit finden, ebensowohl auf diese wie auf die Ermüdung oder auf
beide zugleich beziehen. Von grundsätzlicher Bedeutung ist nur, daß während der Tätigkeit
in sichtbarer Weise eine differenzierte Substanz der Nervenzelle zerfällt bzw. aufgezehrt
wird. Die Volumveränderungen der Zelle und des Kerns beruhen wahrscheinlich auf ver¬
änderten osmotischen Bedingungen^
Hierdurch wird die von Claude Bernard und weiterhin von Hering entwickelte
Vorstellung bestätigt, daß während der Funktion eines Organs ein Zerfall der Substanz,
während der Ruhe ein Wiederaufbau derselben stattfindet: Dissimilation und Assimilation,
eine Vorstellung, an welche auch die Verwornsche Forschung und Theorie anknüpft.
Das subjektive Gewalirwerden der Ermüdurfg beruht auf folgepden die Er¬
müdung begleitenden Geschehnissen: erstlich auf gewissen Ernmdungsempfindungen,
welche sich bis zum Schmerz steigern können; ferner auf einem bei stärkerer Er¬
müdung hervortretenden Gefühlston unlustiger Hemmung; endlich auf der urteils¬
mäßigen Wahrnehmung der nachlassenden Leistungsfähigkeit, welche sich in dem
Znrückbleiben des Effektes hinter dem vorgestellten Maß und Ziel ausspricht.
Daß der Ermüdungsschmerz nicht eine neu hinzutretende, sondern lediglich
eine quantitativ gesteigerte Ermüdungsempfindung ist, kann nicht zweifelhaft sein.
Diese Tatsache ist auch für die Theorie der Schmerzempfindung im allge¬
meinen von Bedeutung.
Die Ermüdungsempfindung, — welche nicht selten die Leistungsfähigkeit
stärker beeinträchtigt als es die Ermüdung selbst tut —, beruht, wie es scheint, nicht
auf einer Beizung sensibler Muskelnerven durch Stoffwechselprodukte, sondern
kommt mechanisch an den Nervenenden in den Muskeln und Sehnen zustande,
da sich Beziehungen zu der C0 2 - Abgabe nicht erweisen lassen' 2 ). Sie steigert
sich, wie gesagt, vom Schwerfühlen der Gliedmaßen, von der Empfindung der Ab-
geschlagenheit und Spannung bis zum Schmerz. Der nach anstrengenden oder
ungewohnten Bewegungen nachträglich auftretende „Turnschmerz“, welcher unter
Umständen einen geradezu entzündlichen Charakter annehmen kann, ist jeden¬
falls zum Teil immerhin auf die Einwirkung reizender Stoffwechselprodukte zu
beziehen, zum Teil dürfte er durch mechanische Bedingungen (Zerrungen, Dauer-
*) La Cellule nerveuse. 1909.
*) Frumerie. Skand. Arch. f. Physiol. Bd. 30.
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
198
Goldscheider
kontraktionen usw. der Muskulatur. Kompression von intramuskulären Nerven)
zu erklären sein. Die sekundär auftretenden Schmerzen in Gelenken, Bändern
und Sehnen sind offenbar gleichfalls durch mechanische Insultierung veranlaßt.
Bekanntlich kann nach übermäßigen muskulären Leistungen ein Allgemeinzustand
eintreten, welcher durch Temperaturerhöhung, allgemeine Abgeschlagenheit und
andere Störungen an Infektion erinnert, und als Autointoxikation durch reizende
Muskelstoffwechselprodukte zu deuten ist. Durch Übung der Bewegung und der
betreffenden Arbeitsleistung tritt bekanntlich nicht allein eine Steigerung der
motorischen Leistungsfähigkeit, sondern auch eine Milderung der primären Er¬
müdungsempfindung wie der geschilderten sekundären Empfindungen und Störungen
des Allgemeinbefindens auf, welche zum Teil darauf beruht, daß mit größerer
Ökonomie der Muskelkräfte und demgemäß mit relativ geringerem Stoffwechsel¬
umsatz und geringeren mechanischen Zerrungen und Drückungen gearbeitet wird,
zu einem anderen Teil aber auch auf eine wirkliche Anpassung der sensiblen
Nerven an die Reizungen bezogen werden muß (chemischmechanische Abhärtung,
s. Kap. I).
Außer diesen Reizerscheinungen treten nun bei angestrengter Muskteltätigkeit
noch andere Reizungen auf, deren Eigenart sicherlich auf eine andere Entstehungs¬
bedingung hinweist. Hierher gehört der Krampfzustand der in besonderem Maße
beteiligten bzw. irgendwie disponierten Muskeln, welcher sich in einer Steifigkeit
(Kontraktionsrückstand) und schließlich tonischen und klonischen Krämpfen äußert.
So treten nach Anstrengungen der Arm- und Handmuskeln eine Klammbeit und
Ungeschicklichkeit derselben, ^Zittern, spontane Zuckungen besonders der kleinen
Handmuskiflatur auf. Angestrengtes Schwimmen kann zu Wadenkrämpfen führen.
Bei neuropathischen Individuen arten diese Reizerscheinungen zu sogenannten Be¬
schäftigungskrämpfen aus. Auch der in der Physiologie als „Kontraktur“ bezeichnete
Kontraktionsrückstand ist wahrscheinlich als Reizsymptom anzusehen. Diese bei
ermüdenden Reizen des Muskels sowohl im Tierexperiment wie beim Menschen
zu beobachtende Erscheinung, welche in einer die Reizung überdauernden Kon¬
traktion bzw. mangelhaften Erschlaffung besteht, wurde zuerst von Kronecker,
dann von Tiegel, Mosso u. a. studiert. Mosso 1 ) hebt auf Grund seiner Unter¬
suchungen am Menschen hervor, daß die Kontraktur bei reizbaren Personen bedeutend
stärker ausfällt als bei weniger reizbaren. Sie erscheint nur bei exzessiven An¬
strengungen. Nach Richet fehlt sie bei lange Zeit gefangen gehaltenen und daher
wenig reizbaren Krebsen. Mosso sagt: „Die Kontraktur ist eine Reizerscheinung,
welche der Verlängerung des Muskels bei der Ermüdung entgegen wirkt und diese
überkompensieren kann. Sie ist ein Regulierungsmittel der Natur und hilft die
Kontraktion bei den größten Anstrengungen zu verstärken.“ Weiß*) betrachtet
sie als eine Folge der Schädigung des Muskels.
Bei akutem Sauerstoffmangel kommt es zu Krämpfen (vgl. I. Kap.). In
verdünnter Luft, z. B. im pneumatischen Kabinett kann Frostschauern und Zittern
auftreten. Mosso beobachtete bei periodischer Atmung im Hochgebirge, daß
während der tiefsten Einatmung Zuckungen der Extremitäten eintraten, was Zuntz
darauf bezieht, daß während dieser Phase die größte Menge erregender Stoffe im
') Gesetze der Ermüdung. Arch. f. Anat. und Physiol. Physiol. Abt. 1890. S. 89.
3 ) Lehrbuch der Physiol. des Menschen. Von Zuntz und Loewy.
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Über die krankhafte Überempfindlichkeit und ihre Behandlung.
199
Blute zirkulierte. Dieser Forscher, welchem ich die letztmitgeteilten Angaben
entnehme l ), führt somit gewisse Reizsymptome auf die bei Muskelarbeit entstehenden
chemischen Stoffe zurück. Er sagt über dieselben: „Ob die bei Muskelarbeit und
die bei Ruhe und Sauerstoffmangel gebildeten Reizstoffe identisch sind, läßt sich
nicht entscheiden; es ist aber wahrscheinlich, denn im tätigen Muskel wird
ja stets infolge des großen Verbrauchs ein gewisser Mangel an Sauerstoff be¬
stehen“ (1. c. S. 434).
Nach starken Anstrengungen der Beine können die Kniesehnenreflexe erhöht
sein. Auerbach fand bei Radrennfahrern nach den Rennfahrten die Sehnenreflexe
zu einem Teile fast erloschen, bei einigen aber ungewöhnlich gesteigert. Ähnliches
sahen Knapp und Thomas nach einem Wettmarsch, Oikonomakis bei Wettläufern
nach Ausführung des Marathon-Marsches; Edinger bestätigt dies bei einem wohl
trainierten Wettgeher 2 ). Mein früherer Assistent Karl Krön er 3 ) hat gefunden,
daß aktive Bewegungen imstande sind, einen sonst nicht auslösbaren Patellar-
reflex deutlich zu machen und bewiesen, daß dieser Erfolg nur auf eine bahnende
Erregbarkeitserhöhung der motorischen Leitungsbahn bezogen werden kann. Hier¬
auf beruht auch die bekannte Erhöhung der Patellarreflexe nach mäßig ermüdenden
Bewegungen.
Die genannten Reizerscheinungen treten unter Bedingungen auf, welche
auch zu dem als „Übermüdung“ bezeichneten Zustande führen, welcher bekannt¬
lich mit gewissen Erregungen verbunden zu sein pflegt. Die Übermüdung ist
stets gleichzeitig eine Überreizung; freilich können die Reizungsfolgen durch
die lähmende Wirkung der Erschöpfung mehr oder weniger verdeckt sein.
Übermüdung kann zum Tode führen. Verworn weist auf das klassische
Beispiel des Läufers von Marathon hin. Bei Tieren ist der Ermüdungstod
experimentell festgestellt. Nach Weichardt verläuft derselbe wie eine langsam
wirkende Narkose. Das Tier „verendet ohne jedwede Schmerzensäußerüng, ohne
Krampf, ganz ähnlich, wie wenn es mit narkotischen Mitteln mehr und mehr
schwer betäubt worden wäre“.
Körperliche Übermüdung vermag die erquickende Ruhe, welche der Ermüdung
folgt, in Unruhe, den wohltuenden Schlaf in Schlaflosigkeit zu verwandeln.
Unwillkürliche Zuckungen einzelner Muskeln oder des ganzen Körpers stören den
Ruhebedürftigen aus seiner Erschlaffung auf. Von lästigen, unter Umständen
schmerzhaften Ermüdungsempfindungen in den Gliedmaßen gepeinigt wirft sich
der Ermüdete umher, ohne Ruhe zu finden. Lange anhaltendes Herzklopfen,
beklemmender Druck auf der Brust, beschleunigte Atmung, Sinnestäuschungen,
Phantasmen (z. B. Hören von Knall und Dröhnen), plötzliches Zusammenfahren
bezeichnen den übererregten Zustand der Nerven.
Auch bei geistiger Übermüdung kann eine gesteigerte Reizbarkeit hervor¬
treten, während diese sonst bei Ermüdung herabgesetzt ist. Sie äußert sich in
gereiztem Wesen, labiler Stimmung. Nebenher besteht eine der Ermüdung ent¬
sprechende Abstumpfung der Aufmerksamkeit, des Vorstellungs-, Reproduktions-
nnd Urteilsvermögens. Meumann fand als Ausdruck erhöhter Reizbarkeit eine
') Höhenklima und Bergwanderungen usw. 1906.
-' Edinger 1. c.
3) Neurol. Z.-BI. 1907. Nr. 15.
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSETY OF MICHIGAN
200
Goldscheider
Steigerung der Reflexe, z. B. starkes Zusammenfahren auf starken Knall (vgl.
Lobsien 1. c. S. 126).
Von sensiblen Reizerscheinungen bei Übermüdung ist anzuführen das verstärkte
Auftreten optischer Nachbilder und das Vorkommen von Parästhesien in der Haut.
Mo88 0 beschäftigt sich in seinem Bache über die Ermüdung auch mit der Erfahrung,
daß durch dieselbe die Empfindlichkeit gesteigert werden kann. Er führt an, daß wir
nach größeren körperlichen Anstrengungen reizbarer werden und daß geistige Anstrengung
aufregend wirken könne. Insbesondere betont er die Reizbarkeit der Stimmung und ist
geneigt, dieselbe anf ein durch die Ermüdung bedingtes Unvermögen, sich zu beherrschen,
zurückzuführen. Bei Versuchen über den Einfluß intellektueller Ermüdung auf die Muskel¬
kraft ergab sich das interessante Resultat, das die letztere zunächst eine Steigerung
erfuhr. „In dem M.aße als sich die Energie des Gehirns verbraucht und der Organismus
schwach wird, nimmt die Erregbarkeit des Nervensystems zu. Hierin offenbart sich eine
automatische Einrichtung, womit die Natur für eine wirksamere Verteidigung des Orga¬
nismus sorgt, sobald dieser anfängt schwächer zu werden. Bei dem Tiere tritt eine Zu¬
nahme in der Sinnesschärfe und Erregbarkeit des Nervensystems ein, wenn es durch
Hunger und Ermüdung weniger tauglich zum Kämpfen wird.“ Mosso erzählt ferner
einige Beispiele aus dem Leben geistig überbürdeter Männer, welche dartun, wie die
Übermüdung zu Symptomen von Erregtheit führt, wie: quälender Kopfschmerz, Schlaf¬
losigkeit, unruhiger Schlaf, nervöser Reizbarkeit, Herzklopfen, Zittern u. a. m. Daß oft
schon bis in die Nacht fortgesetzte geistige Anstrengung genügt, um Schlaflosigkeit zu
erzeugen, ist bekannt.
Die sogenannte Übermüdung kennzeichnet sich somit durch eine Mischung
von Symptomen der Ermüdung d. h. der herabgesetzten Leistungsfähigkeit mit
solchen der Reizung bzw. erhöhten Reizbarkeit; ihre Erscheinungen ähneln
denen der Neurasthenie: reizbare Schwäche. Der Übergang von Ermüdung in
Übermüdung ist nicht allein an die Höhe der Arbeitsleistung geknüpft, sondern
auch von der individuellen Konstitution abhängig, von der Nervenerregbarkeit
und der Leistungsfähigkeit (s. unten). Kraus (1. c.) hat in der Ermüdbarkeit
einen Ausdruck der Konstitution gefunden. Die Minderwertigkeit der Konstitution
spricht sich in einer gesteigerten Ermüdbarkeit und demgemäß auch in dem
leichteren Auftreten der Erscheinungen der Übermüdung aus.
Auch bei demselben Individuum-wechselt nach jeweiliger Disposition, Aus¬
ruhe, vorhergegangenen Anstrengungen und Erregungen, Ernährung, vorüber¬
gehenden Erkrankungszuständen u. a. m. die Grenze zwischen Ermüdung und
Übermüdung. Bestehen besondere latente Hyperästhesien (s. später), so können
solche schon bei geringer Ermüdung manifest werden.
Der Übergang von Ermüdung in Übermüdung vollzieht sich sehr allmählich,
so daß nicht sofort der ganze Symptomkomplex der letzteren in Erscheinung
tritt, sondern zunächst das eine und andere Reizungssymptom sich hinzugesellt.
Dabei ist es keineswegs notwendig, daß der Tätige sich dieser Zeichen während
der Arbeitsausführung bewußt wird; vielmehr kommt es häufig vor, daß sowohl
die eigentliche Ermüdung d. h.. die Abnahme der Leistungsfähigkeit wie die
Reizungssymptome von dem willensmäßig oder gezwungen Angestrengten nicht
bemerkt oder auch objektiv durch die starke Tätigkeit verdeckt wurden
und erst nach Beendigung derselben subjektiv und objektiv in Erscheinung treten.
Ganz ähnliche Empfindungen der Abgeschlagenheit, Spannung, bis zum
schmerzhaften gesteigert, treten nun auch auf, wenn bei mäßiger und alltäglicher
Digitized by
Google
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Über die krankhafte Überempfindlichkeit und ihre Behandlung.
201
Muskeltätigkeit die gewohnte Ausruhe durch ungenügenden oder ganz mangelnden
Schlaf fehlt. Bücken- und Brustschmerzen, allgemeines Gefühl der Abgeschlagen-
heit, verbunden mit Herabsetzung' der motorischen Leistungsfähigkeit, gesteigert
durch selbst geringfügige Muskeltätigkeit, ganz wie nach starker ermüdender bzw.
übermüdender Muskelanstrengung. Daneben kommt psychische Reizbarkeit und ein
negativer Gefühlston vor. Besonders auffällig sind die beklemmenden Brust¬
schmerzen, welche sowohl bei vorübergehender starker Ermüdung wie bei dem
später zu schildernden krankhaften chronischen Ermüdungszustand hervortreten;
sie sind auf die beständig tätige Atmungsmuskulatur zu beziehen. Der Rücken¬
schmerz, dnrch die Tätigkeit der ermüdeten Rückenmuskulatur bei der aufrechten
Körperhaltung bedingt, verschwindet beim Liegen. Schon das Ersteigen einer
Treppe erzeugt Ermüdungsschmerzen in den Beinen. Diese Reizerscheinungen
kontrastieren mit der allgemeinen Apathie, Schläfrigkeit, Verlangsamung körper¬
licher und geistiger Verrichtungen, Kraftlosigkeit der Bewegungen und der Stimme.
Ganz ähnlich diesem durch fehlenden Schlaf erzeugten Zustande ist derjenige bei Unter¬
ernährung, nach Magen- und Darmkatarrh, bei Rekonvaleszenten usw. vorhandene
reizbare Schwächezustand. Dies kann nicht allein auf ungenügend ausgeschiedene
Ermüdungsstoffe, sondern muß auf unzureichenden Ersatz verbrauchter Substanz
und daraus folgende gesteigerte Reizwirkung bezogen werden.
Das Bild der nervösen Erschöpfung und Überreizung ist im Kriege vielfach
beobachtet worden: Versagen der Nerven- und Gehirnfunktionen mit Reizungs¬
symptomen, bestehend in Muskelzuckungen bzw. Muskelkrämpfen, Steigerung der
Reflexe, Schmerzen, Schreckhaftigkeit, ängstlichen und lebhaften Träumen, Erregtheit,
Steigerung der emotionellen Reizbarkeit und der Reizbarkeit der Vasomotoren.
Falsch (d. h. mit ungenügendem Training) betriebener oder übertriebener
Sport kann zur Übermüdung mit mannigfachen Reizerscheinungen, z. B. von seiten
des Herzens oder des Nervensystems führen. Die gleiche Folge kann eintreten,
wenn der Körper im. ganzen oder einzelne Organe den an sich nicht übertriebenen
sportlichen Anforderungen nicht gewachsen sind.
Bezüglich der Erklärung der Reizsymptome wird man in erster Linie an
Reizstoffe zn denken haben, welche sich bei der Muskeltätigkeit bilden. Es ist
bekannt, daß dieselben eine erregende Wirkung auf Atmung und Herz, Muskeln
and Nerven ansüben. In welchen Beziehungen diese Stoffe zu den Ermüdungs-
Stoffen stehen ist ungeklärt. Zuntz nimmt Beziehungen an. Verworn weist
darauf hin, daß narkotische Stoffe in geringerer Dosierung vielfach reizend
wirken 1 ). Gegen Identität spricht immerhin, daß die Reizwirkung nicht einer
vorübergehenden Phase der Ermüdung entspricht, sondern sich gerade bei Über¬
müdung in gesteigertem Maße vorfindet. Sind die Reizstoffe anders als die Er¬
müdungsstoffe so müßte man, um die Erscheinungen zu erklären, die weitere
Annahme machen, daß ihre Produktion bei weit getriebener Ermüdung über die¬
jenige der Ermüdungsstoffe das Übergewicht erlangt. Gegen die Reizstofftheorie
spricht jedoch, daß die Injektion der durch die Ermüdung erzeugten giftigen
Produkte, selbst wenn dieselbe den höchsten Grad erreicht hat,' lediglich narkoti¬
sierende und lähmende Wirkungen zu erzeugen scheint.
l ) Vgl. auch Befche, Allg. Anat. u. Physiol. der Nerven.
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
202
Goldscheider
Weichardt hat freilich nachgewiesen, daß bei der Muskeltätigkeit zunächst Reiz¬
stoffe entstehen, welche zu der oben besprochenen Protoplasma-Aktivierung und demgemäß
zu erhöhter Leistungsfähigkeit führen. Diese Reizstoffe wirken aber eben nicht unmittel¬
bar auf die Muskeln ein, sondern auf dem Wege einer erhöhten zellulären Leistung, die
auf einer Aktivierung der zellulären Vorgänge beruht. Ich habe bereits oben bemerkt,
daß dieser Vorgang wahrscheinlich auf die kumulative Assimilation zurSckzuführen ist,
und so sehe ich gerade in den Weichardtschen Beobachtungen eine Stütze meiner An¬
schauung. Größere Dosen „reiner“ Ermüdungsstoflfe wirken narkotisierend und lähmend.
Nun entstehen nach Weichardt bei der Eiweißaufspaltung freilich auch neben den höher
molekularen reinen viele niedermolekulare Substanzen, welche krampferregend wirken.
Aber es erscheint mir bedenklich, die Übermüdungserscheinungen, welche in ganz ent¬
sprechender Weise bei jeder Überreizung nachzuweisen sind, auf solche sozusagen un¬
reinen Abfallstoffe zurückzufdhren.
Bezüglich der Muskelkrämpfe bei Übermüdung ist zu bedenken, daß eine
gewisse neuropathische Disposition eine große Rolle spielt. Die oft lange Dauer
der lokalisierten Reizerscheinungen (z. B. des Herzklopfens) spricht gleichfalls
gegen die ausschließliche Wirkung von chemischen zirkulierenden Reizstoffen,
welche doch bald aus dem übermüdeten Organ ausgeschieden werden müßten. Das
gleiche Bedenken ist aus dem Umstande, zu folgern, daß die Reizerscheinungen
bei einer auf bestimmte Muskelgruppen beschränkten Überanstrengung streng
lokalisiert an diesen haften. Ferner, daß ganz entsprechende Reizphänomene bei
übermäßiger sensibler Reizung auftreten. Die Erhöhung der Sehnenreflexe nach
Überanstrengung stellt sich offenbar als eine Steigerung der physiologischen
Bahnung der motorischen Leitungsbahn durch die Funktion dar (vgl. die Beob¬
achtung von Krön er). Andrerseits ist daran zu denken, daß bei der Entstehung
der motorischen Reizerscheinungen die reflektorische Übertragung einer sensiblen
Hyperästhesie mitwirken kann.
Eine etwa überschießende Antitoxinbildung (Weichardt) kann nicht die Ursache
der Reizerscheinnngen sein, da in diesem Falle die Ermüdung gemildert sein müßte, was
bei der Übermüdung wohl für' das subjektive Müdigkeitsgefühl zutrifft (übrigens auch nicht
regelmäßig), aber nicht für die objektive Abnahme der Leistungsfähigkeit.
Eiuen Sauerstoffmangel kann man wenigstens als ausschließliche Ursache nicht an¬
führen, w’eil der Reizzustand denselben bedeutend überdauert. (Über giftige Substanzen bei
Sauerstoffmangel vgl/Loeb: Vorlesungen über Dynamik usw. 1906.)
Es käme dann noch die Möglichkeit in Betracht, daß bei fortschreitender Ermüdung
korrelative Hilfsapparate herangezogen werden, und daß sie es sind, an welchen die Reiz¬
erscheinungen sich abspielen. Aber gerade das am meisten ermüdete Organ zeigt die
letzteren am stärksten. Auch kommt für die Tätigkeit der Sinnesorgane und für die
psychische Tätigkeit eine solche Unterstützung kaum in Betracht.
Die Reizerscheinungen knüpfen vielmehr an die funktionellen Reize und
die durch sie bedingte Erregbarkeitssteigerung an (vgl. I. Kap. Wirkung
der Reize.)
Es wurde gezeigt, daß die Reize eine erregbarkeitssteigernde Wirkung
haben, welche sich summiert. Dieselbe wurde auf den Vorgang kumulativer
Assimilation zurückgeführt. Es wurde ferner nachgewiesen, daß die Steigerung
der Reizbarkeit einen besonders hohen Grad annimmt, wenn ein funktions¬
schwaches Organ starken funktionellen Reizen ausgesetzt wird oder wenn letztere
unter Bedingungen einwirken, wo bereits eine gesteigerte Dissimilation besteht.
Diese Beziehungen haben für die Übermüdung Geltung.
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
über die krankhafte Überempfindlichkeit und ihre Behandlung.
203
Die Ermüdung ist die Folge der Heizung. Mit der Stärke und Dauer der
Reize wächst die Ermüdung, welche jene wie ihr Schatten begleitet. Aber die
Wirkungen- der Reize sind gegensätzlich. Während die Reize erregen und die
Erregbarkeit erhöhen, bewirkt die Ermüdung eine Verminderung der Reizbarkeit.
Es treten somit bei jeder anstrengenden Tätigkeit zwei miteinander kämpfende
Reihen von Erscheinungen auf, von welchen die eine sich auf die Folgen der
Reizung, die andere auf die Folgen der Ermüdung bezieht. Wir erkennen diese
Gegensätzlichkeit in dem Kampf, welchen der Wille zur Fortsetzung der Tätig¬
keit mit der hereinbrechenden Ermüdung führt, in der Hemmung, welche die
arbeitende Muskulatur durch die zunehmende Kraftlosigkeit erfährt. Die Er¬
regungen klingen auch in der Ruhe nach. Wie oft kämpft der Einschlafende
mit n&chhaltenden Erregungen nach angestrengter geistiger Arbeit, nach auf¬
regenden Erlebnissen, nach körperlicher Üermüduug; wie wird er durch solche
aus der bereits ihn umfangenden erquickenden Narkose des Schlafes anf-
gepeitscht.
Die Ruhe bzw. der Schlaf setzt der Einwirkung der Reize ein Ziel. Dieser
Effekt wird durch die narkotisierende Wirkung der Ermüdungsstoffe verstärkt:
zum Mangel der äußeren Reize gesellt sich die Herabsetzung der Reizbarkeit.
Man kann auch umgekehrt sagen: die durch die chemische Wirkung der Er¬
müdungsstoffe erzwungene Herabsetzung der Erregbarkeit stellt mittelbar Be¬
dingungen her, bei welchen naturgemäß die Gelegenheit zu äußeren Reizungen
ausgeschaltet oder stark reduziert wird, weil sie zur Unterbrechung der Tätigkeit
und körperlichen Abgeschlossenheit führt. Während der Ruhe bzw. während des
Schlafes klingen somit die Folgezustände der Reizungen ab. Ist die Ruhe von
zu kurzer Dauer, so verschwinden die von den Reizen zurückgelassenen Erreg¬
barkeitserhöhungen nicht vollständig, und es sind daher außer der unvollkommen
hergestellten Leistungsfähigkeit, außer der Unfrische noch Reizzustände vor¬
handen, wie sie sich bei angestrengter Tätigkeit oder starker Beanspruchung
der Empfindungsnerven einstellen. Auch die Ruhe läßt daher zwei während der¬
selben sich abspielende Vorgänge erkennen: das Verschwinden der Ermüdung und
das Verschwinden der Reizungsrückstände.
Je mehr letztere zurücktreten, desto tiefer ist die Ruhe und desto voll¬
ständiger schwindet die Ermüdung. Die Produkte der kumulativen Assimilation,
die übermäßig labilen Atomgruppen, müssen durch den Stoffwechsel abgebaut
werden, der „Reizzustand“ muß verschwinden. Die erschöpften Reservedepots
müssen aufgefüllt, die abnorm aufgespaltene Substanz durch ausgiebige Assimi¬
lation wieder restituiert werden.
Der Wiederaufbau vollzieht sich beständig auch bei der Tätigkeit während
der refraktären Perioden. Aber bei länger dauernder funktioneller Beanspruchung
hinkt er wahrscheinlich mehr und mehr nach. Der vollständige Ersatz erfolgt
dann erst während der Ruhe. Mann fand im Sehorgan bei Dunkeladaptation
eine Speicherung der chromatischen Substanz, welche während der Belichtung
verbraucht war. In demselben Sinne sprechen die oben mitgeteilten Veränderungen
in den Nervenzellen bei der Tätigkeit. Immerhin wird auch bei stärkster funktio¬
neller Beanspruchung die Assimilation kaum je vollständig erschöpft; eher tritt
ein absoluter Sauerstoffmangel (Erstickung) als ein solcher der übrigen zum Wieder-
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
204
Goldscheider
auf bau nötigen Stoffe ein. Jedoch bedarf es nach langer Tätigkeit auch einer
langen Ruhe, um den Wiederaufbau in vollständiger Weise herbeizuführen 1 ).
Unter normalen Verhältnissen vollzieht sich die funktionelle Beanspruchung
mit gewissen Unterbrechungen. Der Arbeitende macht des öfteren Pausen in der
Tätigkeit. Dadurch wird einerseits einer zu starken Ermüdung, andererseits
einem zu starken Anwachsen der Reizbarkeit vorgebeugt.
Die regulatorische Bedeutung der Ermüdung liegt auf der Hand. Wir
werden müde, damit wir nicht übermüdet werden — teleologisch gedacht. Die
Abnahme der Erregbarkeit bei der Ermüdung hat für die Funktion und die ihr
entsprechende Dissimilation denselben Effekt, als ob die Reize schwächer werden.
Das Gewahrwerden der Ermüdung hat die Einlegung von Ruhepausen zur Folge.
Die Rhythmik von Tätigkeit und Erholung beherrscht alle physischen und psy¬
chischen Lebensvorgänge. Selbst das Spiel der Assoziationen wird durch die Er¬
müdung mit beeinflußt; oft hintereinander erregte Hirnrindengebiete (Assoziations¬
komplexe) ziehen durch den Verlust an Reizbarkeit, welchen sie bei der Ermüdung
erleiden, die Aufmerksamkeit weniger an, welche sich folglich anderen Eindrücken
zuwendet 2 ).
Der Umstand, daß gerade die der Erschöpfung sich nähernde Betäti¬
gung und Beanspruchung die Reizwirkung am meisten hervortreten
läßt, ist bemerkenswert Beim normalen, naturgemäßen Betriebe beugt der Orga¬
nismus der übertriebenen Beanspruchung dadurch vor, daß die sich bildenden Er¬
müdungsstoffe die Reizbarkeit herabsetzen und daß die funktionierende reizbare
Substanz, von welcher in den Nervenzellen ein gewisser Vorrat angehäuft ist,
durch die Tätigkeit abnimmt. Wird diese wohltätige, „dauerfördernde“ Regulierung
durchbrochen, indem durch übermäßige Reizungen die Tätigkeit der Zellen aufge¬
peitscht wird, so tritt neben zunehmender Ermüdung eine wachsende Erregbarkeit auf,
welche sich irradiierend über weitere Gebiete des Nervensystems verbreitet und auch
die psychischen Vorgänge beteiligt. Wie die Erschöpf ung bei örtlicher Oberleistung den
Gesamtorganismus als einheitliche Kraftmaschine beteiligt (vgl. Kraus, 1. c. S. 5), so
muß auch die Überreizung ihre Wellen über das betroffene Gebiet hinaus werfen. Man
wird dieses Geschehen, wenn man die Anschauung festhält, daß die Tätigkeit
dissimiliert und daß die reaktive Assimilation die Bedingungen der erhöhten
Reizbarkeit schafft, (s. oben) darauf beziehen müssen, daß die verminderte und
bereits zum Teil zersetzte und ungenügend wiederaufgebaute Substanz von den
Reizungen relativ stärker getroffen, stärker dissimiliert wird und daß daher auch
der assimilatorische Aufbau erzwungenermaßen ein intensiverer sein muß (s. I. Kap.).
Wäre er das nicht oder hört er auf, es zu sein, 60 wird es alsbald zur Erschöpfung
und Reizlosigkeit kommen. Bekanntlich geht die Funktion ermüdeter Organe
mit erhöhter Schädigung derselben einher; jede Schädigung löst aber die reparato-
*) Daß selbst bei stärkster funktioneller Inanspruchnahme noch Reservematerial vorhanden
ist, geht aus der Mossosehen Beobachtung hervor, daß, wenn der Muskel durch elektrische
Reizung erschöpft ist, der Wille doch noch Kontraktionen auslösen und Arbeit verrichten kann
und umgekehrt.
*) Vgl. die Ausführungen von Graßberger Uber die Umstimmung der Empfindungszentren
durch Ermüdung und seine geistvollen Folgerungen für die Kunst, Pädagogik usw. (Der
Einfluß der Ermüdung auf die Produktion in Kunst und Wissenschaft 1912).
"v
Digitized by
Google
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Über die krankhafte Überempfindlichkeit und ihre Behandlung.
205
rischen Kräfte in entsprechendem Maße aus, so lange überhaupt noch eine Reparation
zustande kommt. Die über das physiologische Maß angespannte Regenerations¬
tätigkeit der Zelle wird auch einen abnorm gesteigerten Reizzustand der gesamten
Zelle herbeiführen müssen, so daß eine gewisse Ähnlichkeit des Vorganges mit
dem durch pathologisch wirkende Reize ausgelösten Entzündungsvorgang besteht
(„defensive Regulation“ Aschoffs). Man kann sich somit die gesteigerte Reiz¬
barkeit sowohl an das durch überspannte Assimilationsarbeit gebildete Ersatz¬
material reizbarer Substanz wie an einen gesteigerten Reizzustand der gesamten
Zelle gebunden denken.
Der gleichen Erklärung ist die Erfahrung zugänglich, daß auch bei durch
Blutverluste, chronische Anämie oder Unterernährung geschwächtem Organismus
die Steigerung der Reizbarkeit hervortritt, was auch Mos so hervorhebt (vgl. I. Kap.).
Man kann endlich, wie es auch Mosso andeutet, in diesem auf den ersten Blick
sehr unzweckmäßig erscheinenden Vorgang din Regulationsmittel des Organismus
erblicken, welcher, nachdem die auf den gewöhnlichen Betrieb eingestellte Regu¬
lierung durchbrochen ist, der gesteigerten Beanspruchung dadurch nachzukommen
sucht, daß er, um den zunehmenden Ermüdnngswirkungen entgegen zu treten, die
Erregbarkeit abnorm erhöht, wenn auch auf Kosten der funktionierendenZellen selbst.
Im übrigen stellt diese abnorme Erhöhung der Reizbarkeit nur einen be¬
sonderen Fall desjenigen Vorganges dar, welcher bereits bei den in physiologischen
Grenzen sich haltenden Reizen ersichtlich ist, daß nämlich die Erregbarkeit durch
sie, trotz der ermüdenden Wirkung, welche von vornherein jedem Reiz innewohnt,
gesteigert wird. Die Übung, die Bahnung entsprechen dieser Wirkung wieder¬
holter Reize. Sie treten um so mehr hervor, je mehr durch rationelle Erholungs¬
pausen die Ermüdnng zurückgedämmt wird.
Ermüd ungs- und Reizwirkungen gehen nebeneinander her. Manches, was
gemeinhin Ermüdung oder Übermüdung genannt wird, ist in Wirklichkeit Über¬
empfindlichkeit durch Reizwirkung. Beispiele von Übererregbarkeit
durch übermäßige Reizung lassen sich in großer Zahl anführen.
Angestrengte akkommodative Tätigkeit der Augen kann schmerzhaften
Akkommodationskrampf, Lidzucken, Lidkrampf, Gesichtszucken, Kopfschmerz nach
sich ziehen. Sexuelle (körperliche oder psychische) Überreizung führt zu sexueller
Hyperästhesie mit ihren verschiedenen lokalen und verbreiteten Folgeerscheinungen,
zu Kreuz-und Rückenschmerz, zu Parästhesien, welche in die Beine ausstrahlen 1 ).
Cbermäßig langes Anhalten des Urins trotz bestehenden Dranges kann eine erhöhte
Reizbarkeit der Blase erzeugen, so daß nunmehr der Harndrang in den nächstfolgenden
Stunden sich abnorm häufig und intensiv schon bei geringer Blasenfüllung meldet.
Die im Kriege so oft beobachtete Pollakiurie beruht auf einer hauptsächlich durch
Einwirkung von Kälte und Nässe bedingten Übererregbarkeit der Blase, vielleicht
auch der Nierensekretion. Bei den Betroffenen meldet sich der Harndrang sehr
häufig und dann mit einer außerordentlichen Heftigkeit und Plötzlichkeit; bei
*) Die früher übliche Erklärung durch Hyperämie oder Anämie des Rückenmarks kann
ernstlich nicht in Frage kommen. Schon in dem Buche von Löwenfeld: Sexualleben und
Nervenleiden findet sich der Hinweis, daß ganz ähnliche Erscheinungen wie nach sexuellen
Exzessen in den Beinen sich nach Überanstrengung der Arme durch Schreiben, Zeichnen,
Yiolin- und Klavierspiel) feinere Handarbeiten an den Armen vorfinden.
Digitized by
Gck igle
Original fro-rn
UNIVERSITY OF MICHIGAN
206
Goldscheider
ruhigem Verhalten in warmer Umgebung mildert sich das Leiden; Kältereize,
namentlich nasse Kälte ruft die Überempfindlichkeit sofort wieder hervor. Auch
sonst kommt (durch Prostata-Hypertrophie, Urat-Diathese, auf nervöser Basis usw.)
erhöhte Blasenreizbarkeit vor, welche in gleicher Art eine erhöhte Reaktion auf
Kältereize zeigt; selbst psychische Erregungen vermögen beim Vorhandensein dieser
Überempfindlichkeit heftigen plötzlichen Drang auszulösen. Wird demselben nicht
nachgegeben, so steigert sich die Übererregbarkeit und kann zu stoßweiser
spontaner Entleerung des Harns, meist nur geringer Mengen desselben, führen.
Die Vermehrung der Harnmenge, welche man zuweilen bei Prostata-Hypertrophie
antrifft, beruht wahrscheinlich auf einer Reiz-Irradiation auf die Niere.
Durch körperliche Überanstrengung oder nervöse bzw. psychische Überreizung
können Herzneurosen entstehen, welche sich durch eine Steigerung der Puls¬
frequenz, Labilität derselben, Schmerzen in der Herzgegend, Beklemmungsgefühl
u. a. m. kenntlich machen. Diese Fälle, welche bekanntlich auch im Felde be¬
obachtet worden sind, betreffen zum großen Teil konstitutionell minderwertige
Herzen oder Neuropathen (Vasomotoriker), aber nicht ausschließlich. Es handelt
sich auch hier um eine auf Überreizung zurückzuführende Überempfindlichkeit des
Herzens. Daß ungewohnte Anstrengungen, wie z. B. Bergsteigen, Sport, lange an¬
haltendes, auch bei der nächtlichen Ruhe zunächst nicht verschwindendes Herzklopfen
hinterlassen können, ist bekannt. Den gleichen Effekt vermögen große psychische
Erregungen auszulösen. Hierher gehört auch das Bild der Phrenocardie (Herz)
durch sexuelle Übererregbarkeit.
Auf die Reizerscheinungen im motorischen Gebiet ist oben bereits hinge¬
wiesen worden.
Eine Steigerung der Reizbarkeit durch gehäufte funktionelle Reizung findet
sich vielfach bei den Sekretionen. So erzeugt der gewohnheitsmäßige Genuß
scharfer Speisen dauernde Superazidität des Magensaftes; häufig einwirkende
Reizung der Tränensekretion schafft eine erhöhte Bereitschaft zum Tränenvergießen.
Oft ausgeführter Koitus steigert die Samenbereitung und die Libido, welche bei
seltener oder lange ruhender Geschlechtstätigkeit sich verringert. Wiederholt er¬
zeugte Schweißsekretion kann für einige Zeit eine verstärkte Neigung zum Schwitzen
hinterlassen 1 ).
Auch im Gebiet des Affekts und der Affekt-Ausdrucksbewegungen
finden wir eine analoge Erscheinung. Das Lachen steckt an. Ist eine Gesellschaft
durch lustige Einwirkungen auf Lachen gestimmt, so sinkt der Schwellenwert des
Lachreizes tief unter den „normalen“ Wert. Ähnliches gilt von der Reizung zu
rührseligen Affekten.
Bei allen diesen „bahnenden“ Reizfolgen handelt es sich nicht allein um
Erregungen, sondern um Zustände erhöhter Erregbarkeit, teils manifester
teils latenter Art. So auch bei den oben geschilderten Veränderungen des Allge¬
meinzustandes nach körperlicher oder geistiger Überanstrengung. Wir finden all¬
gemeine Erregtheit, Schlaflosigkeit, Parästhesien, Schmerlen, mannigfache abnorme
Gefühle wie Schwindel, Beklemmung, Angst usw., Schweißausbrüche, Zittern;
daneben eine Vertiefung der Reizschwellen und Erhöhung der Reaktionen: selbst
') Diese und andere Erscheinungen ähnlicher Art stellen wiederum nur eine gesteigerte Aus¬
prägung der physiologischen Übungsfähigkeit dar, welche auch dievegetativen Funktionen betrifft
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Über die krankhafte Überempfindlichkeit und ihre Behandlung.
207
geringe Geräusche bewirken heftiges Zusammenfahren und werden oft als uner¬
träglich empfunden; alle Sinneseindrücke können von einem unlustigen Gefühls¬
ton begleitet sein. Die Psychoreflexe sind erhöht. Die Stimmung ist von er¬
höhter Reizbarkeit; geringe Anlässe lösen Wutausbrüche, Tränenfluten, schmerz¬
liche Verstimmung, abnorm gesteigerte Rührung aus; die körperlichen Reflexe sind
erhöht; unbedeutende körperliche oder geistige Beanspruchung kann zum Auftreten
von Neuralgien, Migräne, schmerzhafter Abgeschlagenheit führen. Kurz es besteht
ein Zustand, wie wir ihn von der aus erhöhter Reizbarkeit und Erschöpfbarkeit
gemischten „reizbaren Schwäche“ (Neurasthenie) kennen. Im zentripetalen
System treten mehr die Reizerscheinungen hervor, im zentrifugalen die Erschöpfung,
weil dasselbe Arbeit verrichtet.
Wie eine Häufung von Reizen, so kann auch ein einmaliger übermäßig
starker Reiz z. B. eine einmalige akute Überanstrengung, eine plötzliche seelische
Erschütterung Überempfindlichkeit erzeugen. Hierher gehört auch die traumatische
Hyperästhesie, auf welche ich im III. Kap. zurückkommen werde.
Wie oben ausgeführt, treten die Reizerscheinungen auf, wenn die Regulation
durch die Ermüdung gestört ist. Letztere ist von einer Abstumpfung der Reiz¬
barkeit begleitet, welche der Ruhe Vorschub leistet und den Schlaf vorbereitet.
Die Energie der Muskeltätigkeit nimmt ab, der Willensimpuls selbst läßt nach,
die Sinnesempfindung wird stumpfer, man hört Worte und Geräusche wie aus der
Ferne, die Gesichtseindrücke werden undeutlicher, die Auffassung und das. Unter¬
scheidungsvermögen der sinnlichen Eindrücke wird abgestumpft, die Gedanken¬
tätigkeit verlangsamt sich und verliert an Schärfe und Energie, die Eindrucks¬
fähigkeit des Gemüts wird vermindert. Die Herabsetzung der Erregbarkeit beugt
den Folgen der Reizsummation vor und leitet automatisch oder auf dem Wege
der Willenstätigkeit zu Ruhepausen über. Fallen diese weg, sind sie ungenügend
oder wirken die Reize so stark, sei es durch ihre Intensität und Dauer, sei es
durch den begleitenden Gefühlston, daß sie die Ermüdungswirkung ausgleichen
bzw. sogar überlagern, so kommt es zu Reizerscheinungen und schließlich zur
Iberempfindlichkeit. Der individuelle Zustand der Erregbarkeit spielt dabei in
hohem Grade mit. Bei Neuropathen oder bei einer durch Krankheit erworbenen
allgemein oder lokal erhöhten Erregbarkeit (Rekonvaleszenten usw.) kann eine
sich in normalen Grenzen haltende Tätigkeit neben der physiologischen Ermüdung
die Symptome der erhöhten Reizbarkeit auslösen, ja letztere können der Ermüdung
vorangehen oder sie überflügeln. Auch die letztere vermag andererseits dieWirkungen
der Reizsummation zeitweise zu überlagern, so daß dieselbe in ihren Folgen sich
erst zu erkennen gibt, nachdem die Ermüdungsnarkose und Ruhepause abgelaufen
sind (vgl. die obigen Bemerkungen über nicht abgeklungene Reize bei ungenügender
Ausruhe). Die Reizwirkung der geistigen Tätigkeit tritt besonders bei den auch
abnorm erschöpfbaren Psychopathen hervor.
Es wurde bereits im I. Kapitel ausgeführt, daß eine abnorm gesteigerte Dis¬
similation, wie sie bei Sauerstofiarmut und bei erschöpfender funktioneller Reizung
eintreten muß, zur Erregbarkeitserhöhung führen kann. Wahrscheinlich werden
unter diesen Umständen nicht bloß die reizangepaßten Rezeptoren zersetzt, sondern
der Zerfall ergreift die reizbare Substanz in größerem Umfange, zersplittert die
ßeservevorräte. Dadurch werden Affinitäten frei, welche eine gesteigerte Assi-
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
208
Goldscheider
milation erzwingen und es kommt so zu einer besonders reichlichen Bildung
hochlabiler Atomgruppen. Dieser Vorgang muß sich unter anderem in einem er¬
höhten Sauerstoffbedürfnis ausdrücken. In der Tat findet bei der Fortsetzung
der Tätigkeit in ermüdetem Zustande und bei übermäßiger Muskelanstrengung
eine relative Steigerung des Sauerstoffverbrauchs statt; auch kann sich als Nach¬
wirkung nach bedeutenden Anstrengungen eine den Ruhewert mehr oder weniger
übersteigende Steigerung des Gaswechsels zeigen.
Die von Zuntz für erstere Erscheinung gegebene* Erklärung, daß bei übermäßiger
Beanspruchung der Muskeln Hilfsmuskeln herangezogen werden, welche ein ungünstigeres
Drehungsmoment besitzen und infolge mangelhafter Übung weniger ökonomisch arbeiten,
ist ohne Zweifel richtig. Aber sie schließt nicht aus, daß nebenher noch eine zweite
Ursache des gesteigerten Sauerstoffverbrauchs besteht, nämlich die oben genannte. Eine
Bekräftigung dieser Anschauung läßt sich aus den bei Sauerstoffmangel eintretenden
Stoffwechselveränderungen ableiten. Zuntz hat mit seinen Schülern festgestellt, daß bei
Sauerstoffverringerung (in Höhenluft) die Muskelarbeit gleichfalls mit einem erhöhten Sauer¬
stoffverbrauch einhergeht, ja daß in größerer Höhe sogar in Ruhe ein solcher stattfindet.
Die mangelhaft mit Sauerstoff gespeisten Organe sind weniger leistungsfähig und
ermüden leichter. Werden sie zur Tätigkeit gezwungen, wie es z. B. auch bei voll¬
kommener Ruhe für Herz und Atmung wie für die drüsigen Apparate gilt, so müssen
die Funktionsreize eine erhöhte Zersetzung der Substanz und reaktive Erregbarkeits¬
steigerung bewirken, falls die Reservekräfte ausreichen, um dem gesteigerten Assimila¬
tionsbedürfnis zu genügen und nicht vielmehr sofortige Erschöpfung eintritt. Eine relative
Erhöhung des Sauerstoffbedarfs und -Verbrauchs muß die Folge sein. Die von Zuntz 1 )
gegebenen Erklärungen des erhöhten Sauerstoffverbrauchs bei der unter Sauerstoffarmut
stattfindenden Muskeltätigkeit sind folgende: Er weist darauf hin, daß auch in der
Ruhe beständig Muskeltätigkeit stattfindet, und daß diese, z. B. die der Herz- und Atem¬
muskulatur auch unter ungünstigeren Umständen erfolgt als bei reichlicher Sauerstoffzufulir.
,,Für die Atemmuskulatur ist ferner in Betracht zu ziehen, daß sie mehr zu lsisten hat.
daß wir im Hochgebirge infolge der durch den Sauerstoffmangel erzeugten Reize
dauernd verstärkt atmen. Es trägt außerdem, namentlich in den ersten Tagen des
Höhenaufenthaltes, zur Vermehrung der Atemarbeit bei, daß die stärker ausgedehnten
Darmgase einen Druck auf das Zwerchfell ausüben und dadurch die Atmung erschweren.
Hinzu kommt, daß die Produkte unvollkommener Verbrennung, welche im Blute zirku¬
lieren, schließlich doch (zum Teil in den Lungen) verbrannt werden und hierfür zeit¬
weise ein Mehrverbrauch an Sauerstoff nötig ist.“ „Als ein letztes Moment kommt
vielleicht auch noch die erregende Wirkung der mehrfach besprochenen Produkte der
unvollkommenen Oxydation auf die motorischen Zentren des Rückenmarks in Betracht.* 4
Es handelt sich um Muskelkrämpfe bzw. Zittern und Muskelspanhungen, welche in ver¬
dünnter Luft auftreten. Zuntz bezieht sie auf die erregende Wirkung gewisser unge¬
nügend oxydierter Stoffe, welchen auch eine eben solche für das Atemzentrum beizumessen
ist. Die Atemgröße ist in größeren Höhen (3000 m) stärker erhöht als der Kohlen¬
säurespannung entspricht, welcher bekanntlich neben den bei der Muskelarbeit entstehenden
Atemreizstoffen die Regulierung der Atmungstätigkeit, zukommt. Bei Sauerstoffmangel
müssen somit die in den Muskeln entstehenden Atemreizstoffe vermehrt sein.
Die Lehre, daß „das Blut bei der Arbeit aus den sich kontrahierenden Muskeln
unbekannte Stoffe aufnimmt, welche das Respirationszentrum reizen 2 )“, stüzt sich auf
den von Geppert und Zuntz in der zitierten Arbeit erbrachten Nachweis, daß die
Veränderung der Blutgase (Sauerstoff, Kohlensäure) bei der Muskeltätigkeit nicht im
stände ist, die Vermehrung der Atmung zu erklären, welche auch trotz Ausschaltung der
l ) Zuntz, A. Loewy, F. Müller, Caspari: Höhenklima und Bergwanderungen in ihrer
Wirkung auf den Menschen. 1906. Kap. XVIII.
a ) GeppertundZuntz. Über die Regulation der Atmung. Pflügers Arch.f.d.ges.Pbys. Bd.42.
Digitized by
Go igle
Original fro-rn
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Über die krankhafte Überempfindlichkeit und ihre Behandlung.
209
Nervenverbindungen eintritt. A. Loewy 1 ) zeigte, daß diese Stoffe nicht durch den Harn
ausgeschieden werden, und daß es sich daher wahrscheinlich um leicht oxydierbare,
während der Dyspnoe im Körper selbst der Zerstörung anheimfallende Stoffe handelt. Die
Steigerung der Atmung hielt in den Loewy sehen Versuchen (Kaninchen) nach lOfacher
Tetanisierung der Hinterläufe von je 5 Sekunden Dauer innerhalb 5 Minuten 8 bis 12 Mi¬
nuten, d. h. nach Beendigung der Muskelreizung 3 bis 7 Minuten .an. Die betreffenden
Reizstoffe verschwinden somit schnell aus dem Blute, was auch Geppert und Zuntz
aogeben (1. c. S. 245). Es handelt sich nach den von Durig und Zuntz ausgeführten
Alkaleszenzbestimmungen des Blutes um organische Säuren, speziell Milchsäure. In
einer späteren Arbeit 2 ) weist Zuntz noch auf folgendes hin: Bei der Muskeltätigkeit mit
gleichzeitig ungenügender Sauerstoflfzufuhr werden Kohlehydrate (Zucker) als Energiequelle
herangezogen (gärungsartige Spaltung, Milchsäurebildung); die verbrauchten Kohlehydrate
werden auf Kosten des Eiweißes bzw. auch Fettes ersetzt, wobei Sauerstolf verbraucht wird.
Die Nachwirkung der Arbeitsleistung fand Zuntz mit seinen Schülern besonders
in der Höhe ausgesprochen und erklärt dieselbe einesteils durch die infolge der Arbeit
erhöhte Körpertemperatur, andererseits durch die vorher erörterten Einflüsse der ver¬
ringerten Sauerstoflfzufuhr.
Immerhin möchte ich auf die Wahrscheinlichkeit hinweisen, daß die Erhöhung der
Atmungstätigkeit sowohl bei Sauerstoflfarmut wie bei der Nachwirkung nach stärkeren
Arbeitsleistungen nicht lediglich auf der Vermehrung der Atemreize und den übrigen an¬
geführten Momenten, sondern auch auf einer Erregbarkeitssteigerung des Atem¬
zentrums selbst beruht. Daß Schwankungen der Erregbarkeit desselben Vorkommen,
ist bekannt. Die Steigerung der Atemreize und der Funktion des Atemzentrums wird
anch hier zu einer erhöhten Empfindlichkeit führen müssen; es wäre sonderbar, wenn das
Atemzentrum eine Ausnahmestellung hätte.
Zuntz (1. c.) erwähnt eine Erscheinung, welche zu der von mir angenommenen
Erregbarkeitssteigerung des Atemzentrums sehr wohl in Beziehung gesetzt werden kann:
die Erregung des letzteren tritt nämlich dann besonders stark hervor, wenn nach längerem
Sauerstoffmangel wieder normale Luft geatmet wird. Die Zuntz sehe Erklärung lautet:
„Diese Erscheinung ist dadurch verständlich, daß bei längerem Sauerstoffmangel die Er¬
regbarkeit der Zentra allmählich herabgesetzt wird, so daß die in größerer Menge im
Blute zirkulierenden reizenden Stoffe wenig Effekt haben. Wird dann wieder sauerstoff-
reiche Luft zugeführt, so erholt sich das Atemzentrum und reagiert nun heftig auf die
im Blute noch zirkulierenden Reizstoffe.“ Es besteht hier unstreitig eine gewisse
Schwierigkeit in der Vorstellung, daß die eben durch den Sauerstoffmangel gebildeten un¬
genügend oxydierten Stoffe auch nach Zuführung von Sauerstoff noch als in größerer
Menge im Blute zirkulierend angenommen werden. Man sollte doch vielmehr meinen, daß
die Sauerstoflfzufuhr in der Zeit, in welcher sie den Wiederaufbau der dissimilierten Sub¬
stanz des ermüdeten Atemzentrums besorgt, auch die weitere Oxydation jener Stoffe
bewirken wird. Dagegen deutet die erwähnte Erscheinung darauf, daß das übererregte
und übererregbare, dabei ermüdete Atemzentrum, nach seiner Restitution durch den reich¬
lich vorhandenen Sauerstoff seine höhere Erregbarkeit noch eine Zeitlang beibehält.
Aus den auch von Zuntz zitierten Weichardtschen Untersuchungen geht hervor,
daß das Ermüdnngsgift bei Sauerstoffarmut (in verdünnter Luft) schon durch mäßige
Arbeit in ebenso reichlicher Menge erzeugt wird als in freier Luft durch hochgradige
Ermüdung. Die Ermüdbarkeit ist somit bei Sauerstoffmangel erhöht und so würde der
letztere zur vermehrten Bildung jener beiden gegensätzlichen Stoffe führen, der ermüdenden
and der reizenden, welche wie man annimmt, bei jeder Muskeltätigkeit entstehen. Wie
aber die Ermüdung nicht allein auf der Einwirkung der ermüdenden Stoffe, sondern auch
auf der Erschöpfung des Assimilationsmaterials (besonders des Sauerstoffs) beruht, so
kommt sicherlich für die Reizungsphänomene nicht allein das Vorhandensein der voraus¬
gesetzten Reizstoffe, sondern außerdem die durch die kumulative Assimilation bedingte
Reizbarkeitserhöhung in Betracht. Die ärztliche Erfahrung spricht für das Vorkommen
1 ) Pflügers Arch. f. d. ges. Phys. Bd. 42.
2 ) Durig und Zuntz, Skandinavisches Archiv für Physiologie. Bd. 29. 1913.
Ztit«chr. f. physik. u. dijit. Therapie Bd. XXII. Heft 7. 14
Digitized by
Go igle
/
Original from
UNIVERSfTY OF MICHIGAN
210
Goldscheider
einer Erhöhung der Reizbarkeit des Atmungszentrums bei Dyspnoe. Anch die bei
Sauerstoffarmut auftretenden Muskelzuckungen möchte ich nicht allein auf chemische
Reizstoffe, sondern gleichzeitig auf Erregbarkeitserhöhungen beziehen. Es kommen hier
die im I. Kap. bei dem intermittierenden Hinken usw. besprochenen Verhältnisse in Be¬
tracht. Der physiologische Chemiker wird geneigt sein, alles von der Bildung chemischer
Stoffe ahzuleiten; aber die dynamischen- Vorgänge der Erregbarkeitsveränderung, wie sie
uns besonders im Nervensystem entgegentreten, erfordern Berücksichtigung.
Für die Vorstellung, daß bei ungenügender Assimilation bzw. Sauerstoffarmut die
reizbare Substanz durch die Funktionsreize abnorm stark dissimiliert wird, kann man den
H. Oppenheimschen Versuch anführen, welcher erkennen läßt, daß bei Überanstrengung
mit Dyspnoe ein gesteigerter Eiweißzerfall eintritt. In demselben Sinne sprechen Ver¬
suche von A. Fraenkel, welcher bei Tieren nach Aufenthalt in stark verdünnter Luft
eine Erhöhung des Eiweißzerfalles nachwies. Auch Kraus ist geneigt anzunehmen, daß
das Wachsen des Eiweißzerfalls bei mit Dyspnoe verbundener Mnskelanstrengung „wohl
hauptsächlich jenen Eiweißmolekülen (Muskelstoffen) entspricht, die bei normaler Funktion
der kontraktilen Substanz gespalten und entweder stets wieder regeneriert oder deren
N-haltiger Rest erst im Verlaufe längerer Zeit in den Exkreten zu erscheinen pflegt 1 )“.
Es hindert meines Erachtens nichts, diese Vorstellung von den Muskelzellen auf diejenigen
des Nervensystems und auf funktionierende Zellen insgemein auszudehnen.
Auch die Beobachtung, daß bei ermüdeten Muskeln (Sauerstoff-Verarmung) die
Wärmebildung im Verhältnis zur Leistungsfähigkeit gegenüber dem ausgernhten Muskel
sinkt, könnte dahin gedeutet werden, daß die Leistungsfähigkeit sich trotz geringerer
Oxydierung auf Grund stärkerer Dissimilierung erhält.
Chronische Ermüdung tritt uns nicht selten als Krankheitszustand ent¬
gegen, dadurch erzeugt, daß die Anforderungen des Lebens oder die besonderen
Umstände (Mangel an Ruhepausen, an Schlaf, Überanstrengung, übermäßige
Einwirkung von Sinnesreizen und Gemütseindrücken usw.) die individuelle Leistungs¬
fähigkeit überschritten haben. Eine besondere Disposition hierfür bieten kon¬
stitutionelle Schwächezustände, organische Erkrankungen (Herz-, Lungen-, Magen-,
Darm-Erkrankungen), Neurasthenie, Rekonvaleszenz, Unterernährung. Kraus hat
gezeigt, daß die Ermüdung und gesteigerte Ermüdbarkeit ein Zeichen irgendwelcher
Schwächung des Organismus darstellt. Die Defatigatio kann unter dem Bilde einer
dauernden abnormen körperlichen und geistigen Ermüdbarkeit, Gedächtnisschwäche,
deprimierten Stimmung, Unlust, Willensschwäche auftreten. Häufiger aber finden
wir außerdem die Symptome einer gesteigerten Reizbarkeit: Neuralgien, Myal¬
gien, Parästhesien, Reflexsteigerung, vasomotorische Reizungen, Neigung zu Schwei߬
sekretion, Herzklopfen, Oppressionsgefühl, Pulsbeschleunigung, Migräne, reizbare
Stimmung, mangelhafte Selbstbeherrschung, gesteigerte emotionelle Erregbarkeit,
Schlaflosigkeit, allgemeine Hyperästhesie gegen Sinneseindrücke, kurz ein Bild reiz¬
barer Schwäche, der Neurasthenie. Wie es scheint, können auch Superazidität,
Glykosurie, Abmagerung und andere vegetative Störungen, vielleicht auch Thyreo-
toxie auftreten. Bei manchen Übermüdeten wiegen die Ermüdungs-, bei anderen die
Reizungssymptome vor. Maria de Manaceine stellt hiernach zwei Typen von
Überarbeiteten auf (Zit. nach Bethge. Der Einfluß geistiger Arbeit auf den Körper.
1910). Eine so strenge Scheidung ist jedoch gekünstelt. Bestehen irgendwelche
örtliche Dispositionen oder Organerkrankungen, so können die Reizsymptome an
dieser Stelle in besonders auffälliger Weise offenbar werden, wodurch das Krankheits¬
bild der allgemeinen Übermüdung unterscheidende und individuelle Merkmale erhält.
(' Die Ermüdung, S. 15.
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
über die krankhafte Überempfindlichkeit und ihre Behandlung.
211
Aach das Krankheitsbild einer isolierten. lokalen Überemptindlichkeit durch
örtlich beschränkte Überreizung kommt vor, wobei Ausstrahlungen auf den Ge¬
samtorganismus in mehr oder weniger hervortretender Art die Regel bilden.
Vielleicht kann durch Übermüdung die Bereitschaft für.Infektionskrankheiten
erhöht bezw. der Verlauf letzterer ungünstig beeinflußt werden (Kollarits, Med.
Kl. 1917. Nr. 51). Für schwere Erschöpfung ist diese Erfahrung (z. B. bei typhös
erkrankten Kriegsteilnehmern, v. Koranyi) gesichert.
Die krankhafte Übermüdung, d. h. die Überempfindlichkeit mit gesteigerter
Erschöpfbarkeit durch Überreizung, ist oft durch den Zwang der Verhältnisse,
aber auch nicht selten durch die individuelle gewählte Lebensführung veranlaßt.
Es gibt gewisse Momente, welche zur Folge haben, daß der Gebrauch des Lebens
allgemeine oder örtliche Schädigungen durch Erschöpfung und Überreizung her¬
beiführt. Sie sind in der Hauptsache auf eine Ungleichmäßigkeit der Veran¬
lagung in körperlicher oder geistiger Beziehung oder in dem Verhältnis von
körperlicher zu geistiger Veranlagung zurückzuführen. Ich möchte namentlich
auf vier Arten von Disharmonie hinweisen.
1. Im schwachen Körper wohnt ein starker Geist. Der Organismus ist der
Willenskraft, welche ihn bewegt, nicht gewachsen.
2. Es bestehen stark hervortretende Neigungen, Triebe, Begierden, welche
anf die Lebenshaltung bestimmend wirken und einerseits zn einer örtlichen Über¬
reizung nnd Übermüdung, andererseits durch die notwendige Anteilnahme des
gesamten Organismus an der betreffenden Betätigung zu einer allgemeinen Über¬
reizung führen. Hierher gehören nicht allein schlechte Leidenschaften, sondern
auch künstlerische Talente und sehr ausgesprochene geistige Sonderinteressen.
Der Besitz einer solchen reichen Begabung ist, wie die Erfahrung zur Genüge
lehrt, stets mit der Gefahr der Überreizung verbunden.
3. Ganz ähnlich wirkt der Besitz einzelner, besonders hervorragender körper¬
licher Anlagen, welcher zu einer Betätigung derselben verleitet, der die anderen
Organe nicht gewachsen sind. So kann eine athletische Muskulatur durch ent¬
sprechenden Gebrauch und Überleistung zu einer übermäßigen Beanspruchung des
Nervensystems führen: der herkulisch gebaute Neurastheniker. Auch eine unge¬
wöhnliche geistige Arbeitskraft, welche zu einer Übermüdung vegetativer Organe
führt, ist hier mit zu nennen.
4. Das Vorhandensein eines minderwertigen Organs oder Organsystems
(vgl. m. Kap.).
Diese aus Insuffizienz und Reizung (Erethismus) zusammengesetzten Bilder
der Übermüdung werden in der Praxis häufig verkannt. Sie sind um so wichtiger,
als sie nur eine therapeutische Maßnahme verlangen: Ruhe. Unter dem Einflüsse
dieser klingen die Symptome ab, gleichgültig, welche therapeutischen Maßnahmen
sonst noch ergriffen werden, wenn diese nur nicht die Ruhe stören. Nicht selten
wird die Besserung mißverständlicherweise auf irgendeine gerade angewandte
Heilmaßnahme (Badekur oder dergl.) bezogen. Nichts ist bei solchen Fällen
unrichtiger als eine therapeutische Vielgescbäftigkeit. Man beachte, daß, wie
bereits hervorgehoben, die allgemeine Übermüdung ausgesprochene örtliche Reiz¬
symptome hervorrufen kann. Die durch ein Organleiden bedingten Störungen
können durch örtliche, der Übermüdung (Überreizung) entstammende Symptome
14*
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
212 Goldscheider, Über die krankhafte Überempfindlichkeit und ihre Behandlung.
kompliziert bzw. überlagert sein und so vermag die Ruhe allein schon eine
wesentliche Besserung des Gesamtbildes zu bewirken. Gewisse Neuralgien, Hyper¬
ästhesien und andere Reizznstände verschwinden durch bloße Ruhe oder aus¬
reichenden Schlaf. Es ist erstaunlich, wie bei überarbeiteten Personen oft eine
ganz kurze Ausruhe die Linderung solcher örtlichen Symptome bewirkt.
Ein anderes Moment von praktischer Wichtigkeit ist dadurch gegeben, daß
die subjektiven Symptome der Übermüdung in der Psyche des Betroffenen leicht
Krankheitsvorstellungen hervorrufen können, so daß sich eine nehrasthenieche oder
psychasthenische Komponente hinzugesellt. Klärt man den Kranken über den
wahren Charakter der Symptome auf, überzeugt man ihn von seiner fehlerhaften
Deutung, indem man durch Ruhebehandlung die Beschwerden zum Verschwinden
bringt, so kann ein Umschwung in dem Sichfühleu des Patienten eintreten,
welcher bei ihm eine Wunderkur vortäuscht. Die lokalen Organsymptome er¬
scheinen gebessert, die Leistungsfähigkeit erscheint erhöht. Bei hochgradigen
oder komplizierten Fällen von Übermüdung muß die Ruhekur eine sehr voll¬
ständige sein. Die bloße „Schonung“ genügt nicht, weil schon die alltäglichen
Beanspruchungen zu viel sind.
Nicht immer ist andererseits eine absolute Ruhe erforderlich; vielmehr
führt oft schon eine individuelle Anpassung der Lebensweise an die durch Kon¬
stitution oder Organleiden gegebenen Bedingungen und Grenzen zum Ziel.
Es ist zu berücksichtigen,' was im I. Kap. über Reizanpassung gesagt worden
ist. Auch die Empfindungssphäre ist anpassungsfähig, selbst im Zustande der
Überempfindlichkeit, nur daß die Anpassung hierbei in besonders vorsichtiger und
abgestufter Weise ausgeführt werden muß.
Wo gesteigerte Ermüdbarkeit besteht, finden sich auch die Bedingungen
für die reizbare Übermüdung. So bei Unterernährung, Anämie, konstitutioneller
Schwäche, sei es, daß dieselbe kongenital oder durch eine Organ- oder Allgemein¬
krankheit erworben ist, bei Intoxikationen (Infektionskrankheiten, Fieber, so auch
bei manchen Fällen von latenter Lues), bei verloren gegangener Übung (z. B. durch
lange Bettlägerigkeit). Bei der reizbaren Schwäche der Rekonvaleszenten treffen
oft mehrere dieser Ursachen zusammen. Zahlreiche Krankheitssymptome beruhen
lediglich auf Ermüdung bzw. reizbarer Ermüdung.
Auch bei Personen von gesunder Konstitution kann eine durch längere Zeit
fortgeführte Übermüdung und Überanstrengung einen Zustand krankhafter Ermüd¬
barkeit und gesteigerter Reizbarkeit hinterlassen, dessen Heilung einige Zeit
beansprucht. In erhöhtem Maße ist dies bei Neuropathen der Fall. Bei schwerer
Neurasthenie können schon die alltäglichen Anforderungen übermüdend und über¬
reizend wirken. Gewisse Stoffwechselkrankheiten (Diabetes, Fettsucht) sowie Er¬
krankungen, welche die Sauerstoffaufnahme beeinträchtigen (Blutkrankheiten),
erzeugen in besonders hohem Maße Ermüdbarkeit. Ferner sind die Muskel¬
erkrankungen zu nennen (Muskelschwund, Myasthenie). Von organischen Nerven¬
erkrankungen ist es besonders die Tabes, welche mit einer oft schog sehr früh¬
zeitig hervortretenden gesteigerten Ermüdbarkeit, namentlich mit krankhaft erhöhter
Ermüdungsempfindung einhergeht. Letztere ist in diesen Fällen auf eine Hyper¬
ästhesie der sensiblen Muskelnerven zu beziehen. Bei vorgeschrittener Degene¬
ration kann das umgekehrte: ein Mangel der Ermüdungsempfindung vorhanden sein.
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Detennann, Die Funktion des Magendarms als Grundlage der Diagnostik. 213
Bei nenritischen oder zentral bedingten Paresen steht die Ermüdung im Verhältnis
zur Mnskelschwäche; bei hyperästhetischer Neuritis kommt außerdem eine krank¬
hafte Erhöhung der Ermfldungsempfindung bzw. des Ermüdungsschmerzes vor.
So führt die Übermüdung als Überlastung mit funktionellen physiologischen Reizen
bereits in das Gebiet der krankhaften Uberempfindlichkeit. (Fortsetzung folgt.)
, II.
Die Funktion des Magendarms als Grundlage der Diagnostik.
Fortbildungsvortrag, gehalten in Freiburg i. Br.
Von
Prof. Dr. Detennann
in St. Blasien-Freiburg i. Br.
Gewiß stützt sich die Diagnostik teilweise auf Vergleich, Erinnerungen,
Erfahrung. Besser jedoch beruht, sie auf der Vorstellung dessen, was vorgeht im
Organismus, auf der Überlegung der Funktion. Soll daher die Diagnostik auf der
Höhe der Zeit stehen, so muß sie auf den Lehren der Physiologie und der patho¬
logischen Physiologie aufgebaut sein.
Nach diesen Grundsätzen muß man auch aus dem Sammelbegriff Magenstörung
nnd Dannstörung die einzelnen Funktionsstörungen herausschälen.
Gestatten Sie mir daher, das Ineinanderspiel aller Vorgänge im Magendarm¬
kanal mit ständigem Ausblick auf die praktische Diagnostik zu betrachten. Es ist
zweckmäßig und zugleich gesichert angelegt. Ein Teil des Magendarmkanals
beeinflußt den anderen, eine Funktionssphäre kann aber auch häufig die andere
vertreten; für besonders schwierige Aufgaben sind verschiedene Möglichkeiten der
Erledigung vorhanden. So wird das Endziel, die gänzliche Zertrümmerung der
Nahrungsstoffe und ihre Aufsaugung garantiert.
Ich habe an anderer Stelle einmal den Magendarmkanal verglichen mit einem
dem Transport von Waren dienenden Kanalsystem. Das Wasser des Kanalsystems
wären die Sekrete, die vorwärtstreibende Kraft die Magendarm-Muskulatur, das
Transportgut die Nahrungsstoffe, welche an den Ufern des Kanalsystems hier und
da gelöscht werden. In dem Kanalsystem befinden sich zwecks Ansammlung von
Wasser, zwecks Ordnung und Vorbereitung der zu löschenden Ladung, fünf
Schleusen: Schluckakt, Kardia, Pylorus, Sphincter ileocolicus und Spbincter ani.
Magen.
Der Kauakt hat außer der Zerkleinerung der Speisen die Aufgabe der Fernwirkung
auf die Produktion von Magen- und Pankreassaft. Gleichzeitig wird Speichel sezerniert
in einer der Art der Speisen angepaßten Menge und Zusammensetzung. Die Anregung
zur Sekretion erfolgt aber nicht nur vom Muude aus, sondern auch durch Sinneseindrücke
und Vorstellungen. Bedingte Reflexe nennt das Pawlow. Verdauende Wirkung hat der
Speichel nur durch das Ptyalin. Die Kardia , die 7.weite Schleuse, bildet einen Muskel¬
verschluß, dessen Funktion mancherlei Störungen in Gestalt und Bewegung der Speise¬
röhre verständlich macht. Durch eine schräge Einmündung in den Magen entsteht eine
Digitizeü by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
214
Determann
Art Ventilverschluß, so daß die Speisen zwar gut in den Magen hinein, aber nicht so
leicht nach oben herausdrangen können.
Über Lage , Form und Bewegung des Magens gibt uns besonders das Röntgenverfahren
Aufschluß. Die Syphonform, bei der durch Höherstellung des Pylorus eine gewisse
Hubhöhe, also eine gewisse Erschwerung für die Magenentleerung entsteht, ist wohl die
häufigste und die normale. Jedenfalls sind andere Formen, wie die Stierhornform für
eine geregelte Entleerung des Magens ungünstiger. Zwei Teile sind am Magen funktionell
und anatomisch zu unterscheiden: der Fundus und das Antrum pjdori. In den Fundus
gleiten die Speisen hinein, sie schichten sich unter langsamer Ausdehnung der Wände,
wobei nur ein gleichmäßiges Zusammenhalten des Speisebreies erfolgt. Gleichzeitig setzt
die Saftsekretion ein, wodurch die Eiweißstoffe verdaut, die Fette geschmolzen und teil¬
weise gespalten, die Kohlehydrate verflüssigt werden. Zugleich erfolgt eine Verdauung
des Bindegewebes und eines Teiles der pflanzlichen Gerüstsubstanzen. So entsteht in
den Randpartien des Speisebreies ein dünner Brei, der in das Antrum pylori abgedrängt
wird. Dort setzen nun rhythmische Kontraktionen von maschinenartiger Regelmäßigkeit
mit der Richtung zum Pylorus ein, der Speisebrei wird durch dieselben zum geringsten
Teil in den Darm entleert, zum größten Teil hin- und hergewälzt. .Also der gleichmäßige
Druck des Fundus , die Sekretion des Fundus und die Antrumkontraktionen bilden die Grund¬
lage der Funktion des Magens . Schon hier ist zu bemerken, daß alle drei Tätigkeiten
hauptsächlich abhängig sind von nervösen und Großhirneinflüssen. Daher ist die Gesamt¬
funktion des Magens so ungemein abhängig von den verschiedensten Umständen. Ständige,
wenn auch kleine Störungen der normalen Einflüsse bewirken eine Änderung des normalen
Ineinanderspiels, die den Beginn einer schweren Erkrankung bilden kann.
Die Magensaftsekretion hängt, abgesehen vom Kauakt, zunächst ab von Sinneseiii-
driieken und von psychischen Vorstellungen. Die Scheinfütterung hat dies schlagend
erwiesen. Eine Änderung der psychischen Verfassung ändert auch die Magensaftsekretion.
Diese Versuche bei Tier und Mensch machen es ohne weiteres sicher, daß auch beim
Menschen Ärger, Hast, Sorgen, besonders während des Essens einen ungünstigen Einfluß
auf die Magensaftsekretion haben. Weiterhin wird Magensaft hervorgerufen durch ein
vom Antrum pylori .aus resorbiertes Hormon, endlich vom Duodenum aus durch Fette und
Seifen. Die beiden letzteren Erregungsarten wirken also retrograd. Vom Magenfundus
selbst ist kein Einfluß auf die Magensaftsekretion zu ersehen. Verdauende Wirkung hat
der Magensaft auf Eiweiß durch Salzsäure und Pepsin, auf Fett durch eine Lipase. Eine
gewisse Anpassungsfähigkeit des Magensaftes in bezug auf Menge und Konzentration an
die Art der Speisen mag beim Menschen vorhanden sein.
Zu all dem kommt der fakultative Pylorusverschluß. Vom Magen aus ist eine
Beeinflussung desselben nur in mäßigem Grade vorhanden durch nicht isotonische Lösungen,
durch abweichende Temperatur, grobe Beschaffenheit der Speisen, durch Schmerzen. Die
HauptbeeiDflussung des Pylorusverschlusses ist ebenfalls retrograd vom Duodenum aus
durch Säuren und Fette. Auch starke Darmreizung mit Durchfall bewirkt langdauernden
Pylorusverschluß. Das PylontsspicL d. h. die Öffnung und Schließung, tritt besonders
ein, wenn Säuren oder Fette die Duodenalschleimhaut berühren; dann schließt sich der
Pylorus, öffnet sich aber sofort wieder, wenn die betreffenden Substanzen neutralisiert
oder entfernt sind. Dann dringt wieder neue Substanz, die den Pylorus zum Schließen
bringt, aus dem Magen, prompt schließt sich der Pylorus und wiederholt sich das Spiel.
So dringen nur kleine Mengen von Speisebrei in den Darm. Bei geschlossenem Pylorus
‘wird der Mageninhalt nur hin- und hergevvälzt. Daß die verschiedenen Speisen einen ver¬
schiedenen langen Aufenthalt im Magen nehmen, w ie Pentzoldtschon vor langer Zeit gefunden
hat, liegt vor allem am Pylornsspiel. Eiweißhaltige Speisen werden im allgemeinen
langsam, fetthaltige noch langsamer verdaut. Aber nicht nur die Art der Nahrung,
sondern vor allem die Zubereitungsform und der Aggregatzustand haben einen Einfluß.
Ein Hundeversuch ergab, daß bei langdauernder Darreichung von gehacktem Fleisch,
anstatt rohem Fleisch, oder von vorverdauten Eiweißkörpern Durchfall und schwere Aus¬
nutzungsstörungen verursacht wurden. Die Störungen waren gastrogener Natur und bedingt,
durch zu schnelle Magenentleerung; teils durch zu zarte Beschaffenheit der Speisen, teils
Digitized by
Go igle
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
215
Die Funktion des Magendarms als Grundlage der Diagnostik.
durch verminderte Magensaftsekretion war das Pylorusspiel verändert, dasselbe hinderte
das Durchlaufen der Speisen weniger als normal,, es erfolgte eine schwere Darmüber-
lastung mit allen Folgen. Dieser Versuch zwingt uns, bei Darmstörungen die Möglichkeit
einer Veränderung des Entleerungstempos des Magens durch zu zarte und zu wenig feste
Nahrung in Erwägung zu ziehen . t
Die diagnostische Wichtigkeit des Pylorusreflexes kann deshalb nicht genügend hervor¬
gehoben werden. Er grenzt die Tätigkeit von Magen und Darm ab, er sorgt dafür, daß
nur kleine Mengen von Speisebrei dem Darm überliefert werden, er verhindert eine Über¬
lastung des Darmes. Bei Störungen im Magendarmkanal können wir durch Beobachtung
des Pvlorusspieles im Röntgenbilde oft sehen, was dabei dem Magen, was dabei dem Darm
an Schuld zuzuschieben ist. Oft genügt aber auch zur Klarstellung der Zusammenhänge
die Feststellung von Vorhandensein und Maß der Salzsäure, oft sogar genügen die An¬
gaben des Patienten von etwa vorhandenem, häufigem Leeregefühl, Bedürfnis oft etwas zu
essen, andererseits vom Gefühl zu langen Magenaufenthalts. Wir müssen dabei berück¬
sichtigen, daß Anfang und Ende des Verdauungskanals in vollständiger Verbindung mit
dem Bewußtsein stehen. Je weiter wir zur Mitte kommen, desto weniger spielt das
Bewußtsein eine Rolle; so ist der Dünndarm demselben fast gan^ entzogen, aber sowohl
im Magen, als auch im Dickdarm fühlen wir schon etwas die normalen Vorgänge. Daher
ist der Magen häufig durch Empfindungen gewarnt und geschützt, Diätfehler werden
daher von ihm rechtzeitig bemerkt und abgestellt. Die Diagnose der Magenerkrankungen
wird also häufig durch die Angaben des Patienten gestützt. Über die Vorgänge im
Dünndarm weiß der Patient nichts. Störungen treten immer erst hinterher, d. h. einige
Zeit nach dem Diätfehler, ein. Die nähere Erkennung der Dünndarmerkrankungen ist
schon aus diesem Grunde schwieriger.
Für die Diagnose der Magenerkrankung müssen wir also berücksichtigen die gan :e
Sfrie der Bewegungsvorgänge , besonders den Entleerungsmcchanismus des Magens , ferner
die Sekretionsvorgänge. Auf beide wirken psychisch-nervöse Einflüsse und Verfasssung .
Ist irgendwo ein abnormer Befund erhoben worden, so können wir auf Grund der eben
erörterten Zusammenhänge annehmen, daß und welche Beziehungen zu anderen Teilen
des Magendarmkanals gestört sind. Oft wird also durch einen einzelnen Befund ein
ganzes Krankheitsbild aufgeklärt.
Einige Beispiel e r müssen dies erläutern, meine Hejyen!
Finden wir eine dauernde Snbazidität oder eine Achylie, so müssen wir
natürlich zunächst ernste Ursachen ausschließen: eine schwere Schädigung oder
Atrophie der Magenschleimhaut auf Grund lange dauernder Gastritis, von Karzinom,
perniziösen Anämie usw. Sodann denken wir an langjähriges mangelhaftes Kauen,
schlechte Zähne; — oft fängt die Diagnose bei den Zähnen an — wir denken
auch an psychisch-nervöse ungünstige Einflüsse, wie Hast, Ärger, besonders
beim Essen, Kummer, Sorgen, Überarbeitung; ferner dürfen wir diätische Ursachen
nicht vergessen, und zwar ist viel häufiger, als allgemein angenommen wird, eine
Ursache für die Achylie ein dauernd verminderter Anreiz zur Magensaftproduktion
durch eine zu gute mechanische oder chemische Vorbereitung der dargereichten
Speisen, besonders, wenn sie, wie jetzt in der Kriegszeit, eiweiß- und fettarm sind;
das ist nach dem Gesagten durchaus verständlich.
Was sind nun die Folgen der Achylie? — Fast immer wird der Entlcerungs-
mechanismus mit der Zeit geändert werden. Es liegt für den Pylorus kein ge¬
nügender Anlaß zum reflektorischen Schließen vor, wegen des Fehlens der Säure
kann die Peristaltik des Antrum pylori große Mengen des Speisebreies auf ein¬
mal in den Dünndarm schieben, der Magen wird zu früh entleert, er kann mit
der Zeit kleiner und muskelärmer, die Hubhöhe kann geringer werden. Oft aller-
Digitized by
Go igle
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
216
Determann
ding8 bildet sich eine Atonie mit vergrößerter Hubhöhe, aber auch dann wird oft
eine anfänglich starke Ausschüttung aus dem Magen in den Darm nicht gehindert.
So erfolgt eine Verschiebung der Tätigkeit von Magen und Darm. Der Mägen
bekommt weniger Arbeit, der Darm viehr als er sollte in qualitativer und, quanti¬
tativer Beziehung. Qualitativ deshalb, well der Speisebrei durch den Magen
mangelhaft vorbereitet ist. Das bezieht sich besonders auf die Gerüstsubstanzen
(Bindegewebe des Fleisches und Fettes, Wabengerüst des Kornes, Mittellamelle
der Gemüse), auf die die Salzsäure des Magens auflösend wirkt. Diese Substanzen
reizen die Darmwände, sie hüllen auch die zu resorbierenden Nahrungsstoffe ein.
Ferner sind durch den Mangel an Magensaft die Eiweißkörper nicht zu Peptonen
und Albumosen umgewandelt. Das Eieralburain ist sogar nur durch Pepsin ver¬
daubar. Dabei fehlt die hemmende Kraft der Salzsäure für die Bakterientätigkeit.
Es kann sich deshalb trotz der bakteriziden Kraft der Dünndarmschleimhaut auf
dem jetzt reichen Nährboden des Dünndarms eine Darmflora entwickeln. Nur
die Kohlehydrate würden bei Achylie evtl, im Magen besser verdaut sein, da die
durch Salzsäure sonst gehemmte Ptyalin Wirkung des Speichels sich besser fort¬
setzen kann. Sonst ist aber der ganze Speisebrei für den Dünndarm nicht ge¬
nügend vorbereitet. Dazu kommen die zu großen quantitativen Ansprüche.
Während für gewöhnlich nur geringe Mengen auf einmal in den Dünndarm dringen,
handelt es sich jetzt um große Massen, die ihn auf einmal belasten. So ist eine
Zerschlagung der Nahrungsstoffe teils unmöglich, teils wegen zu großem Angebot
nicht in der richtigen Zeit zu erledigen, zumal das Fehlen der Salzsäure eine
Hinderung für die Erzeugung des Pankreassaftes bedeutet. Die Stuhluntersuchung
ergibt dann ein „gastrisches Vegetationsbild“ (R. Schmidt), die Dünndarmschleim¬
haut wird im Epithelbelag beschädigt, Katarrhe entstehen, die Resorption kann
leiden, Gewichtsverlust, Blutarmut usw. können dann die Folgen sein.
Oft allerdings erfolgt ein kompensatorischer Ausgleich. Wie ich eingangs er¬
wähnte, kann oft innerhalb des Magendarmkanals eine Funktionssphäre für die
andere eintreten. So erweisen sich Pankreassaft und Dünndarmsaftsekretion oft
als fähig, den Ausfall der Magensaftsekretion auszugleichen. So ist es zu er¬
klären, daß bei vollständiger Achylie oft wenig oder gar keine krankhaften Er¬
scheinungen vorhanden sind. Oft wird bekanntlich ohne Anftreten von irgend¬
welchen Störungen eine Achylie und eine sehr schnelle Magenentleerung zufällig
entdeckt. Erstaunlich ist auch bei Gastroenterostomierten der oft gute Aus¬
gleich der schnellen Magenentleerung durch die Darmverdauung. Ich sah in
letzter Zeit einige Patienten, welche unter Röntgenbeobachtung durch den Magen
hindurch, direkt in den tief im kleinen Becken liegenden Dünndarm ihre Speise
beförderten. In einigen Dünndarmschlingen erfolgte dann ein ziemlich langer Auf¬
enthalt. Durchfall oder schlechte Ausnutzung der Nahrung war auch bei nicht
sehr strenger Kost nicht vorhanden. Diese Patienten hatten allerdings normale
Magensaftsekretion.
Ein anderes Beispiel: Die Superazidität oder besser Supersekretion in
ihren Zusammenhängen.
Auch sie ist abhängig von der Kautätigkeit, der Art der Kost, vor allem aber
von psychisch-nervösen Einflüssen. Auch sie entsteht oft bei schlechtem Kauen.
Dies stimmt scheinbar nicht mit der Angabe, daß auch Achylie durch schlechtes
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die Funktion des Magendarms als Grundlage der Diagnostik.
217
Kauen entstehen kann. Aber denken wir auch hierbei an die Möglichkeit kom¬
pensatorischer Überfunktion gewisser Teile des Magendarmkanals; ferner ist nicht
zu vergessen, daß die Entstehung des Magensaftes ja außer durch den Kauakt
noch auf mehrfach andere Art zustande kommt. Auch bietet wohl schlecht ge¬
kaute Kost durch seine mechanische Beschaffenheit einen erheblichen Anreiz zur
Magensaftsekretion, besonders bei starker Anlage des Drüsenapparates. Endlich
wirken nervös-psychische Schädlichkeiten nicht nur in einer Richtung, nämlich im
Sinne der Verminderung Magensaftsekretion, sondern oft wirken sie reizend, also
steigernd auf diese.
Die Folgen einer Supersekretion des Magensaftes werden meistens umgekehrt
wie bei der Achylie sein. Durch die sehr häufige Berührung der Duodenalschleim¬
haut mit Säure wird der Pylorusschluß fast dauernd angeregt und damit die Ent¬
leerung des Magens verzögert. Trotz der in diesem Falle besonders starken
Antrumperistaltik werden nur sehr kleine Portionen von Speisebrei in den Darm
entleert, die Nahrung hält sich unverhältnismäßig lange im Magen auf, das Ver¬
hältnis von Magen- und Darmarbeit wird zu Ungunsten des Magens verschoben.
Die Nahrung wird im Magen gründlicher verdaut wie sonst, sowohl in bezug
auf das Bindegewebe von Fleisch und das Wabengerüst des Kornes, als auch
bezüglich der Eiweiß- und Fettkörper. Eine vermehrte Resorption von Pepton
und Albumosen im Antrum sorgt für weitere Anregung der Saftsekretion. So
entsteht ein circulus vitiosus. Wenn auch von Zeit zu Zeit durch die kräftige
Muskelkontraktion des Magens der Pylorusschluß gesprengt und der Dünndarm
mit salzsäurehaltigem Speisebrei überschwemmt wird, so wird doch im Durch¬
schnitt der Magen seinen Inhalt viel länger behalten und bearbeiten. Er wird
daher, trotz der Zunahme der Muskulatur größer, gedehnter sein, die Hubhöhe
wird größer, wodurch sich eine weitere Erschwerung der Entleerung ergibt, all¬
mählich kann sich eine Insuffizienz ersten Grades (Boas) einstellen. Auch wird
durch die beständige Berührung der Schleimhaut mit Salzsäure besonders am Py-
lorus die Geschwürsbildung begünstigt, auch kann sich durch den ständigen Pylorus-
krampf mit der Zeit eine muskuläre Stenose mit ihren weiteren Folgen einstellen.
Vielleicht sind diese Beispiele etwas schematisch ausgefallen . Gewiß spielen
viele andere Momente hinein, unter anderem der Wechsel in der Magensaftsekretion.
Sie wissen selbst, meine Herren, wie vielgestaltig das Bild der Magenkrankheiten
ist, und daß die Zusammenhänge keineswegs immer so typisch sich abspielen,
wie in den obigen Beispielen erwähnt. Große Gebiete, wie die Katarrhe, die ent¬
zündlichen Erkrankungen habe ich mit Absicht nicht hineingezogen. Es lag mir
nur daran, die am häufigsten rorkommenden Zusammenhänge zu zeigen und darauf
hinzuweisen, wie das Auf finden eines Anzeichens eine ganze Reihe von Gedanken-
•ßngen auf Grund pathologisch-physiologischer Überlegungen hervorrufen muf>.
Darm.
Auch hier sei mir ein überblick über die normale Funktion desselben erlaubt.
Im Duodenum erfolgt der Umschlag der Reaktion, dort entleert sich der Pylorus,
dort erfolgt der Erguß aus den Ausführungsgängen der großen Verdannngsdrüsen Leber
und Pankreas. Mit der Einhornschen Duodenalpumpe können wir ein Überblick über die
im Duodenum jeweils vorhandenen Flüssigkeiten gewinnen.
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
218
Determann
Der Pankreassaft wird zwar nicht sehr stark, aber langdauernd durch den Kauakt
beeinflußt. Die Haupterzeugung erfolgt das durch Sekretin, ein in der Dünndarmschleimhaut
befindliches, von saurem Magensaft aktiviertes Hormon, sodann durch Fettsäuren qnd
Seifen. Eine gewisse Anpassung des Saftes bezüglich Zusammensetzung und Menge mag
nach Art und Summe der Reize der Nahrung vorhanden sein. Im Pankreassaft sorgen
das Trypsin für tiefe Eiweißzerschlagung, eine Nuklease für Muskel- und Gewebekern¬
verdauung, eine Lipase für Fettspaltung, das dem im Speichel befindlichen gleiche Ptyalin
für die Stärkeumwandlung. Die Fermente für die Eiweiß- und Fettverdauung sind nicht
ersetzbar, wohl aber kann ein weitgehender Ersatz für das Ptyalin erfolgen. Für die
Wirksamkeit der Pankreasdrüse ist nur die Intaktheit des Drüsenapparates wichtig, eine
Abschlußhinderung des Saftes allein braucht keine Verdauungsstörung zu machen. Die
Galle ist für uns weniger wichtig. Die gallensauren Salze aktivieren die Lipase, die
halten Fettsäuren und Seifen in Lösung. Die Sekrektion der Galle ist kontinuierlich.
Ihre Entleerung erfolgt reflektorisch, durch Berührung der Duodenalschleimhaut mit Fett
und Albumosen. Bei Fehlen der Galle würde zwar die Spaltung der Fette gut sein, aber
Fettsäuren und Seifen sind dann nicht gelöst, sie werden nicht resorbiert, umhüllen viel¬
mehr die Eiweißkörper und hindern deren Zerschlagung. Der Dünndarmsaft wird sezerniert
infolge Berührung des Speisebreies mit der Schleimhaut. Auch ist wohl ein gewisser an¬
regender Einfluß des Pankreassaftes vorhanden. Eine Reihe von Fermenten in ihm sorgt
für vollständige Zerschlagung der Eiweiße, Fette und Kohlehydrate. Eine gleichmäßig
• neutrale Reaktion ist günstig zur Einwirkung der Pankreasfermente. Eine feine Ver¬
teilung des Speisebreies wird durch das Aufbrausen der Kohlensäure, mit der der Dünn¬
darmsaft gesättigt ist, erzielt. Die Beilegungen des Dünndarmes dienen teils der Er¬
leichterung der Resorption (Misch-, Pendelbewegung, Tonusschwankungen), teils zur Vorwärts¬
beförderung der Nahrung (Peristaltik, keine Antiperistaltik). Der Sphincter Ueocolicus
sorgt für fakultativen Verschluß von oben nach unten, für einen festeren von unten nach
oben. Durch letzteren wird eine Fortsetzung der Dickdarmgärung auf den Dünndarm
gehindert.
Über Lage, Form und Bewegung des Dickdarmes gibt uns das Röntgenverfahren Auf¬
schluß. Hier ist nur zu erwähnen, daß selbst erhebliche Schwankungen derselben nicht von
funktioneller Bedeutung zu sein brauchen. Im Coecum und Colon ascendens finden Misch¬
bewegungen statt und dadurch eine Durcharbeitung des dickflüssigen Inhaltes. Zu dieser
mechanischen Nachverdauung tritt eine bakterielle, besonders der Zellulose. Vom Quer¬
kolon an - ist die Bewegung eine rein peristaltische. Es scheint, daß auch ein schub¬
weises Abwärtsrücken der Kotsäule von Zeit zu Zeit erfolgt. Durch die Berührung der
Kotsäule mit der Recturaschleimhaut tritt dann der VerdauungsVorgang, der uns schon
im Coecum l\albbewußt geworden war, ganz an die Oberfläche des Bewußtseins. Jetzt
wird Stuhldrang ausgelöst und durcli eine Verbindung der Tätigkeit von automatischen,
Rückenmarks- und Hirnzentren erfolgt die Kotentleerung.
Auch die Betrachtung der Resorption ist für die Beurteilung der Magendarmstörung
wichtig. Im Magen werden bekanntlich nur Peptone, Albumosen und alkoholische Salz-
und Zuckerlösungen resorbiert. Um so größer ist die Resorption im Dünndarm^ von
wasserlöslichen Substanzen. Die Oberfläche des Dünndarmes wird durch die Lotten
gewaltig vermehrt. Man hat den Menschen mit einer Pflanze verglichen, deren Wflrzeln
das sind die Zotten — in ein halbflüssiges Erdreich tauchend dort ihre Nahrung
suchen. Die Resorption sorgt für ständiges Aufräumen des Dünndarminhaltes; teils
erfolgt sie durch Filtration, Diffusion, Osmose, teils durch eine besondere Trieb- oder
Saugkraft der Epithelien. Die Intaktheit derselben ist daher für die Resorption wichtig.
Eine Störung kann erfolgen durch Stauungen, Entzündungen, mechanische oder chemische
Reizungen usw. Die Resorption der Kohlehydrate als Zucker ist über den ganzen Dünn¬
darm verteilt. Die Eiweißstoffe werden als Aminosäuren die Eiweißkemstoffe als Purinbasen
resorbiert, die Resorption der Fettsäuren und Seifen erfolgt wie gesagt erst, nachdem
sie durch gallensaure Salze in Lösung gebracht waren. Die Resorption im Dickdarm ist
beschränkt, immerhin werden Zucker, Peptone, alkoholische und Salzlösungen in ziemlicher
Menge resorbiert, das beweist die Aufnahmefähigkeit für Nährklistiere. — So wird fast
Digitized by
Gck igle
Original fro-rn
UNIVERSITY OF MICHIGAN
219
Die Funktion des Magendarms als Grundlage der Diagnostik.
alles bei Gesunden und nicht za schlackenreicher Kost restlos resorbiert and es besteht
der Kot fast nur aas Bakterien und Dannsekretresten.
Unsere Kenntnis der Darmbakterien ist lückenhaft, aber doch ist das wenige für die
Diagnostik wichtig. Die bakterizide Kraft des Speichels, die hemmende des Magensaftes,
vor allem die bakterizide Kraft der gesunden Dünndarmschleimhaut, sorgen dafür, daß
im ganzen Magendarmkanal, mit Ausnahme des Dickdarmes, eine Darmflora kaum zur
Entwicklung kommt. Nur bei Schädigung einer der genannten Faktoren, besonders der
bakteriziden Kraft der Dünndarmschleimhaut flammt die Flora auf. Im Dünndarm kann
schon deshalb die Flora nicht zur Entwicklung kommen, weil ihr ständig die Nahrungs¬
stoffe durch die schnelle Passage und Kesorption entzogen werden. Auch mag eine
gewisse Autosterilistation durch eine Toxinerzeugung der Bakterien erfolgen, welche
hemmend auf die Weiterentwicklung der Darmflora wirkt. Im Dickdarm entwickelt sich
^ie Darmflora in vollem Maße. Eine gutartige Eiweißfäulnis und eine Gärung der Kohle¬
hydrate, vor allem aber eine gründliche Verdauung der Zellulose sind die Folge. — Ein
Drittel des Kotes besteht aus Bakterien. Vorherrschend ist ein Kolistamm, der in einer
Art Symbiose mit dem Träger lebt, ferner einige obligate und ungezählte akzidentelle
Bakterien.
Aach für die Zerpflückung des Begriffes Darmstörung ist uns eine ständige
Überlegung der pathologisch-physiologischen Vorgänge unentbehrlich. Die Prüfung
einzelner Zeichen gibt uns an der Hand der Überlegung der Beziehungen der
verschiedenen Funktionsgebiete eine Führung darüber, wo der Grundfehler liegt.
So die Stuhluntersuchung , besonders in Verbindung mit Probekost und Gärungs¬
probe, die Röntgenuntersuchung. Unter diesen ist die einfachste uud zugleich
wichtigste, aber trotzdem häufig versäumte, die Stuhlbeobachtung. Häufig genügt
schon die makroskopische, man kann viel ersehen und unterscheiden aus Form,
Masse, Farbe, Gebundenheit, Schleimgehalt, Nahrüngsmittelresten.
Ich möchte deshalb für Ihre praktischen Bedürfnisse einige Beispiele erörtern,
die sich an die Stuhlbeobachtung knüpfen; Verstopfung und Durchfall. Gewiß
sind diese beiden Symptome als einheitlicher Krankheitsbegriff zu verwerfen.
Immerhin ergibt sich häufig die Notwendigkeit, aus ihnen schon gewisse Schlüsse
zu machen.
Verstopfung. Zunächst kann hinter der Angabe des Patienten, er leide an
Verstopfung, alles mögliche stecken, von der harmlosen zu großen Ausnutzung der
Nahrung an bis zu den ernstesten Darmstörungen. Weitere diagnostische Schlüsse
sind schon erlaubt, wenn sich durch die Untersuchung herausstellt, ob es sich um
eine wirkliche Verminderung der Kotmenge handelt oder nur um Verminderung
des Wassergehaltes, oder seltene Entleerung bei gleichen Kotmengen, oder endlich
nur um Erschwerung der Kotabsetzung infolge eines fehlerhaften Arbeitens des
untersten Darmabschnittes und des Defäkationsaktes, um byschezie.
Die erstgenannte Art der Verstopfung, die zu große Ausnutzung der Nah¬
rung, sondert bekanntlich A. Schmidt als eigenen Krankheitsbegriff: chronisch
habituelle Verstopfung. Als Ursache nimmt er eine konstitutionell gesteigerte
Zelluloseverdauung durch zu starke Ferment- oder Bakterientätigkeit an; im
Magen, Dünn- und Dickdarm. Eine verminderte Dünndarmperistaltik würde sich
bei vermehrter Resorption von selbst ergeben. Diese Art der Verstopfung sei
also ein eupeptischer Zustand, der zu einem dyspeptischen erst werde durch Ab¬
stumpfung des peristaltischen Reflexes, durch Reizung der Schleimhäute, infolge
anhaftender fester Kotmassen oder infolge Mißbrauchs von Abführmitteln, durch
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
220
Determann
Erschwerung der Kotentleerung mit seinen hypochondrischen Begleiterscheinungen,
durch zahlreiche, sich hierauf bauende und gerade mit diesem Bilde der Ver¬
stopfung zusammenhängende neurasthenische Folgen.
Dieser gewissermaßen primären Verstopfung stehen gegenüber die sekundären,
die entstehen können zunächst infolge von Erschwerung oder Verhinderung des
Durchganges , durch Stenose oder Verschluß des Darmes, infolge von Geschwüren
Entzündungen, Verwachsungen, Verziehungen. — Sodann bieten eine Ursache für
Verstopfung zweifellos die im Röntgenbild nachweisbaren Lage und Lumenver¬
änderungen des Dickdarms, wie die Coecum-Dilatation, das Coecum mobile, zu
scharfe Knickungen an den Flexuren, Schlingen- und Schleifenbildung im Quer¬
colon und der Flexura sigmoida. Inwieweit alle diese Dinge nur begleitende, mit
der Verstopfung gleichwertige Anzeichen desselben Grundleidens (Asthenie, Enterop-
tose) sind, inwieweit sie die Verstopfung verursachen oder Folgen derselben sind,
ist oft schwer zu unterscheiden. Ganz leugnen kann man ihre ursächliche Be¬
deutung nicht. — Weiterhin kommt als Ursache in Betracht der Krampf der
Darmmuslculatur , besonders durch Reizung der hemmenden Darmnerven, des
Splanchnicus, z. B. bei Bleivergiftung, bei Peritonitis, auch bei nervös-erregbaren
Leuten in Form einer „abnormen nervösen Einstellung der Colon-, und Rectutn-
peristaltik“ (Nothnagel). Der Umstand, daß der Dickdarm schon mit dem Bewußt¬
sein wieder reger verbunden ist wie der Dünndarm, macht auch die Verstopfung aus
nervös-psychischen Ursachen erklärlich. Hierher gehören viele Formen sogenannter
spastischer Verstopfung, hierher auch viele Dyschexieformen, besonders, wenn durch
unzweckmäßige Gewohnheiten der Kotentleerungsmechanismus falsch eingeleitet ist.
Auch sind hierher zu rechnen manche Formen verminderter Ansprechbarkeit der
Dickdarmschleimhaut auf Reize, wie sie so häufig die Folge des Mißbrauchs von
Abführmitteln ist. Endlich sind als sekundäre Verstopfungen anzusprechen die
wirklichen Schwächexustände der Darmmuskulatur seniler und kachektischer Art,
nach schweren Krankheiten, besonders des Darmes.
Auch der Durchfall ist als einheitlicher Krankheitsbegriff selbstverständlich
zu verwerfen. Einerseits ist er, wenn nur in den unteren Dickdarmteilen sich ab¬
spielend, oft ohne große Bedeutung, andererseits braucht auch bei schweren Darm¬
erkrankungen keineswegs Durchfall vorhanden sein. — Eine Beschleunigung der
Dünndarmperistaltik als primäres Moment wird oft für wichtiger gehalten, als sie
verdient. Auch eine primäre Störung der Resorption ist nicht so häufig, als man
denken sollte. Meistens wird ja die Grundsubstanz des Durchfallsstuhles durch
Ausscheidung von Flüssigkeit in das Darmlumen geliefert, denn die Resorption
erledigt ihre Aufgabe auch bei Durchfall noch leidlich gut, wenn der Darminhalt
gut abgebaut, also resorptionsfähig ist, weil die Epithelien der Schleimhaut sich
wahrscheinlich auch in erkranktem Zustande in gewissem Grade dieser Aufgabe
gewachsen erweisen, und weil die Länge des Dünndarms selbst bei Wegfall eines
Teiles der resorptiven Oberfläche noch für eine leidlich vollständige Erfüllung der
Resorption bürgt. Nur bei gewissen ernsten Veränderungen der Darmschleimhaut
(Amyloid, schwere Katarrhe mit Schleimbelag) und des Lymphdrüsenappar&tes
(Tabes mesaraica) sind primäre Resorptionsstörungen zu erwarten.
Sind aber die Nahrungsstoffe, die in den Dünndarm treten, nicht genügend
abgebaut, wie bei Achylie, oder werden sie, wie z. B. bei Pankreas- oder Gallen-
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die Funktion des Magendarms aU Grundlage der Diagnostik.
221
Störungen, nicht genügend weiterverdaut, so ist eine schlechtere Resorption und
eine beschleunigte Dünndarmperistaltik nicht die Ursache , sondern die Folge der
Funktionsstörung , da schlecht verdauter Danninhalt nicht resorbierbar ist und die
Dünndarmwände chemisch oder mechanisch reizt. Aber nicht nur bei schlecht
verdautem Darminhalt wird eine beschleunigte Dünndarmperistaltik einsetzen,
sondern auch dann, wenn xu viel gutverdauten, also resorptionsfähigen Materials
in der Zeiteinheit auf den Dünndarm einstürmt. Dann kann die Resorption nicht
schnell genug nachkommen. In beiden Fällen ist eine vermehrte Dünndarm¬
peristaltik zweckmäßig insofern, als sie der Entwicklung einer Darmflora im Dünn¬
darm den Nährboden entzieht und diesen dem Dickdarm zur bakteriellen Nach¬
verdauung übergibt- Dieselbe ist dann auch im Dickdarm oft in hohem Grade ent¬
wickelt, sie bewirkt bei ernsten Störungen der Magen- oder Dünndarmverdauung
eine noch einigermaßen genügende Ausnutzung der Nahrungsstoffe. So ist es auch
häufig bei der Gärungsdgspcpsie, deren Ursache in einer konstitutionellen Schwäche
der Zelluloseverdauung im Magen oder Darm liegen kann. Zwar haben sich
in der jetzigen Zeit wohl die meisten Menschen an das Mehraiigebot von Zellu¬
lose durch Neueinstellung von Fermenten gewöhnt, jedoch sind die Fälle von
Gährungsdyspepsie häufiger geworden. In einigen solcher Fälle fand sich bei der
Röntgenuntersuchung eine außerordentlich schnelle Magenentleerung mit gleich¬
zeitigen sekretorischen Veränderungen. Ich möchte demnach annehmen, daß recht
häufig die Schuld zu. vermehrter Gärung nicht so sehr Schuld des Darmes, als
Schuld des Magens ist. Es wird dann in der Zeiteinheit zu viel gärungsfähiges
Material auf einmal dem Darm überliefert.
Es ist verständlich, daß durch Reizung der Darmwände eine selbstständige
Dünndarm erkrankung entstehen kann mit Transsudation der Schleimhaut. Es
erfolgt dann ein Auf flammen der Bakterienflora, denn die bakterizide Kraft der
Schleimhaut ist jetzt vermindert, manche, die Bakterien vernichtende Fermente
fallen weg, ein günstiger Nährboden ist im Transsudat vorhanden. Man hat viele
Begleiterscheinungen bei Magendarmerkrankungen durch eine Vergiftung mit vom
Magendarm ans resorbierten Stoffen zu erklären versucht; besonders bei gewissen
mit Magendarmerscheinungen einhergehenden Erkrankungen, wie Magentetänie,
Spasmophilie, gewissen Formen von Albuminurie, einigen mit Urtikaria und
anderen Hauterscheinungen einhergehende Erkrankungen. Manches spricht für
die Richtigkeit dieser Annahme, wenn auch die Gradmessung der giftigen Sub¬
stanzen in Urin und Stuhlgang bis jetzt nicht beweiskräftig und zum Teil nicht
durchführbar war, und auch die Giftigkeit von besonders angeschuldigten Zerfall¬
produkten, z. B. Indol, Phenol, Azeton, in den kleinen in Betracht kommenden
Mengen nicht einwandfrei erwiesen war. Eine ständige Autointoxikation vom
Darm aus anzunehmen und dadurch eine Menge Begleiterscheinungen bei Ver¬
stopfungszuständen und leichten Katarrhen zu erklären, wie es in Metschnikoffs
Spuren Combe tut, geht nicht an.
Auch nervöse Durchfälle sind nicht selten. Jedenfalls ist anzunehmen, daß
auch sie mit einer Transudation in das Dünn- oder Dickdarmlumen einhergehen
So bei Erregungen, Schreck, Angst, bei der man, wie Ury sagt, „in den Darm
hineinschwitzt“; so auch bei den Durchfällen gewisser funktioneller und or¬
ganischer Nervenkrankheiten (Migräne; Orises gastriques bei Tabes) vielleicht auch
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSETY OF MICHIGAN
222
Referate Aber Bacher und Aufsätze.
bei den Durchfällen des Morbus Basedowii und des Morbus Addisonii, über deren
Zustandekommen man im übrigen noch nichts Bestimmtes weiß. Auch sind in
diesen Zusammenhängen die Durchfälle durch toxische Reixe und die anaphylakti¬
scher Art zu erwähnen^ bei denen die Resorption artfremder Stoffe zunächst be¬
sonders den Darm reizt. Die Darmstörungen sind dann als Teilerscheinungen
der Erkrankung in gleiche Linie mit denen der äußeren Haut zu setzen.
Nicht zu übersehen ist, daß bei vielen Dünndarmstörungen gar kein Durch¬
fall besteht, da der Dickdarm durch Eindickung oder gesteigerte Nachverdauung
und Resorption des Darminhalts den Schaden auszugleichen sucht. Die Stuhlunter¬
suchung (Dünndarmschleim, schlechte Ausnutzung) wird die Diagnose klären. Oft
aber auch entsteht durch die ständige Reizung mit zersetztem Inhalt ein Dick¬
darmkatarrh, der auch nach Abklingen der Dünndarmstörung oft lange Zeit selb¬
ständig weiter besteht. Viele Diarrhöen haben ja auch von vornherein ihre primäre
Entstehung im Dickdarm (durch Mißbrauch mancher Abführmittel, durch verhär¬
tete Kotmassen), auch hierbei ist die Diagnose durch die Stuhluntersuchung leicht
zu stellen.
Meine Herren! Es konnte gemäß der Fassung meines Themas nicht meine
Aufgabe sein, Ihnen auch nur einen Überblick über die Diagnostik des Magen¬
darmkanals zu geben. Ich mußte mich darauf beschränken, unter ständigen Hin¬
weis auf die Physiologie und pathologische Physiologie des Magendarms an
einigen Beispielen darzutun, um wieviel sicherer die Diagnostik 6ich aufbaut bei
funktioneller Betrachtungsweise, als wie bei bloßer erfahrungsgemäßer Überlegung.
Referate über Bücher und Aufsätze.
A. Diätetisches (Ernährungstherftpie).
Heinshelmer (Baden-Baden), Kriegskost nnd
Magenchemismus« Med. Klinik 1918. Nr. 12. j
Während Verfasser in einer früheren Unter- i
suchungsreihe bei magenkranken Soldaten in !
30 % Acbylie beziehungsweise Achlorhydrie j
fand, weichen seine neueren Ergebnisse in '
dieser Beziehung erheblich ab. Bei 360 Sol- I
daten mit Magenbeschwerden fand er in {
34,7 % normale Salzsäure werte, in 20,2 °/ 0 Sub- j
acidität, in 12,7 % Subacidität und in 32,2 %
Ryperacidität. Das bedeutet eine erheb¬
liche Zunahme der hyperaciden Befunde und
wird als Beweis dafür aufgefaßt, daß die
Kriegskost bei zunehmender Dauer des Krieges
auf den Magenchemismus mehr im Sinne der
Heizung als im Sinne der Abschwächung der
Drüsensekretion wirkt Von den 32 % Hyper- |
aciden war übrigens die Mehrzahl nicht wirk¬
lich magenkrank, es handelte sich um Er¬
schöpfungszustände mit dyspeptischen Be¬
schwerden. W. Alexander (Berlin).
E. Feer (Zürich), Über die Verwendung
des Vollmehls in der Sängllngsernährnng
nnd über das Vollbrot Im " allgemeinen.
Korrespond. Blatt f. Schweiz. Ärzte. 1917.
Nr. 52
Auch die Schweiz läßt das Korn jetzt
bis 87 °/ 0 ausmahlen (Deutschland jetzt bis 94 %,
im Frieden oft nur bis 60—70 %). Das Voll¬
mehl bat Verfasser auch in der Säuglingsnah¬
rung angewandt, und zwar vom 3. Monat an.
Gegeben wurde 5 g im Tag pro laufenden
Lebensmonat, also im dritten Monat 15 g.
Kinder mit ungestörter Ernährungsfunktion
ertrugen das 80—87 %ige Vollmehl in gleicher
Digitized by
Go igle
Original fro-rn
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Referate über Bücher und Aufsätze.
223
Weise wie das Feinmehl. Aber auch bei er-
nährungsgestörten Kindern, die das Mehl zur
Frauen-, Butter-, Eiweiß-, Eiweißrahmmilch er¬
hielten, ergab sich kein Unterschied zwischen
Feinmehl und Vollmehl, bei der Substitution
des Feinmebls durch das Vollmehl trat keine
Verschlechterung des Befindens und der Zu¬
nahme ein. Das Vollkornbrot wurde von Er¬
wachsenen gut vertragen mit Ausnahme von
Schwerkranken und Magendarmleidenden. Das
Vollmehl enthält mehr Asche und Phosphor,
was vielleicht ein Vorteil ist. Die N-Aus-
nutzung ist nach einiger Gewöhnung nicht
viel schlechter als beim Feinmehl, trotz des
größeren Zellulosegehalts. Die größere Kau¬
arbeit beim Vollkornbrot hält auch Verfasser
für nützlich für die Zähne. Jap ha (Berlin).
F. BIrkner und J. Deinlnger, Beiträge
rar Zusammensetzung und Untersuchung
von Fleisch und Fleischwurst. Chemiker-
Ztg. 1918. S. 89.
Die große Zahl von Wurstwaren, die
wegen zu hoben Wassergehalts beanstandet
werden mußten, gab den Verfassern Ver¬
anlassung zur Untersuchung der verschie¬
densten Wurstarten.
Bei der Herstellung der Wurst kann zu
drei Gelegenheiten ein Wasserzusatz er¬
folgen: 1. es wird dem körperwarmen Rind¬
fleisch Wasser zugefügt (frischgeschlachtetes,
körperwarmes Fleisch vermag bis zu 100%
Wasser aufzunehmen); 2. durch das Heraus-
d eh men des Schweinefleisches aus der Salz¬
lösung, in die es vor der Verarbeitung zu
Wurst gelegt wird, kann Wasser mit herüber¬
genommen werden; 8. wird der Wurstmasse
vor dem Einfüllen in die Därme noch Wasser
zugesetzt.
Die sorgfältigen und zahlreichen Analysen
der Verfasser ergaben non, daß diese reichliche
Gelegenheit zu gewissenlosen Verfälschungen
von vielen Fleischern gründlich ausgenützt
wird. Als höchster Wassergehalt von Fleisch¬
wurst wurden 81,85% festgestellt! Die Aus¬
rede der Metzger, sie hätten im Kriege das
fettreiche Schweinefleisch fortlassen müssen,
ist keineswegs stichhaltig: „In dem Weglassen
des Fettes bzw. fetten Schweinefleisches und
der dadurch bedingten Herabsetzung des Nähr¬
wertes ist offensichtlich ein Vergehen gegen
§ 10 des Nahrungsmittelgesetzes zu erblicken,
da den Käufern unter der gleichen Bezeichnung
wie früher ein Erzeugnis von anderer und
zwar minderwertigerer Zusammensetzung an¬
geboten und verabfolgt wird. Der Mangel an
Schweinefleisch kann keinen genügenden Ent¬
schuldigungsgrund bilden, da Wurstwaren,
die früher stets einen entsprechenden Fett¬
gehalt aufwiesen, auch während der Kriegs¬
zeit keinesfalls unter Verschweigung des Um¬
standes, daß kein Fett mehr zugesetzt sei,
unter der gleichen Bezeichnung wie früher
und um den gleichen Preis, wie von reellen
Metzgern mit Fettzusatz hergestellte Wurst¬
waren, hätten verkauft werden dürfen. Als
weiter erschwerend käme noch in Betracht,
daß auch die Preise für die sonst handels¬
übliche Ware, den jeweiligen Verhältnissen
entsprechend, mehrmals erhöht wurden. tt
Walter Briegcr (Berlin).
B. Hydro-, Balneo- and Klim&to-
therapie.
R. Eisenmenger, Der hydrostatische Bruck
als therapeutische Komponente des Bades.
Ther. d. Gegenwart 1918. April.
Das Wasser übt auf die Fläche des einge¬
tauchten Körpers einen hydrostatischen Druck
aus, der allein von der Höhe der Wassersäule und
des spezifischen Gewichts abhängig ist Ver¬
fasser berechnet den Druck auf die etwa 1% qm
große Körperfläche eines bis zum Halse im
Wasser stehenden Menschen auf 1125 kg.
Wenn wir auch infolge der gleichmäßigen
Verteilung des Druckes auf eine relativ große
Fläche nicht die Empfindung eines so starken
Druckes haben, so kann doch eine so intensive
mechanische Einwirkung kein indifferentes
Agens für unseren Organismus sein.
Man kann nun diesen Drack willkürlich
verändern, indem man entweder den Körper
durch eine mechanische Vorrichtung mehr oder
weniger tief eintaucht oder bei ruhendem
Körper den Wasserspiegel durch Zu- oder Ab¬
fluß senkt oder hebt. Für beide Vorrichtungen
werden Modelle angegeben. Die physiologische
Wirkung eines solchen „Wasserdruckbades“
auf Zirkulation und Respiration ist eine große.
Während des Anstieges des Wassers wird
der Bauch und die untere Thoraxpartie gleich¬
mäßig komprimiert, die Ausatmung erleichtert
und verstärkt, beim Sinken des Wassers wird
durch Wegfall der Belastung (auch des Zwerch¬
felles!) die Einatmung erleichtert. Vor den
bekannten „Atmungsstühlen“ hat dies Verfahren
den Vorteil, daß hier zugleich auf Bauch und
Zwerchfell intensiv eingewirkt und so die
Digitized by
Go igle
Original fro-rn
UNIVERSITY OF MICHIGAN
224
Referate über Bücher und Aufsätze.
großen Gefäße ausgedrückt werden, wodurch
der Rückfluß des Blutes nach dem Herzen be¬
günstigt wird.
Aus diesen physiologischen Eigenschaften
des Verfahrens.ergeben sich klinisch folgende
Indikationen:
Magendarm-Atonie, Obstipation, Stau¬
ungen im Pfortaderkreislauf, Stauungsleber,
Hämorrhoiden.
2. Chronische Herzmuskelinsufflzienz, Herz¬
neurosen.
3. Chron. Bronchitis, Emphysem, Asthma
bronchiale, gastrische Krisen {? Ref.).
4. Chron. Erkrankungen der Nieren, Milz,
Pankreas
Gegenanzeigen bilden entzündliche
geschwürige Prozesse, Blutungen aller Art,
Aneurysma, Arteriosklerose stärkeren Grades,
besonders der Hirngefäße.
Die Hydrotherapie soll künftig außer der
Temperatur, der Dauer, dem mechanischen
Reiz und individuellen Verhältnissen auch den
Wasserdruck mit in Betracht ziehen.
W. Alexander (Berlin).
Ferd« Scheminzky, Die Emanation des
Wassers* W. kl. Rundschau 1918. Nr. 1/2.
„1. Emanationswellen aller Art wirken
analog den Lichtwellen, zersetzend auf die
photographische Platte ein. Aus diesem Grunde
kann die photographische Methode zum exakten
Nachweise der Emanation herangezogen
werden. 2. Die verschiedenen Wasserarten
zeigen auch eine verschiedene Aktivität. Von
allen scheint das Tümpelwasser bei gleicher
Belichtungszeit die stärkste, destilliertes
Wasser die schwächste Aktivität zu haben.
3. Die Polarisation ist eine Tatsache, mit der j
man rechnen muß. 4. Der längere Einfluß
von Emanationswellen des Wassers, von
Erzen usw.. ruft im Nervensystem eine Über¬
reizung hervor, die zu gesundheitlichen Schä¬
digungen, bei Hochsensitiven sogar zu Krank¬
heiten führt. 5. Es ergibt sich daraus die
Lehre, die Schlafstellen durch einen Ruten¬
gänger untersuchen zu lassen. 6. Die Tiefen*
bestimmüng mit der Rute kann durch mathe¬
matische Behandlung der empirischen Ruten¬
befunde genau durchgeführt werden. 7. Ema¬
nationsphotographien reagieren auf das si-
derische Pendel. 8. Die Emanation kann
nichts Materielles sein. 9. Es bleibt nur die
Annahme der Wellenform übrig, die durch
viele Tatsachen gestiizt wird.*
L. Katz (Berlin-Wilmersdorf). |
C. Elektro-, Lieht- and Röntgen-
ther&pie.
B* Hirsch feid (Charlottenbnrg), Bemer¬
kungen zur Therapie der hysterischen
Taubheit« Med. Klinik 1917. Nr. 33.
Bei Lähmungen auf hysterischer Grundlage
bringt man durch elektrische Reizung vom
Nerven ans die Extremität zur sichtbaren Be¬
wegung; dadurch wird in dem Kranken die
Vorstellung erweckt, daß er das Glied wieder
bewegen kann. Durch anschließende Verbal¬
suggestion wird gewöhnlich schnelle Heilung
erzielt. Dasselbe Prinzip hat Verfasser bei
Blindheit durch den galvanischen Lichtblitz
mit gutem Erfolg angewandt. Durch Kathoden¬
schluß entsteht bei Aufsetzen der kleineren
Kathode hinter dem Ohr schon bei mäßigem
Strom ein Klang. Dieses galvanische Hör¬
phänomen hat Verfasser als Angelpunkt für
die Suggestionbebandlung hysterisch Ertaubter
mit Erfolg ausgenutzt. Der Kranke gab sofort
an, den Klang zu hören und war nach wenigen
weiteren Sitzungen geheilt. (Siehe auch diese
Zeitschrift 1918, Februar.)
W. Alexander (Berlin).
D. Verschiedenes.
Fr« Engelmann, Gefahren und Verhütung der
Erkältungskrankheiten, insbesondere bei
Kleidungs-, Schuh- und Kohlenknappheit.
München, Verlag von Otto Gmelin.
Als 41. Heft der Sammlung „Der Arzt als
Erzieher“ wird obige Arbeit von einem Kollegen,
der im Felde steht, veröffentlicht, um der Be¬
völkerung ln der Heimat das Frösteln fürs Vater¬
land zu erleichtern. Manche Kapitel über das
Problem der Erkältung,und die experimentellen
Versuche des Autors werden auch vom Arzt
mit Interesse und Nutzen gelesen werden. Ver¬
fasser kommt zu dem Schluß, daß die Erkältungs¬
krankheiten der verschiedenen Organe auf kalte
und besonders naßkalte Füße zurückzuführen
sind, welche eine ungleiche Blutverteilung im
Körper bedingen und dadurch seine Abwehr¬
kräfte schwächen. Er bespricht Heizung und
Lüftung der Wohnung, Behandlung des Schuh¬
werks und als bestes Mittel gegen kalte Füße,
deren Bewegung. Das Heftchen endet mit einem
Merkblatt von 20 Sentenzen, in welchen ra¬
tionelles Denken und ärztliches Judizium sich
harmonisch verbinden.
Bl i tat ein (Berlin-Wilmersdorf).
W. Büxenstein Druckerei und Deutscher Verlag G. m. b. H., Berlin SW. 48.
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSETY OF MICHIGAN
mm
WWWHWt H 1 Mi wuö uti # «*a fRjfcgs
►. T ■♦ ®^L!VWtSLw +S •: -s>Cv:#-7?i?sr^jj
ä ** jt* jrkli * jt 3 I
Ja .5« ui»«ä *4*0 >* P*cV«t , it«(*, ; ,'
4«tf» GÄo#u«!i*KiWel*«n| fc«nie#,.
li
^1
k HB
(3§£&:
PSSSa
K 3M 1
Issgg
flli
ife
Mrae 1
I|i§
rafö
Hl
SgS®
KSto
■^s^i
^^ ■ ^ .. T t. I, T i,..i I ? ,-. . - .^ ... > >;/-<V 4 -4 < - **« *r^-^ir V^-- - l .-i* r%^L v iV*'~ t—^ l
Ei f ^83*>^^5^*^^v r sS$S3^’ 4 ^
ifl^nw—m——ll—M^—Mfyriirtr'r- ^T -■ « r . .1« .1.1 ■■!■.—■ ■ ■■ ■i —m ■■■ ■ n i ■! ■ ■■! ■■■!iiiiii ifcläifVTmiaMMnrtK -V*r 5
Hochzuverehrender Herr Geheimrat!
Durch freundliche Unterstützung des Redaktionsvertreters und anderer
Kollegen in der Heimat und durch das Entgegenkommen des Verlegers ist es mir
gelungen; Arbeiten der meisten Ihrer früheren Schüler zu einer bescheidenen
Festschrift zu vereinigen. Die Mitarbeit zahlreicher im Felde stehender Autoren,
die Überwindung mannigfacher, durch den Krieg bedingter Schwierigkeiten möge
Ihnen zeigen, wie stark der Wunsch war, dem verehrten Lehrer und Meister eine
Geburtstagsgabe zu überreichen, die ihn erfreuen soll. Nehmen Sie dieselbe ent¬
gegen als ein äußeres Zeichen der Dankbarkeit, die wir alle Dinen schulden.
Unser Wunsch aber sei:
In multos annos!
W. Alexander,
z. Z. im Felde.
Zeitaehr. f. pbyuik. n. diät. Therapie lkl. XXII. Heft S D.
■igiti _ J:y
Gck igle
15
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Difitized by Gck >gle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Digitized b>
Go gle
Original fr cm
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Widmung.
Geheimrat Professor A. Goldscheider vollendet am 4. August 1918 sein 60. Lebens¬
jahr und die Mitherausgeber dieser Zeitschrift schicken sich an, dieses Ereignis durch
eine Festnummer zu feieipi, um in Gemeinschaft mit seinen Schülern ihre Verehrung für
ihn kundzutun.
Die physikalische Therapie stand in Deutschland unter glücklichem Stern, indem
sich führende Kliniker ihrer angenommen haben. Während die Bestrebungen namhafter
Vertreter der physikalischen Therapie in anderen Ländern durch Jahrzehnte gegen offenen
und versteckten Widerstand zu kämpfen hatten, stellten, sich in Deutschland v. Leyden
und Goldscheider an die Spitze der Bewegung und sicherten sich durch die Gründung
unserer Zeitschrift und durch die Herausgabe der zwei großen Handbücher der diäteti¬
schen und physikalischen Therapie mit eine führende Stellung nicht nur für die Länder
deutscher Zunge, sondern für die ganze Welt.
Goldscheiders Anteil beschränkt sich weitaus nicht auf die Führung im Großen,
ihm verdanken wir eine Reihe von Arbeiten, die uns dem Verständnis der komplizierten
Wirkungen physikalischer Reize näher brachten. In dem herrlichen Vortrage: .,Über die
physiologischen Grundlagen der physikalischen Therapie“ findet jeder Arzt, jeder Physio¬
therapeut eine Fülle von Aufklärung; der großartige Aufbau und die Beweisführung in
dem Vortrage müssen auch jeden Biologen und zünftigen Experimentalpathologen in hohem
Maße befriedigen und anregen.
Schon unter den ersten Arbeiten Goldscheiders sind die ersten Steine zum
späteren prächtigen Bau zu finden. Seine Untersuchungen über die Hautsinnesnerven (1885),
über den Temperatursinn (1886), dessen Topographie (1887) und Reaktionszeit (1888),
weiter die Versuche über die Einwirkung der Kohlensäure auf die Hautnerven (1887)
ergaben vielfache Aufklärung der Wirkungen thermischer Einflüsse, die Arbeiten über den
Muskelsinn und die Theorie der Ataxie (1888), über die Wahrnehmung passiver Bewe¬
gungen (1887), über den Muskelsinn (1889) und über die Empfindlichkeit der Gelenk¬
enden (1889/90) dienten nicht nur der richtigen Wertung verschiedener Symptome bei
schweren Erkrankungen des Zentralnervensystems, sondern auch dem wissenschaftlichen
Ausbau der Übnngstherapie derselben Krankheiten.
In einer Unzahl von Arbeiten übertrug dan^ der Kliniker Goldscheider die vom
Physiologen und Experimentator Goldscheider gefundenen Tatsachen in die Praxis,
unermüdlich tätig, jede Gelegenheit, selbst während der mühseligen Tätigkeit im Kriegs¬
gebiete benützend, spendet er die Früchte seiner großartigen Veranlagung und seines
Fleißes, und Generationen von Ärzten werden ihm Dank wissen.
Wir beschränken uns darauf, nur das hervorragende Verdienst Goldscheiders um
die Lehren hervorzuheben, deren Propagation unserer Zeitschrift obliegt, seine sonstigen
großen Verdienste um die klinische Diagnostik und die klinische Forschung überhaupt
werden sicher an geeigneter Stelle Würdigung erfahren.
Wir haben das innige Bedürfnis, heute zu betonen, daß wir Goldscheiders
profunde Weisheit in der Erfassung der Dinge bewundern, daß wir ihn als leuchtendes
Beispiel für die Ärzte schätzen, deren Erziehung für Forschung und Praxis teilweise uns
anvertraut ist, und daß wir in ihm den genialen Führer verehren, der durch seine Art
zu arbeiten zu diesem Amte mehr berufen ist, als irgend ein anderer.
Es möge uns das Glück beschieden sein, uns seiner Arbeit noch viele Jahre zu
erfreuen.
L. Brieger. A. Strasser.
Digitized by
Go igle
15 *
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Inhaltsverzeichnis
A. Physikalische Therapie.
L. Brieger, Einige hydrotherapeutische Winke für die Praxis.
H. Guggenheimer, Zur Röntgentherapie des malignen Granuloms und der Polycythämie.
H. Hirschfeld, Zur Prognose und Röntgentherapie der lymphatischen Leukämie.
A. Laqueur, Praktische Bemerkungen zur Diathermiebehandlung.
E. Schlesinger, Zur Radiumbehandlung des Krebses, insbesondere des Rektumkarzinoms.
B. Nervenkrankheiten.
W. Alexander, Über Polyneuritis (ambulatoria) mit Diplegia facialis.
Kretschmer, Zwei neurologische Fälle.
K. Krön er, Zur Frage der Kriegsneurosen auf Grund von Beobachtungen an der Front.
K. Singer, Prinzipien und Erfolge der aktiven Therapie bei Neurosen.
E. Tobias, Über Brachialgien und ihre Behandlung nebst Betrachtungen zur „Neuralgies-
Diagnose.
E Wolff, Beitrag zu den Verletzungen des Konus medullaris und der Kauda equina.
C. Innere Krankheiten.
v. Golz, Zur Begutachtung der Erwerbsfähigkeit bei der chronischen Lungentuberkulose im
Invalidenrentenverfahren.
E. Herzfeld, Über Puls- und Blutdruckuntersuchungen bei Kriegsteilnehmern.
H. Schirokauer, Die klinische Bewertung der Plethysmographie bei Herzkrankheiten.
P. Schrumpf, Die Syphilis des Herzens und der Gefäße (Häufigkeit, Diagnose und Be¬
handlung).
D. Yerdauungs-, Stoffwechsel- and Konstitutionskrankheilen.
M. Ehrenreich, Die Heilung der habituellen Ctuhlträgheit durch Trinkkuren in Kurorten.
R. Ehrmann, Über Akromegaloidismus und zur Theorie der inneren Sekretion.
H. Gcrhai^tz, Über die Beziehungen zwischen Wasser- und Kochsalzretention. Zur Theorie der
Ödcmbildung durch Salzzufuhr.
E. Steinitz, Über den Einfluß therapeutischer Maßnahmen auf den Harnsäuregehalt des Blutes
und die Verwertung der Beobachtungen für die Gichttherapie.
E. Infektionskrankheiten.
U. Friedemann, über zwei eigenartige Fälle von Infektion der Ösophagus- und Magen¬
schleimhaut.
Hoefer, Serumtherapie bei Fleckfieber.
E. Mosler, Die Beziehungen des Wolhynischen Fiebers zu anderen Krankheiten.
A. Strasser, Malariarezidiv und Heilung.
Walterhöf er, Über infektiöse Lebererkrankungen.
Digitized by
Gck igle
Original fro-rn
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Original -Arbeiten.
A. Physikalische Therapie.
i.
Einige hydrotherapeutische Winke für die Praxis.
Aus der hydrotherapeutischen Anstalt der Universität Berlin.
Von
L. Brieger.
Meine Tätigkeit in der hydrotherapeutischen Anstalt der Universität Berlin
und in der Anstalt der Zentralkommission der Krankenkassen Berlins gibt mir
Gelegenheit, auf einige hydrotherapeutische Begriffe einzugehen, die meiner Meinung
nach zu wenig beachtet werden.
Man vergißt, daß gerade die Hydrotherapie als symptomatische Heilmittel¬
methode mit mechanischen und thermischen Reizen arbeitet und daß diese Reize
in bezug auf ihre Stärke und Dauer abgestimmt werden müssen, um je nach In¬
dikation beruhigend oder erregend zu wirken. Es besteht eben in dieser exacten
Dosierung die Kunst der Hydrotherapeutik und ich finde, daß in den meisten
Lehrbüchern auf diese feine Nuancierung der Maßnahmen zu wenig Rücksicht
genommen wird.
Die wichtigsten Erkrankungen des Bewegungsapparates, an den speziell in
der jetzigen Zeit mehr als sonst größere Anforderungen gestellt werden und der
stärker als in Friedenszeiten den schädigenden Einflüssen der Witterung ausgesetzt
ist, sind die verschiedensten Arten der Arthritiden, mögen sie nun idiopathischer
oder sekundärer Natur sein.
Wie bei so manchen anderen pathologischen Prozessen, spielt bei den in
Frage kommenden arthritischen Erscheinungen im Heilplan das Hyperämisieren
eine große Rolle.
Statt nun zuerst durch derartige Prozeduren die lokalen Blutzirkulations-
Verhältnisse in den Gelenken zu verbessern, kann man leider sehr oft sehen, wie
die Behandlung derartiger lokaler oder universeller Arthritiden mit Gymnastik und
Massage sofort einsetzt, wobei die Popularität der Massage als Panacee für alle
möglichen Leiden die Ausführung der Verordnungen begünstigt.
Wiederholt findet man, daß auch die Bedeutung allgemeinerWärmeeinwirkungen
als Anregung der Stoffwechselvorgänge nicht genügend geschätzt wird, auch in
solchen Fällen, die mit Harnstoffablagerungen und postinfektiösen Gelenkerkran¬
kungen nichts zu tun haben. Daher werden wir stets bei diesen Erkrankungen,
sowie Arthropathien infolge Nervenkrankheiten und Trauma, von vornherein auf
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSETY OF MICHIGAN
230
L. Brieger
entsprechende Hyperämisierung und Stoffwechselanregung der zirkumskripten
leidenden Teile oder des ganzen Körpers Wert legen.
Neben den allgemeinen Prozeduren, wie Vollbädern, Schwitzbädern usw. kommt
für die Anstaltspraxis wohl am meisten die lokale Anwendung der Hitze in
Gestalt des Dampfstrahles, der Heißluft und des Fön neben Sandsäcken und
Kompressen, erregenden Umschlägen sowie Schlammpackungen usw. in Betracht.
Niemals darf nach Anwendung eines dieser Heilfaktoren die Abkühlung aus-
bleiben, geschehe sie nun in Form eines zum Schlüsse abgekühlten Vollbades,
eines Halbbades, einer kalten, öfter gewechselten Kompresse oder Longuette oder
flüchtigen kalten Waschung. Eine Dusche ist nur dann am Platze, wenn kein
Rezidiv zu befürchten ist und außerdem dieselbe als Abhärtung dienen soll.
Sehr oft kommen die Patienten nach den ersten Prozeduren, denen eine
Verschlimmerung gewöhnlich folgt, mit Klagen über unerträgliche Schmerzen und
versuchen, durch ihre Bitten andere Applikationen zu erlangen. Es ist von größter
Wichtigkeit, in solchem Falle standhaft zu bleiben und die Kranken auf die stets
eintretende Verschlimmerung in den ersten Tagen als günstiges Zeichen einer bald
einsetzenden Heilung aufmerksam zu machen.
Speziell für den praktischen Arzt, der nicht über eine größere Anstalt verfügt,
kommen die lokalen Heißluftbäder in Betracht, für deren Anwendung die Technik
verschiedene Modifikationen erfunden hat. Sie werden vor allem in der Landpraxis,
bei den häufig vorkommenden Verstauchungen, Brüchen und örtlich beschränkten
Rheumatismen Verwendung finden. Weil gerade bei diesen lokalen Heißluftbäderu
die Hyperämisierung sich nicht in die tieferen Schichten erstreckt, kommt sehr oft eine
intensivere Wirkung, als ursprünglich beabsichtigt war, zustande und der Effekt
ist dann eine recht unangenehme Verbrennung, nicht nur der Epithelschicht, sondern
auch der tiefer gelegenen Hautpartien, an die sich dann sehr oft Gangrän, resp.
Erysipel, oder Phlegmone anschließt.
Es ist daher bei empfindlichen Patienten auf intensiven Schutz der Haut
durch darüber gelegte Mullstreifen usw. Wert zu legen und sofort, wenn der Patient
über Brennen in den betreffenden Teilen klagt, mit der Heißluftbehandlung aufzu¬
hören. Vor allem möchte ich warnen, bei schlecht ernährten Individuen mit dünner,
glanzloser Haut, oder bei solchen, deren in Betracht kommende Extremitäten schon
vorher durch eine Operatioh in bezug auf Nerven oder Blutgefäße geschädigt
wurden, lokale Heißluftbäder ohne genügende Vorsicht anzuwenden. Ich ziehe in
all diesen Fällen die Dampfbehandlung als leichter kontrollierbar vor.
An die Fälle, bei denen die Heißluftbehandlung durch Rückenmarkserkran¬
kungen, kontraindiziert ist, brauche ich wohl nicht zu erinnern.
Wie von unseren Anstalten aus immer und immer wieder betont wird, können
die Bogenlicht-Scheinwerfer, da sie einer intensiveren Wirkung ermangeln, Hei߬
luftbäder nicht ersetzen und kommen wohl nur als Ersatz für Dampfstrahl bei
Leuten mit nicht ganz intaktem Herzen in Betracht, vielleicht auch bei - einigen
Fällen von oberflächlichem Muskelrheumatismus.
Da bei allen heißen Prozeduren viel Wasser durch den Schweiß verloren.geht,
empfiehlt es sich, die Patienten stets gewisse Quanten Wasser vorher trinken zu
lassen, um den Verlust auszugleichen und die Nieren nicht mit Schlacken zu über¬
lasten.
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Einige hydrotherapeutische Winke für die Praxis.
231
Was nun die Kohlensäurebäder betrifft, so sind sie beinahe Allgemeingut
des leidenden Volkes geworden und man wird von den P^ienten direkt in den
meisten Fällen um Verschreibung derartiger Bäder gebeten. Im 22. Bd. Heft 1
d. Z. macht der Wiener Kliniker Wenckebach darauf aufmerksam, daß man ganz
wahllos alle Herzkranken mit Kohlensäurebädern behandelt und stellt dem entgegen,
daß nur unter ganz bestimmten Bedingungen dieselben zu verabfolgen sind, daß
aber insbesondere die Hydrotherapie, wobei er nicht auf Details eingeht, uns aus¬
gezeichnete Dienste in dieser Hinsicht leistet. In Übereinstimmung hiermit bezeich¬
nen Nauheimer Ärzte, w’ieJul. Hoffmann und Ludw r . Pöhlmann 1 ), die Wirkung
der Hydrotherapie als oft verblüffend besonders bei den Fällen mit erregten
Aktionstyp.
Ich selbst habe 2 ) auseinandergesetzt, daß bei den Herzkranken Schonung und
Übung stark auseinander zu halten sind und gerade in den hydrotherapeutischen
Maßnahmen uns eine ganze Menge eigenartig wirkender Heilmittel zur Verfügung
stehen. Die Kohlensäurebäder sind nur im Stadium des Überganges von Schonung
zur Übung anzuw r enden. Daneben kommt, im Anschluß und für sich selbst, noch
Mechanotherapie in Gestalt von Förderungs- und Selbsthemmungsbewegungen,
maschinell oder manuell, letztere im Sinne von Max Herz und A. Schott aus¬
geführt, in Betracht.
Ebenso wichtig ist es auch, die Indikation bei Sauerstoff- und sinusoidalen
Bädern schärfer ins Auge zu fassen. Hierüber habe ich von meinen Mitarbeitern
verschiedene Male Fingerzeige geben lassen.
Den Vorteil der Blutdruckherabsetzung, verbunden mit weniger erregender
Wirkung auf das Nervensystem, weisen die Sauerstoffbäder auf, die besonders im
Klimakterium beider Geschlechter am Platze sind. Bei Sauerstoffbädern kommt
die Einatmung des Sauerstoffes zustatten, die entschieden der Verbrennung von
Kohlehydraten förderlich ist. Wir haben oft in der hydrotherapeutischen Anstalt
der Universität beobachtet, daß bei Diabetikern mit Neigung zu Lungengangrän
durch solche Sauerstoffbäder der Prozeß zurückging, w 7 as wohl durch die erhöhte
Aufnahme von Sauerstoff durch Einatmung zu erklären ist.
Die Temperaturherabsetzung bei Kohlensäure- und Sauerstoffbädern hat nur
langsam zu erfolgen und es ist streng darauf zu achten, daß bei den Patienten
keine unangenhmen Kälteerscheinungen von seiten der Haut, Schüttelfrost usw.
auftreten.
Sehr oft wird man von den Kranken um Verabreichung von Lohtannin- und
ähnlichen aromatischen Bädern gebeten. Wenn diesen Bädern ein physikalischer
Einfluß wohl nur durch ihre Wärme zukommt, so wirken sie doch auch suggestiv
auf das allgemeine Befinden ein. Man kann deshalb unter Umständen bei nicht
zu Ekzem- neigender Haut konzentriertere Lösungen der erwähnten Stoffe ver¬
wenden, zu deren Herstellung sich unter den Apothekern und Drogisten usw. in
letzter Zeit ein reger Wetteifer entwickelt hat.
Wenn auch bei der Behandlung von Infektionskrankheiten die Bäder¬
therapie Allgemeingut ist, so sind doch ebenso Packungen, kühlende Umschläge
Longuetten, in der Praxis bei den erwähnten Krankheiten zu wenig bekannt. Die-
*) Die Gymnastik der Herzleidenden. S. 13. Verlag von Franz Stein. München.
*) Med. Klinik 1912, Nr. 17.
Digitized by
Gca igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
232
L. Brieger, Einige hydrotherapeutische Winke für die Praxis.
selben können die Bäder nicht nur vertreten, sondern sind auch nicht mit solchen
Unbequemlichkeiten verbunden, wie eine Bäderbehandlung und kommen daher den
Bedümissen des praktischen Arztes, speziell des Landarztes, in vorteilhaftester
Weise entgegen.
Daß bei Scharlach z. B. Packungen hervorragende Dienste tun, habe ich
bei der Besprechung der Behandlung der Infektionskrankeiten durch Hydrotherapie
eingehend erwähnt. Ich möchte hier noch hervorheben, daß die kühle Longuetten-
behandlung an Stelle des Dämpfstrahls und der Heißluft bei fieberhaftem akutem
und subakutem Gelenkrheumatismus in Betracht zu ziehen ist. In vielen dieser
Fälle ist' die Heißbehandlung direkt als schädlich zu bezeichnen.
Es würde zu weit führen, näher auf die verschiedenen hydrotherapeutischen
Maßnahmen bei Infektionskrankheiten einzugehen. Aber einer Infektionskrankheit
möchte ich hier doch noch gedenken, die momentan im Mittelpunkt des Interesses
steht, nämlich der Malaria.
. Abgesehen davon, daß wir in der Milzdusche ein harmloseres und prompteres
Mittel haben, als es die Injektion verschiedener Seren, Höhensonne usw. sind,
um zur Diagnose resp. zur Therapie frische Anfälle hervorzurufen, besitzen wir
in den hydrotherapeutischen Maßnahmen wichtige Mittel, der Malaria-Kachexie zu
begegnen und auch den Folgeerscheinungen von Malaria, wie Neuralgie, Leber¬
und Herzkrankheiten, in Verbindung mit angemessenen Dosen Chinin, beizukommen.
Es sollten daher nicht, wie man es jetzt häufig sieht, nur wahllos große Dosen
von Chinin gegeben werden, sondern es empfiehlt sich, den Stoffwechsel durch ge¬
eignete hydrotherapeutische Maßnahmen zu heben, bevor die Chininbehandlung
oder- eine andere Therapie in schonender Weise Platz greift.
Sehr oft versprechen sich Lungenkranke, speziell Tuberkulöse, von der
Wasserheilkunde Heilung. Es kann sich aber in solchem Falle nur um allgemeine
roborierende Maßnahmen, auch Abhärtungsverfahren, handeln. Auch tragen
kurze Dampfduschen zur Erleichterung der Expektoration der Phthisiker bei. Der
Lungenprozeß wird aber in keiner Weise durch derartige Prozeduren beeinflußt.
Dagegen möchte ich in allen Fällen von Pleuritis auf den wohltätigen Einfluß der
Bestrahlung und der Dampfdusche hinweisen. Bei trockener Pleuritis und pleu-
ritischer Schwarte ist der Dampfstrahl am Platze, während Exsudate öfters durch
rotes Glühlicht zurückgehen.
Was hydrotherapeutische Maßnahmen bei den Erkrankungen des Magen-
und Darmkanals betrifft, so möchte ich vor allem auf die günstigen Erfolge
protrahierter Sitzbäder bei hartnäckigen Diarrhöen hinweisen, eine Tatsache, die
noch viel zu wenig bei chronischen Dysenterien berücksichtigt wird. Es ist hier¬
bei zu betonen, daß geschwürige Prozesse keine Kontraindikation bilden, sondern
daß dieselben im Gegenteil durch solche Sitzbäder günstig beeinflußt werden.
Hierbei kommen auch die erregenden Umschläge, die auch Nachts appliziert
werden können, in Betracht. Eine derartige Behandlung schließt eine medika¬
mentöse Therapie, nicht aus. Auch die Anwendung der Dampfdusche bei Chole¬
zystitiden tut zur Bekämpfung der Schmerzen und der entzündlichen Prozesse gute
Dienste.
Ferner ist die von mir empfohlene Anwendung des hochgespannten Dampfes
bei allen Fällen von torpiden Geschwüren, nekrotischen Prozessen der Haut, jauchen-
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
B. Gnggenheimer, Zur Röntgentherapie des malignen Granaloins a. d. Polycythämie. 233
den Wunden, verhinderter Sequesterlösung, sowie bei Furunkulose und Karbunkeln
hier zu erwähnen. Der therapeutische Effekt des Dampfstrahls bei jauchenden
Wunden wird direkt als ein „augenfälliger“ von Krelinger in der Münchener
Medizinischen Wochenschrift Nr. 12 bezeichnet.
Mit den Mitteilungen dieser Beobachtungen begnüge ich mich einstweilen
und werde später noch Gelegenheit haben, an anderer Stelle auf weitere praktisch
wichtige Maßnahmen der Hydrotherapie und deren detaillierte Anwendung zu¬
rückzukommen.
II.
Zur Röntgentherapie des malignen Granuloms
und der Polycythämie.
Aus dem medizinisch-poliklinischen Institut der Universität Berlin.
(Direktor: Geh. MecL-Rat Prof. Goldscheider.)
Von
Dr. Hans Gnggenheimer, Assistent.
Wenn die Behandlung von Blutkrankheiten mit Röntgenstrahlen bisher in
ihren Endresultaten auch nicht das gehalten hat, was die z. B. bei chronisch
myeloischer Leukämie auffällig günstigen ersten Beobachtungen versprachen, so
dürfen wir trotzdem bereits jetzt diese physikalische Behandlungsmethode als ein
neues sehr wirksames Hilfsmittel in der Therapie der Blutkrankheiten begrüßen.
Bei bestimmten Formen der Leukämie lassen sich immerhin mittels Röntgen¬
bestrahlung, wenn auch schließlich das tödliche Rezidiv auf die Dauer noch nicht
gebannt werden konnte, zeitweilige Besserungen erzielen, wie sie mit keiner
anderen Methode auch nur annähernd zu erreichen sind.
Die Erfahrungen über den Erfolg der Röntgenbehandlung bei den früher unter
dem Namen Pseudoleukämie bezeichneten Krankheiten sind nicht gleichmäßig.
Es wird uns das heute um so weniger verwundern, als wir immer mehr gelernt
haben, in dieser ganz inhomogenen Gruppe die verschiedenartigsten Krankheits¬
bilder abzugrenzen.
Ein histologisch wohlcharakterisiertes Krankheitsbild stellt das maligne
Granulom dar (Lymphogranulom, Hodgkinsche Krankheit). Ist es im
fortgeschrittenen Stadium schon zu generalisierten symmetrischen harten Drüsen¬
schwellungen, Milztumor, Anämie und Kachexie gekommen, so ist auch das kli¬
nische Bild für den Erfahrenen unverkennbar. Größeren Schwierigkeiten kann
die Differentialdiagnose gegenüber ähnlichen Krankheitsbildern begegnen, so lange
das Aufangsstadium mit noch bisweilen einseitig lokalisierten Lymphdriisentumoren
besteht. Da eine bereits in der ersten Zeit einsetzende Behandlung natürlich viel
größere Heilungsaussichten bietet, sollte man viel häufiger in zweifelhaften Fällen
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
234
Hans Guggenheimer
die Probeexzision einer Lymphdrüse vornehmen, weil die histologische Unter¬
suchung die Entscheidung zu bringen vermag.
Schon aus der Bezeichnung „malignes“ Granulom geht hervor, daß es sich
um ein im allgemeinen wenig beeinflußbares Leiden handelt. Nägeli 1 ) berechnet
den durchschnittlichen Krankheitsverlauf auf 2 bis 3 Jahre. Es kommen aber
auch langsamer verlaufende und zu Remissionen neigende Fälle vor. Die Arsen¬
behandlung versagt gewöhnlich, nur mit Arsacetin sah Nägeli vereinzelt eine
auffällige Besserung. ,
Die Ansichten über den Wert der Röntgentherapie sind noch geteilt. Während
Nägeli nur bescheidene Erfolge gesehen hat, führt Ziegler 2 ) an, daß die Be¬
einflussung mancher Fälle geradezu eine frappierende war. Bei dem ständigen
Fortschreiten der Röntgentechnik, der von den einzelnen Autoren oft ganz ver¬
schiedenartig gewählten Dosierung und verwendeten Strahlenart, wird es noch
weiterer Erfahrung bedürfen, bis wir uns ein einigermaßen sicheres Urteil bilden
können. Auch werden sich mit der Zeit wohl noch gewisse Kriterien gewinnen
lassen, um von vornherein einen Fall zur Bestrahlung als geeignet oder ungeeignet
zu erkennen. Einstweilen kann bereits soviel behauptet werden, daß unter ständiger
klinischer Kontrolle in sachgemäßer Hand die Röntgentherapie bei malignen
Granulom ganz nennenswerte Erfolge aufzuweisen hat.
Ich möchte in aller Kürze einige Daten aus den Krankengeschichten zweier
Fälle mitteilen, deren Behandlungsdauer allerdings noch kein abschließendes Urteil
zuläßt. Immerhin dürfte uns das schon jetzt erzielte Resultat dazu aufforderu.
auch weiterhin die Röntgentherapie bei Lymphogranulomatosis an erster
Stelle zu berücksichtigen.
1. Frau Angnste H., 54 Jahre alt, leidet schon seit mindestens 4 Jahren an
multiplen symmetrischen Lymphdrüsenschwellungen, die allmählich zu recht beträchtlichen
Drüsenpaketen an allen der Betastung zugänglichen Stellen angewachsen sind. Besonders
an der rechten Halsseite und in der rechten Achselgegend erreichten einzelne Drüsen-
tumoren bis Tanbeneigröße. Es bestand periodisch auftretendes Fieber, ein großer,
ziemlich derber Milztumor, handbreit den Rippenbogen überragend, beiderseits auch rönt-
geologisch nachgewiesene starke Schwellung der Bronchial- und Lungenhilusdrüsen. Ab¬
magerung, kachektisches Aussehen, lästiger Prurigo, Schweißausbrüche, Dyspnoe nach
leichten Anstrengungen.
Blutbild: 55°/ ft Hämoglobin (Sahli), 3,5 Millionen rote, 15500 weiße Blutkörperchen.
•81°/ 0 neutrophile, 1% eosinophile Leukozyten, 7% kleine, 11 °/ 0 große Lymphozyten
und Übergangsformen.
Die histologische Untersuchung einer exstirpierten Drüse bestätigte die Diagnose
malignes Granulom.
Schon vor 2 Jahren war eine Arsenkur erfolglos vorgenommen worden. Auch
20 subkutane Injektionen von Natrium kakodylicum (Juli bis September 1917) konnten
ein weiteres Fortschreiten des Krankheitsprozesses nicht aufhalten. Ich riet der Patientin
deshalb zur Röntgenbestrahlung, die Mitte Oktober 1917 vom Königl. Universitätsinstitut
für Lichtbehandlung (Dr. Blumenthal) übernommen wurde.
Im Verlauf von etwa 6 Monaten wurden bisher in 18 Sitzungen 24 Felder
bestrahlt, entsprechend den nachgewiesenen Drüsenschwellungen. Die Bestrahlungsdauer
betrug für jede Sitzung 7 Minuten. Verwendet wurde Müller-Röhre in 22 cm Ent-
') Blutkrankheiten und Blutdiagnostik. Leipzig, II. Aufl.
' *) Granulierende Pseudoleukämien usw. Kraus & Brugsch. Berlin-Wien. Band VIII.
Lieferung 48—53.
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Zur Röntgentherapie des malignen Granuloms und der Polycytbämie.
235
fernung, 30 cm Funkenstrecke, 4 mm Filter, 5 Holzknechteinheiten. Schon nach einigen
Wochen fühlte sich die Patientin bedeutend wohler, sie war nicht mehr so leicht erschöpft,
Schlaf und Appetit kehrten zurück. Der starke Juckreiz hatte ganz aufgehört, die Drüsen¬
schwellungen verkleinerten sich zusehends. Nach Ablauf eines halben Jahres sind
die mächtigen Drüsenpakete an beiden Halsseiten und in den Leistenbeugen
bis auf einige erbsengroße Drüsen zurückgegangen. Nur in der rechten
Achselhöhle ist noch eine etwa walnußgroße Drüse tastbar. Auch die Bronchialdrüsen¬
pakete haben sich verkleinert, die Milz überragt nur noch fingerbreit den Rippenbogen.
Blutbild (5.6.18): 60°/ 0 Hämoglobin, 3,7 Millionen rote, 8500 weiße Blut¬
körperchen. 79% neutrophile, l°/ 0 eosinophile Leukozyten, 12% kleine, 8°/ 0 große
Lymphozyten und Übergangszellen. Patientin ist seit mehreren Monaten wieder arbeitsfähig.
2. Frau Paula M., 58 Jahre, ist seit 1% Jahren wegen Tumorbildung an der
linken Halsseite schon vielfach in ärztlicher Behandlung gewesen. Man riet zur Operation,
die abfr abgelehnt wurde. Ständige Gewichtsabnahme, großes Schwächegefühl, Btarke
Schweiße, Schlaflosigkeit, quälender Prurigo.
Blaßgelbe kachektiscbe Hautfarbe, leichte Cyanose. Großes, derbes Lymphdrüsen-
paket in der linken Snpraklavikulargegend, mit der Haut nicht verwachsen, einzelne Drüsen¬
tumoren voneinander abgrenzbar. Auch an der rechten Halsseite, in beiden Achselhöhlen
und Leistenbeugen kleinere bis pflaumengroße Drüsen. Bronchialdrüsen röntgeologisch
beiderseits beträchtlich vergrößert. Milz bis zwei Querfinger breit unter dem Rippen¬
bogen etwas konsistenter wie normal. Wassermann negativ, Probeexzision verweigert.
Blutbild: 6O°/ 0 Hämoglobin (Sahli), 7000 weiße Blutkörperchen, 74°/ 0 neutrophile,
1 % eosinophile Leukozyten, 14°/ 0 kleine, 11% große Lymphozyten und Übergangsformen.
Nach dem generalisierten Auftreten der Drüsenschwellung, dem vorhandenen Milz¬
tumor, der Kachexie und Anämie war die Diagnose malignes Granulom mit größter
Wahrscheinlichkeit zu stellen.
Die vorgeschlagene Bestrahlung wurde Ende Oktober von Dr. Bucky eingeleitet.
Jede Bestrahlungsperiode umfaßte 3 Sitzungen von 15 Minuten Dauer, in jeder Sitzung
wurde ein Drüsenfeld bestrahlt, zunächst linke Halsseite, Sternum (Bronchialdrüsen!)
und Milz. Coolidge-Röhre, % Erythem-Dosen, 12 bis 13 Wehnelt, 3 mm Aluminiumfilter.
Schon nach der ersten Bestrahlungsserie fühlten sich die linken Hals¬
drüsen ganz erweicht an. Nach der zweiten Bestrahlungsperiode Mitte
November 1917 waren sie fast vollkommen eingeschmolzen. Subjektiv bereits
nach 2 Wochen erhebliche Besserung der Schlaflosigkeit, des Juckreizes und der Ab-
geschlagenheit.
Die Röntgenbehandlung erfuhr nun zunächst Mitte Dezember eine Unterbrechung,
da ein ausgedehntes Herpes-Exanthem im Bereich der rechten Lumbalwurzeln auftrat,
begleitet von leichtem Fieber und neuralgischen Schmerzen. Unter Chinin, Salyzil-
präparaten und Wärmebehandlung Abheilung innerhalb 4 Wochen. Mitte Februar
3. Bestrahlungsperiode.
Ende April 1918 sind an der linken Halsseite überhaupt keine Drüsen
mehr tastbar, in der rechten Supraklavikulargrube und rechten Achselhöhle 2 wallnus¬
große Drüsen, die Milz ist unter dem Rippenbogen eben fühlbar. Patientin hat an
Gewicht 5 Pfund zugenommen, die früheren Beschwerden sind ganz zurückgegangen.
Blutbild: 90% Hämoglobin, 4300 weiße Blutkörperchen, 81% neutrophile, 1%
eosinophile, 1% Leukozyten, 16% kleine, 2% große Lymphozyten und Übergangszellen.
Ob mit dem bisher erzielten Erfolg ein definitiver Stillstand des Krankheit s-
prozesses erreicht ist, bleibt noch abzuwarten. Jedenfalls sind in beiden
Fällen Allgemeinbefinden und Drüsentumoren so günstig beeinflußt,
wie man es auf andere Weise kaum zu Wege bringt.
Ich möchte auf Einzelheiten des Blutbefundes nicht näher eingehen. Es sei
nur kurz erwähnt, daß im ersten Falle die vermehrte Zahl der Leukozyten auf
die Hälfte vermindert wurde, in beiden Fällen namentlich bei der zweiten Patientin
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
236
Hans Guggt'.nheimer
die vorher konstatierte Vermehrung der großen Lymphozyten und Übergangs¬
zeiten einen Rückgang erfuhr. Bei dieser Patientin stieg auch der Hämoglobin¬
gehalt nach der Bestrahlung beträchtlich an, was stets ein guter Indikator für die
richtige Dosierung der Röntgenstrahlen ist. Bei diesem Fall setzte die Rückbildung
der Drüsentumoren ganz überraschend schnell bereits nach der ersten Bestrahlungs¬
serie ein, während es bei der ersten Patientin häufigerer Sitzungen bedurfte.
Die Verschiedenartigkeit in der Beeinflußbarkeit mag nach H. Hirschfeld 1 )
darin begründet sein, daß im Anfangsstadium, wo die Drüsenschwellung vor¬
nehmlich aus jungem proliferierendem Granulationsgewebe besteht, leichter eine
Reaktion zu erzielen ist, wie im späteren Stadium mit zum Teil schon ausgebildeter
bindegewebiger Induration. Allerdings gehörte auch mein erster Fall mit mindestens
4 Jahre langer Krankheitsdauer und mehrfacher erfolgloser Arsenbehandlung%ereits
einem späteren Stadium des Krankheitsprozesses an. Trotzdem erwies es sich
noch einer konsequent durchgeführten Bestrahlung zugänglich. Es soll- aber nicht
bestritten werden, daß es Fälle gibt, bei denen die Drüsentumoren gegenüber der
Röntgentherapie recht resistent sind. Ob dabei die Strahlentechnik eine Rolle
spielt, muß dahingestellt bleiben.
Einen Monat nach der zweiten Bestrahlungsserie trat bei der zweiten Patientin
in einem der Bestrahlung ganz fernen Nervenwurzelgebiet ein ausgedehnter Herpes-
Ausschlag auf. Es sind keine sicheren Anhaltspunkte dafür vorhanden, diese Kom¬
plikation mit der Röntgenbehandlung in Zusammenhang zu bringen.
Eine Kontrolle des Allgemeinbefindens, des Verhaltens der Drüsentumoren
und des Blutbildes ist in jedem Falle notwendig, um die Behandlung nicht zu
frühzeitig abzubrechen, event. nach einer größeren Pause wieder aufzunehmen.
Betreffs Einzelheiten der empfelilenswertesten Technik werden wir noch Erfahrung
sammeln müssen.
Einstweilen ist soviel zu sagen, daß man auch ziemlich kachektische Patienten
ganz erheblich bessern kann, sie wieder arbeitsfähig macht und selbst große
Drüsentumoren zum Verschwinden bringt. Offenbar werden bei ausgebildetem
Krankheitsprozeß aus den Krankheitsherden toxische Substanzen abgeschieden, die
die bekannten Allgemeinsymptome, wie Kachexie, Fieber, Schweiße, Prurigo u. a.
machen. Mit der Zerstörung der verschiedenen Granulationszentren durch die
Röntgenbestrahlung kann der Organismus oft auffallend rasch von den so überaus
schwächenden toxischen Produkten befreit werden, selbst wenn die noch unbekannte
causa morbi nicht ganz beseitigt wird.
Ist also auch die Frage der Dauererfolge noch nicht spruchreif, so
gehört dennoch bei dem sonst unaufhaltsamen fortschreitenden Cha¬
rakter der Krankheit die Röntgentherapie des malignen Granuloms
häufig zu den dankenswerten Aufgaben in der Behandlung der Er¬
krankungen des hämatopoetischen Systems.
Bei einer anderen Erkrankung der blutbildenden Organe, der Polycythämie
(Vaquezsche Krankheit) sind die bisherigen Erfahrungen über Strahlentherapie
viel spärlicher. Hauptsächlich französische Autoren haben bisher versucht, das
’) Therapie der Gegenwart. Juli 1914.
\
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Zur Röntgentherapie des malignen Granuloms und der Polycythitmie.
237
Krankheitsbild durch Bestrahlung des Milztumors günstig zu beeinflussen. Die
Erfolge waren zum Teil negativ, zum Teil nur vorübergehender Natur. Der Milz¬
tumor verkleinerte sich zwar, das Blutbild erfuhr aber keine nennenswerte Ver¬
änderung. Nach unseren theoretischen Anschauungen über die Pathogenese dieser
Blutkrankheit konnte von einem derartigen Vorgehen auch kaum Ersprießliches
erwartet werden. Wir kannten die Milz bisher vorwiegend von ihrer Funktion
als Blutzerstörungsorgan. Daneben bestehen allerdings noch andere regulatorische
Beziehungen zwischen Milz und Knochenmark, insofern z. B. nach Exstirpation
der Milz eine starke Neubildung von roten Blutkörperchen beobachtet wird
(H. Hirschfeld 1 ). Bei der echten primären Polycythämie sind aber die Ver¬
änderungen der Milz, wie jetzt wohl allgemein angenommen wird, sekundärer Natur,
der Milztumor ist vorwiegend ein spodogener. ■
Die Veränderung in der Blutzusammensetzung findet vielmehr ihre Erklärung
in einer primären Schädigung der blutbereitenden Organe, einer Funk¬
tionssteigerung der erythroplastischen Knoohenmarkselemente. Wenn
damit auch noch keine volle Klarheit über die letzte Ursache besteht, die dieser
Hyperplasie zugrunde liegt, so mußte doch der Weg aussichtsvoll erscheinen, die
Polycythämie durch Herabsetzung der Funktion des Knochenmarks
zu beeinflussen.
Diese Absicht verfolgte Lüdin 2 ), indem er bei einem Fall von Polycythämie
bei dem übrigens trotz 3 >/ 2 jährigen Bestehens der Krankheit ein Milztumor fehlte,
unter Schonung der Milz auf sämtliche Knochen der oberen und unteren Extremitäten
des Beckens, der Wirbelsäule, der Schulterblätter, des Brustbeins und der Rippen
hohe Röntgendosen einwirken ließ. Es wurden in 7 Wochen unter Verwendung
harter gefilterter Strahlen 94 Volldosen nach Sabouraud verabreicht. Die Zahl
der Erytrozyten verminderte sich darauf von 6,7 Millionen auf 5,1 Millionen, der
Hämoglobinw’ert von 135° /0 auf 105°/ 0 , die weißen Blutkörperchen von 10 500
auf 4410. Noch 5 Monate nach Aussetzen der Bestrahlung hielt dieser Rückgang
zur Norm an. Die anfangs im Blut vorhandenen Mastzellen und Myelozyten ver¬
schwenden. Das Allgemeinbefinden der Patientin besserte sich soweit, daß sie
bald nach der Behandlung das Krankenhaus verließ, um wieder ihrer früheren
Arbeit nachzugehen.
Dieses günstige Resultat veranlaßte mich, bei einer jugendlichen Patientin
mit so erheblicher Polycythämie, daß sie ihre berufliche Tätigkeit einschränken
mußte, ebenfalls diese Art der Strahlentherapie in Anwendung zu bringen. Da
der Fall auch sonst namentlich hinsichtlich seiner Genese bemerkenswert erscheint,
soll die Krankengeschichte etwas ausführlicher mitgeteilt w r erden.
Fränlein Mathilde A., 29 Jahre alt, Kontoristin, war Blntspenderin für eine
Transfusion bei Ihrer Mntter, die schon mehrere Jahre an einer schweren Blutkrankheit
litt, an der sie auch dann starb. (Die Diagnose soll Leukämie gelautet haben.) Am
2. Dezember 1914 worden ihr zn diesem Zwecke große Mengen Blnt abgelassen, sie
wurde dabei ohnmächtig, war längere Zeit schwach und elend, kam deshalb ein halbes
Jahr aufs Land zur Erholung. Nach dieser Zeit trat allmählich bei ihr eine auffällige
Röte im Gesicht auf, die immer weiter zunahm. Dazu gesellten Bich Kopfschmerzen,
') Die Splenomegalien. Kraus & Bragsch. Band VIII. Lieferung 48 - 53.
s ) Ztschr. f. klin. Med. Band 85.
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
238
Hans Guggenheimer
Schwindelanfälle, Ohrensausen, Flimmern vor den Angen, starke Schweißansbr&che nach
geringen Anstrengungen. Seit 1% Jahren schon in ärztlicher Behandlung. Allmählich
machte sich auch starkes Druckgefdhl in der Milzgegend bemerkbar, Herzbeklemmungen,
eingenommener Kopf, so daß sie ihrer Beschäftigung nicht mehr richtig nachkommen
konnte. Nach einer Zahnextraktion 3 Tage lang anhaltendes heftiges Nasenbluten,
Menses alle 3 Wochen, 8 Tage anhaltend, sehr stark und schmerzhaft.
Status 26.6.1917: Graziler K'örperbau, mäßiger Ernährungszustand, Gewicht
118 Pfund. Auffallende Böte des Gesichts, Schleimhäute purpurrot, Hände bläulichrot.
Blutdruck 130 mm Hg. Milz 3 Querfinger breit den Rippenbogen fiberragend, derb und
bei Betasten schmerzhaft, Leber nicht deutlich vergrößert, Urin frei, Wassermann
negativ, Biustbein und Rippen druckempfindlich.
Blutbild: Hämoglobin (Sahli) 140%, Erythrozyten 8,4 Millionen, weiße Blut¬
körperchen 6000, keine pathologischen Formen.
Resistenzbestimmung der Erythrozyten: Beginn der Hämolyse bei 0,45%iger, voll¬
ständige Hämolyse bei 0,2% Kochsalzlösung.
Behandlung mit Sauerstoffinhalationen hat nur vorübergehende subjektive Besserung
zur Folge.
August 1917 auf Urlaub in Köln: Es werden 5 Röntgenbestrahlungen der
Milz vorgenommen, danach keine Veränderung des Befindens.
25. 9. 1917. Blutbild: Hämoglobin 130%, 7,1 Millionen rote, 5500 weiße Blut¬
körperchen.
20. 10. 1917. Beginn mit der Röntgenbestrahlung der kurzen platten Knochen,
die Privatdozent Dr. Warnekros (Königl. Univ.-Frauenklinik) so freundlich war, zu
übernehmen. Es wurden jeden Tag 4 Felder eine halbe Stunde lang bestrahlt, im ganzen
3 Wochen hintereinander. Dabei waren Brustbein, Schulterblätter, Becken und Kreuzbein
in 28 Felder eingeteilt. Verwendet wurde Müllersche Siederöhre, Belastung 2 bis 3 M.-A.,
11 Wehnelt, Zinkfilter 0,5.
8. 11. 1917. Patientin ffihlt sich matt, hat 10 Pfund an Gewicht abgenommen.
Kopf ist nicht mehr so stark eingenommen, verstärkte Knochenschmerzen. Haut- und
Schleimhäute sind bedeutend besser geworden. Leber vergrößert und druckempfindlich,
Milz unverändert, ebenfalls sehr schmerzhaft.
Blutbild: 80% Hämoglobin, 3,8 Millionen rote, 5000 weiße Blutkörperchen.
Anisocytose, Poikilocytose, Polychromasie, zahlreiche Normoblasten, keine pathologischen
weißen Blutkörperchen (80% neutrophile, 1% eosinophile, 16% kleine, 3% große
Lymphozyten).
17. 11. 1917. Profuse Menses schon seit 8 Tagen stärker wie je, subikterische
Verfärbung namentlich im Gesicht, im Urin Urobilin f f, Hämoglobin 65%. Patientin
fühlt sich durch den Blutverlust sehr elend, weitere Gewichtsabnahme bis auf 95 Pfund.
21. 11. 1917., Nach 2 subkutanen Injektionen von Corpus luteum Extrakt
(Freund u. Redlich) steht die Blutung. Noch heftige Knochenschmerzen.
13. 2. 1918. Nach 3 monatlicher Erholung im Elternhaus stellt sich Patientin
wieder vor. Noch etwas Herzklopfen, Atemnot und eingenommener Kopf ganz ver¬
schwunden. Fühlt sich jetzt bedeutend wohler, nur stören häufigere Wallungen, die
schnell wieder abklingen und einen ganz anderen Charakter hätten wie früher, von
Schweißausbrüchen begleitet. Da die Menses seit November nicht mehr aufgetreten,
vermutlich ovarielle Ausfallserscheinungen.
Gewicht wieder 105 Pfund, Aussehen eher etwas blaß, Milz noch vergrößert,
aber auffallend weich.
Blutbild: 90% Hämoglobin, 3,8 Millionen rote, 3400 weiße Blutkörperchen,
Hyperchromie. Außer einigen Poikilozyten und Mikrozyten keine pathologischen Formen.
2. 4. 1918. Seit 3 Monaten wieder im Bureau tätig, nur noch 5 bis 6 mal
täglich anftretende Kongestion nach dem Kopf. Patientin gibt zu, daß die Beschwerden im
Vergleich zu den vor der Bestrahlung vorhandenen ganz gering sind. Amenorrhoe anhaltend.
Normale Hautfarbe, Knochen kaum mehr druckempfindlich. Milz jetzt nicht
mehr tastbar, Blutdruck 130 mm Hd.
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Zur Röntgentherapie des malignen Granuloms und der Polycythämie.
239
Blntbild: 100°/ 0 Hämoglobin, 4,7 Millionen rote, 4400 weiße Blutkörperchen,
keine pathologischen Formen.
6. 5. 1918. Blutbild: lOO°/ 0 Hämoglobin, 4,4 Millionen rote, 4000 weiße Blut¬
körperchen. 73 % neutrophile, 1 °/ 0 eosinophile Leukozyten, 22°/ 0 kleine, 4°/ 0 große
Lymphozyten.
Es handelte sich also um einen Fall von Polycythämie mit recht beträchtlicher
Erhöhung des Hämoglobingehalts und der Zahl der Erythrozyten. Die Entwicklung
der Krankheit muß hier wohl mit einem ausgiebigen Aderlaß im Zusammenhang
gebracht werden, der bei der Patientin zum Zwecke einer Transfusion bei der eben¬
falls blutkranken Mutter (Leukämie) vorgenommen wurde. Nach einem halben Jahre
stellen sich bei der durch die Blutentziehung zunächst sehr geschwächten Patienten
die ersten Beschwerden ein, die allmählich im Laufe von 2 Jahren sich zu den
fiir Polycythämie charakteristischen Symptomen steigerten.
Eine starke Blutneubildung nach Aderlaß ist ja in gewissen Grenzen ein
physiologischer Vorgang. Nach Weigerts Untersuchung reagiert der Organismus
bei Defekten gesetzmäßig nicht nur mit dem Ersatz des verloren Gegangenen,
sondern gerne mit einer Überproduktion. So haben wir uns nach Knochenbrüchen,
die häufig ganz unverhältnismäßig starke Kallusbildung zu erklären, ähnlich
schießt nach der Ehrlichschen Seitenkettentheorie die Körperzelle mit dem Ersatz
ihrer geschädigten Rezeptoren über das Ziel hinaus.
Diese Funktionssteigerung der blutbildenden Organe ist allerdings unter
normalen Verhältnissen nur vorübergehender Natur. Für die Entwicklung einer
dauernden Hyperplasie mußten in unserem Falle besondere Umstände eine Rolle
spielen, über die wir nichts Bestimmtes aussagen können. Möglich, daß hier
eine familiäre Belastung im Sinne einer Disposition zu abnormer Re¬
aktion des hämatopoetischen Systems vorlag, da ja auch die Mutter
an einer schweren Blutkrankheit litt.
Die Röntgenbehandlung erfolgte mit sehr hohen Dosen harter, gefilterter
Strahlen im kurzen Zeitraum. Entsprechend der Hauptbildungsstätte der roten
Blutkörperchen beschränkte sich die Bestrahlung auf die kurzen und platten Knochen.
Die Reaktion war zunächst eine sehr starke. Der Hämoglobin wert sank von 130 °/ 0
auf 80°/ 0 , die Zahl der roten Blutkörperchen von 7,1 Miß. auf 3,8 Mill. Daneben
wurde auch das Allgemeinbefinden ziemlich stark mitgenommen, w T enn auch die
für Polycythämie spezifischen Beschwerden bald aufhörten. Erst allmählich er¬
holte sich die Patientin von der Nachwirkung der energischen Bestrahlung.
Heute, 7 Monate nach Aussetzen der Röntgentherapie, zeigt sie ein
normales Blutbild: 100 °/ 0 Hämoglobin, 4,4 Millionen rote Blutkörperchen.
Bemerkenswert ist das Verhalten des Milztumors. Einige Monate
nach der Bestrahlung w r urde er zunächst auffällig weich, um schließlich
ganz zu verschwunden. Auch hierin darf ein Zeichen erblickt werden, daß
sich die für die Entstehung des Milztumors verantwortlichen pathologischen Ver¬
hältnisse geändert haben.
Patientin ist ihre früheren unerträglichen Beschwerden ganz los, arbeitet
schon seit Monaten w ieder in ihrem Bureau.
Es soll noch erwähnt werden, daß eine Amenorrhoe zurückgeblieben ist,
wahrscheinlich infolge zu starker Röntgenbestrahlung der Ovarialgegend. Damit
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
240
Hans Hirschfeld
sind auch gewisse als Ausfallserscheinungen zu deutende SjTnptome in Zusammen¬
hang zu bringen.
Es wurde also in diesem Falle durch Verabreichung ganz beträcht¬
licher Strahlenmengen bisher ein erfreuliches Resultat erzielt, wenn
auch zunächst eine unerwünscht starke Reaktion aufgetreten war. Bei
weiteren Fällen wird man aus diesem Grunde gut tun, die Technik hinsichtlich
der Dosierung etwas zu modifizieren, auch wird man die Bestrahlung der Becken¬
knochen mit Rücksicht auf die Nachbarschaft der Keimorgane lieber etwas weniger
intensiv gestalten. Immerhin ermuntert das erreichte Resultat dazu, bei den bis¬
her therapeutisch kaum erfolgreich angreifbaren primären Polycythämien die Röntgen¬
therapie noch weiter auszubauen.
III.
Zur Prognose und Röntgentherapie der lymphatischen Leukämie.
(Aus dem Universitätsinstitut für Krebsforschung an der Kgl. Charite in Berlin.)
Von
Dr. Hans Hirschfeld,
Berlin.
Obwohl die Röntgenbehandlung der Leukämien längst zu dem eisernen Rüst¬
zeug unseres therapeutischen Arsenals gehört, sind doch die Akten über so manche
diesbezügliche Fragen noch nicht geschlossen. Einen ganz bedeutenden Fortschritt
bedeutet zweifellos auch für die Behandlung der Leukämien und der übrigen
geschwulstartigen Erkrankungen des hämopoetischen Apparates die moderne Tiefen¬
therapie mit ganz harten Strahlen. Während ich früher unter sehr zahlreichen
in meine Beobachtung gekommenen Fällen, die von den verschiedensten Röntgenologen
behandelt worden waren, doch recht oft Versager gesehen habe, wo auch nicht
der geringste günstige Einfluß auf das Blutbild, die Organschwellungen und den
Kräftezustand festzustellen war, kenne ich, seitdem ich das Material des Berliner
Krebsinstituts beobachte, wo lediglich die moderne Tiefenbestrahlung zur Anwendung
kommt, keine refraktären Fälle bei Leukämien und leukämieartigen Erkrankungen
mehl'. Allerdings verhindern auch die weitgehendsten Remissionen leider nicht
das Wiederauftreten ^>n Rezidiven. Das gilt besonders von der myeloischen
Leukämie, die wir fast immer trotz anfänglicher glänzender Erfolge rezidivieren
und dann zum Teil recht schnell tödlich enden sehen. Doch behandeln wir seit
3 Jahren einen solchen Patienten, der im Zustand ziemlicher Kachexie, mit großem
Milztumor und sehr starken Blut Veränderungen zu uns kam, der schon auf die
erste Bestrahlungsserie sehr günstig reagierte und seitdem alle viertel Jahr zur
Bestrahlung zu uns kommt, voll arbeitsfähig ist, und zeitweise keinen fühlbaren
Milztumor mit fast normalen Blutbefund hat.
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Zttr Prognose nMii Röntgentherapie der lymphatischen L<-uk 3 tm>
Flpsorukrs bcmtwkoHytveri ymHyineu inir dhvResultate in innig 1 ««: Füllen von
dironiscJiw lymphatischer Loukäinis*. Im allgcMeineu gilt die •LnUi'e, daß lympby tisdtf
Leukämien nieht so Uitehlmltlg za heeiMlusswu sind, als myehtkehe, tveil mau' nur
ehu* Di'UHefli'egion fluch »kr anderen ixstvabkn kann und die erstbestrahltcn
Drftsewegionen sieh hinget wieder erhalt hüben, wenn die letzten an die Heilte
k"t>u.!i* n. während es hei der myeloischen Leukäiöje nieisl gouogt. nns die Milz
zd-bestrahlen. .Wir vvrföfcoü «her über ehuge Falle von lymphatischer Letiküntie,
die itngcviühnlirh gut. Auf die Renig» rthelrafl«ihtng: reagiert hüben. Der eine der*
scThun ist ein Rt» jähriger PhshUise!, der r»ut mnitjpkn • Lymfdikftotsnsehwelifliigtnt
rattl einem deutlichen Milztuomr und einer Leukuzyt.enzahJ von POUOOi* sowie U>
(echt elendem 4%emeinznstnnd in Behandlung trat. Er ist jetzt seit, -j i/,, .fahren
tmunterbroch?« arbeitsfähig und hat bei tu OOO Leukozyten nur -tu v' ft Lymphozyten.
Allerdings handelt es sieh liier affenbar um einen .begiimendeö leichteren Fall, der
zurzeit des Beginns der Behänd Jung wohl »och .nicht; lange bestgmka hatte. Noch
eklatanter aber ist der Erfolg in einem Andere« alten vm’gmduittewn Fall, der
jetzt bereits 7 Jahre besteht, und zuerst-. vor zwei Jahren, im Marz !Op; 'bestrahlt
wurde, als die Krankheit bereits ö Jahre bestand. Kr ist besonders dadur- h
ausgezeichnet. daß durch die KümcenMnindlinip auch eine, -sehr entstellende
b ukünüsrbe HfltirhthHratiou Je*. tlvsirhu-s völlig beseitigt wurdet, ist. Wegen dieser
Iktotarfektinn habe i<:5» den Patienten am 3Ä.Februar PÖ10 in dnr R, »Ät-dMies-dlsrbiift
vorgeBtellt. t.Siehe t h’giiialiiHikei ju dek B- hl. W. 19tß, Nr.! 4 p
Der 57 Jahre alte Patkjilhat vor II Jahirer« <dnen Hnfge'hlag gegen den iinken
Unterschenkel erlitte« und ciae kouipUzisrfa Fraktur .tkfcs'fclfee» davongeirage«, an die sich
langwierige Eiteraugen nnschhisgeu;. Erst «ach einer Eesektfbii des liüfcyn Kniegelenkes
kam der Prozeß warHeilung. ^ Etwa P'/.j^Jahre
MB
der Lenkögyten
i. die. fast alle Lymphozyten waren,
betrag 1.60000. wsir üntlimig gescliwolleß, « l i p|ja a /
ihre Haut War blaniötverfärbt, stark yerdiekt (rnil gfflpBjjsy _.,L
infiltriert and Ifeü sich nicht, i« Falte« abhehen. |ppjip v
Ebeno*! zeigten bfeidfe NaatdahtälialtÄtt wk. 4kHatit ; iy • • • J
fh» jÜft. &&$$$&!&*& defltlkfte Tufiltrate. AM». 1 * Fv ’ v /'..
zeigt di.s Aussehen des Patienten ir. dieser Seit
und gibt auch die damals vorhandeneu Marken
LymphkuoteUschwellnngeit am Halse tnratJlch Wltsder,
^er Patient oekam nun raw l. hl» ’ 22. März 1 *
1-ßlö die «Me Hestrahlaogsserie (Hr. TiigttHlrerch).
Es war.dea. 5« Felder von je 5 m» Diirchrofesser (linke Halsseite, Gesicht, Nase,
Sternum, Unke Thorasseite, Milz,,'13 mal je 15 Minuten. lang bestrahlt. l'Siedorohr
von Müller am Triiiibxäpparat vofc ,§iemen8 i &. Halbke hinter 5 mnt Aluminium- Sekandäre
Belastung.2 Milliampere. •.-.'.Hätte der ftfliiltriertcn tiiihre »l Wdjnelt, parellele Fnaken-
Z*«*.rir. t i4iy«k. n. *114» tl-», jü-fi; s.A • V 1
242 Hans HintehfftJd, : %!ai iVopKiar «n*i Ri»nt|ri*r t tWfAp>^ ,d*r lyiuphatlächoA Leokänjie,
Btrecke 39 cm, Umgesattit 4?f) MIHiiniisereromatea). Gleidtzeitif bekam er ytftcbenCUch
drrinmi - Mt&: Atexj j*A raeatejektion-. (Marke Silbe) intravenös, im ganzen 12 lujektiöli«ni.
von denen jede.je 0,1 g Älbxyi und Acidum argenitsaiun In erst steigeiiden lk.*e» -yd» 0,002
bis, $$$$■ n%d dann vriedef Ws 0,002 faHanden «utkieii. Üntee «liesiß»- Bebitedhtng
gingen : : alte Schwell» wren uod ssefe di« Oestefjis-
»Seitten 'erheblich xnrück. 4ie LeiikAzytenzniil bo-
Als sieb der Patient am 2^ November 1940
.'•■ 'S» wieder vftrs«‘.s!Uö, batte er 13000 Leukozyten, Die
f Schwellung <if?r Nase war erUfeWieU geringer, Nwe
L :5: und ‘»Vatigen w*r«a bteu, and; die i?al$!yropl.kiKit*:ö-
’ : : -''v w.nrei! nur noch -«-«tag vergrtWjerf und die Mil?
'•S/Sr*. war jralpabeL
Tr r -‘V»- Tft .--.'• ,; a| r Er erMeit dann «och ¥em 2- NeVMi>ber bis
r*.^-r J. Dezember ifjlfi l4.;^^trÄU^f^a/ 4er gtejehwa
- •• ■ 'V-.. .- Felder ur-.l mit der gleiche» Oteehoik wie .oben. Die
*•'•:£■ v IfcsrtKihteag^awte -: '4«^i betrug 2Ö Minnien,
■ tSr/ Wüttien 040 Nfillirain{tO>e*Juteat*J4 gegeben,
v^HHBHHBr ak Er «teilte sich am 18. Oktober 1917 wieder vor.
Die DrSaen am Hals and den übrigen Regionen 'Vftrea
_ _ rbÖer f|fift>Vörde«j «.je Leakozyteuzahl betrog
20 t t(ii), lite Prozentzähl der Lymphozyten 60 ®:„.
■'FFlNAißiyvky w i-%•*'••.’'aBi .Er bekam dal»», als 111. Serie vom 18. bis 27. Ok-,
. .. tbiier 191? 3 Beatrahlwngen von 36 Minntea Daker
'4^ “' mit der CooliugerMire am Briplexappam von Sie-
mens & HaMe hinter cv min Alnaifoteni, ParaileU-
I'itukenßtrecke 39 cm, sekundäre Belastung 2; Miiliainptire,. Risgeeaist 3 MilUainprremtentf'.n.
Die vierte Besfrahinngsserie wuriSe votu 25. Oktober Ms io, November 1917 verabreicht.
(10 Felder von « cfci Durchmesser, Milz, Unke Dalsseite. Stcrnbrn, j» 1 20 fitesten lang
f'oolitlgetdhre tun ('ooiidge-TherapifcapparAt Von Ste&iens &. Halske hioter S tfliti Ateminiuni-
Sefenndfer? BeteBtftng S Milltempörc, Insgesamt ßÖÖ MIlliamperemiaoteu),
Ans 19. NovÄüaber. 191? betrag die BenközytÄtizabl 12000, darunter nur 4Ö "/p
L.vhijdiniS^ißn. Die MtfeachWeltongtnid die Iteftseutumpren waren geringfügig, das Gesiebt*
•t?ie Abb. 2 zeigt, war vlflßg horma),
.Obwohl seitdem keine Bestrahlung mehr vargeoomntett wurde, frtk.lt sieh, der Patient
andauernd wohl and bat nnr noch geringfügige DirüaoflBchweihitigvn, duck Ist das Gesteht
norinal geblieben.
Erst eine am l.Mai 1918 ivorgeaommeije Blntuntersucbaug. <5ie 60000 Leukozyten mit
75 6» t| . kleinen Lymphozyten ergab, zeigte, daß eich dennoch wieder ein Rezidiv vorbereitet.
Der Fall ist Wvaeti seiiiFc ;h)ili(irurdetitliclt günstig«!Eeajknpii teuf ille. Hoiitgtjit-
te’lwiKÜuug, ttesoodurs aber weghjt des ausjfezeichm-ten kostnetikeJieu LVstiltatos
bezgl. der leukämischen Gestehtsaffelaüm hettierken^werf. Nit Id immer lassen si«-h
letJki’imisehe Infiltrate der-Hain ah gm bi^tutiren- tvi»? hier. Teil kenne Fülle, die
sieh in dieser itexiehttftj.' völlig refraktär verhielten, »Meli sind dieselben nueh
nicht mit modernen Apjmraten b«'i>ai.ideit whrdM,
% Digitizerf b : GO gk
A. Laqueur, Praktische Bemerkungen zur Diathermiebehandlung.
243
IV.
Praktische* Bemerkungen zur Diathermiebehandlung.
Aus dem hydrotherapeutisch-medikomechanischen Institut de? städtischen
Rudolf Virchow-Krankenhauses zu Berlin.
Von
Dr. A. Laqueur.
Wenn das in dieser Zeitschrift schon so häufig erörterte Thema der Dia-
thermiebehandluug hier wiederum zur Besprechung kommt, so mögen dafür neben
der großen praktischen Wichtigkeit, welche die Diathermiemethode in der
physikalischen Therapie mehr, und mehr gewonnen hat, noch zwei besondere
Gründe als Entschuldigung dienen. Einmal ist diese Methode wohl zuerst in
Deutschland in unserer Zeitschrift beschrieben und besprochen worden (im
13. Bande von v. Bernd und Nagelschmidt, woran sich in demselben Bande eine
experimentelle und praktische Mitteilung des Verfassers anschloß); und dann war
der Verfasser Zeuge, "wie der verehrte Jubilar, dem dieses Heft gewidmet ist,
von Anfang an, als die Wiener Kollegen v. Bernd und v. Preyß ihre Methode
liier in Berlin zuerst mit einer damals noch recht primitiven Apparatur anwandten,
dem Verfahren die regste Aufmerksamkeit entgegengebracht, ihm tatkräftige
Förderung zuteil werden ließ und sich in erfolgreicher Weise um seine Ein¬
führung im Rudolf Virchow-Krankenhause, dessen ärztlicher Direktor er damals
war, bemühte. Auf diese, fast ein Dezennium zurückliegenden, weiteren Kreisen
nicht bekannten Vorgänge hinzuweisen, gebietet sowohl historische Gerechtigkeit
wie persönliche Dankbarkeit.
Die große Beliebtheit und Verbreitung, die das Verfahren im Laufe der Zeit
in der Praxis errungen hat, hat nun zu Begleiterscheinungen geführt, welche bei
neuen therapeutischen Methoden, und zumal bei solchen der physikalischen Therapie,
fast unvermeidlich sind. Auf der einen Seite sehr weitgehende und weitherzige
Indikationsstellung, auf der anderen Seite eine Skepsis, welche dann das Kind
mit dem Bade ausschütten will. Beides ist allerdings bei der Diathermie nicht so
scharf in Erscheinung getreten, als bei manchen anderen modernen physikalischen
Methoden; denn dem wirklichen Werte einer Methode, die in ganz neuartiger
Weise die alle Schichten des Körpers durchdringende Widerstandswärme des
Organismus therapeutisch verwertet, konnte sich niemand verschließen, der längere
Zeit damit praktisch gearbeitet hat. Immerhin mag es nicht überflüssig sein,
hier einmal aphoristisch auf Grund einer vieljährigen Erfahrung auf einige Punkte
hinzuweisen, w'elche sich auf die Grenzen der Indikationsstellung sowie einige in den
letzten Jahren neu hinzugekommene Indikationen beziehen.
16 *
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSETY OF MICHIGAN
244
A. Laqueur
Es ist bekannt, daß die genaue Dosierung der Stromstärke bei Anwendung
der Diathermie sich nicht nur nach dem Anzeigen des Hitzdrahtamperemeters,
sondern auch nach den subjektiven Angaben des Patienten über das eben noch
erträgliche Wärmegefühl richten muß. Merkwürdigerweise findet aber bei der
Empfehlung des Verfahrens bei solchen Krankheiten, welche mit Störungen der
Hautsensibilität verbunden sind, dieser Umstand, soweit mir bekannt, fast gar
keine Berücksichtigung; und doch muß darauf streng geachtet werden, wenn
schwere Hautschädigungen durch Verbrennen vermieden werden sollen. (Auch bei
der Heißluftbehandlung ist erst verhältnismäßig spät auf diesen* Punkt publizistisch
hingewiesen worden.) Von Krankheiten, die mit Störungen der Hautsensibilität
einhergehen, kommen neben der Hysterie — auch an diese als Komplikation
eines sonstigen Leidens muß gedacht werden! — hauptsächlich die Tabes, neu-
ritische Erkrankungen und dann Neuralgien infolge von peripheren
Nervenverletzungen durch Schuß und dergleichen in Betracht. Auch bei Akro-
parästhesien, arteriosklerotischen Zirkulationsstörungen an den Extremitätenenden,
Erfrierungen und ähnlichen, zur Diathermiebehandlung an sich recht geeigneten
Leiden, muß auf Störung der Wärmesensibilität geachtet werden. Es sei nun
bei weitem nicht gesagt, daß solche Sensibilitätsstörungen eine Kontraindikation
der Diathermiebehandlung überhaupt bilden, nur muß in derartigen Fällen die
Technik der Anwendung besonders modifiziert werden. Es geschieht dies einmal
dadurch, daß große Elektroden verwandt werden; denn je geringer die Strom¬
dichte an der Übergangsstelle von der Leitung in den Körper, um so geringer
ist die Verbrennungsgefahr. Namentlich bei der Tabes ist die Verwendung großer
Elektroden am Platze, man kann dann bei Durchleiten eines Stromes von 1 bis
1,2 Ampere Stärke quer durch den Rumpf ziemlich sicher sein, daß eine über¬
mäßige Erwärmung der Haut vermieden wird.
Ferner bedient man sich bei der Diathermiebehandlung von Extremitäten,
welche Störungen der Hautempfindlichkeit aufweisen, zweckmäßigerweise der
Längsdurchwärmung. Wenn die eine — nicht zu kleine — Elektrode am
Oberarm oder Oberschenkel und, falls nur periphere Nervenverletzung vorliegt, jeden¬
falls oberhalb des in der Sensibilität veränderten Hautbezirks angebracht wird,
als zweiter Pol entweder der bekannte Metallhandgriff oder ein Wasserbad be¬
nutzt wird, so erfolgt bekanntlich die stärkste Erwärmung, falls die erstgenannte
Elektrode von genügender Größe ist, nicht an den Eintrittsstellen des Stromes
in den Körper, sondern am Orte des geringsten Querschnitts der Extremität.
Die Kontrolle des Grades der Erwärmung läßt sich dabei einmal durch die Hand
des behandelnden Arztes in ziemlich sicherer Weise vornehmen, außerdem gibt
das Amperemeter dem Erfahrenen ebenfalls einen wohl hinreichend genauen An¬
haltspunkt (Stromstärken von 0,4—0,0 Ampere bei der beschriebenen Technik).
Schließlich ist in Fällen von peripheren Nervenverletzungen oder Erfrierungen
auch die Tiefensensibilität des Patienten häufig viel weniger gestört als die
Hautsensibilität, so daß sich auch die Angaben des Behandelten selbst in den
meisten Fällen bei Anwendung einer solchen Anordnung recht wohl zur Regu¬
lierung der Stromstärke mit verwenden lassen. * Conditio sine qua non ist bei
alledem natürlich eine sorgfältige Technik. Durch das Fortlassen der Umwick¬
lung der Metallelektroden mit durchfeuchteten Kompressen, welche, wie K. Bangert
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Praktische Bemerkungen zur Diathermiebebandlung.
245
in dieser Zeitschrift nachgewiesen hat 1 ), den Übergangswiderstand zwischen
Elektrode und Haut in unnötiger und für die Wirksamkeit des Verfahrens un¬
zweckmäßiger Weise erhöhen, ist ja überhaupt die Verbrennungsgefahr wesentlich
herabgemindert worden.
Die therapeutische Wirksamkeit der Diathermiehehandlung bei der Tabes
wird ja im allgemeinen sehr gerühmt und selbst Autoren wie H. E. Schmidt,
die sonst dem Verfahren recht skeptisch gegenüberstehen, lohen dessen Wirksam¬
keit hei dieser Krankheit. 2 ) Ich kann mich diesem Urteil für manche Fälle durch¬
aus anschließen und habe namentlich bei Magen- und Darmkrisen, besondere
solchen mehr chronischer Natur, recht günstige Erfolge gesehen, ebenso bei
manchen Kranken mit lanzinierenden, mehr chronischen und nicht gerade akut¬
anfallsweisen Schmerzen. Andererseits ist aber doch vor einer Überschätzung
des Verfahrens bei diesem Leiden zu warnen. Es liegt ja ungemein nahe, gerade
gegen heftige neuralgiforme Schmerzanfälle die Diathermie zu versuchen.
Wie bei Neuralgien überhaupt, so kann es aber auch bei den tabischen Neural¬
gien, besondere wenn sie ganz akut und anfallsweise auftreten, geschehen, daß
die tiefgehende und intensive Erwärmung, w r ie sie bei der Diathermie erfolgt,
nicht nur nichts nützt, sondern direkt durch Auslösung eines neuen Anfalls oder
Verschlimmerung der bestehenden Schmerzen Schaden bringt. Derartiges habe
ich des öfteren beispielsweise bei Patienten erlebt, die sich in gutem Er-
nährungs- und Kräftezustand befinden und bei. denen solche Anfälle, vorzugs¬
weise im Ulnarisgebiete, Jahre hindurch eigentlich das einzige, aber höchst
quälende subjektive Symptom der Tabes bilden. Allerdings verhalten sich diese
Fälle auch anderen physikalischen und medikamentösen Maßnahmen gegenüber
oft recht refraktär. Am besten wirkt hier noch eine Thermalbadekur, namentlich
die Gasteiner Quellen werden von diesen Patienten sehr gerühmt. Bei den
mannigfachen Formen, unter denen die tabischen Schmerzen in Erscheinung
treten, ist jedenfalls die übrige Elektrotherapie in Form der Faradisation, der
faradischen Bäder, der Rückengalvanisation und der d’Arsonvalisation durch das
Hinzukommen der Diathermie keineswegs überflüssig gemacht worden.
Schwankend und vielfach widersprechend sind auch die Urteile über die
Wirksamkeit der Diathermie bei peripheren Neuralgien. Es liegt das daran,
daß die Neuralgie ja kein einheitliches Krankheitsbild bietet und nach Ursache
und Erscheinungsform einen sehr wechselvollen Verlauf zeigt, so daß von einem
einheitlichen therapeutischen Mittel bei dieser Krankheit, wenn man von der rein
symptomatisch und vorübergehend wirkenden Analgeticis absieht, überhaupt nicht
gesprochen werden kann. Dann aber muß bei der Indikationsstellung eines so
energisch und durch die intensive Wärme erregend wirkenden Mittels scharf unter¬
schieden werden, ob es sich um die ersten akuten Reizstadien oder um eine ältere,
mehr chronisch verlaufende Neuralgie handelt. In dem ersten akuten Stadium
ist im allgemeinen die Diathermie nicht indiziert. Ausnahmen von dieser Regel
kann man zwar in einzelnen Fällen erleben, besondere wenn die Diathermie dabei
sehr vorsichtig und in geringen Dosen angewandt wird. In der Mehrzahl der Fälle
aber versagt das Mittel und kann, wie oben schon erwähnt, sogar durch Heizung
') Bd. XX. S. 271.
*) Berl. kl. Wochenschr. 1918. Nr. 8.
Digitized b"
Google
/*
Original from
UMIVERSITY OF MICHIGAN
24G
A. Laqueur
des erkrankten Nerven Verschlimmerungen oder neue Anfälle hervorrufen. Des¬
halb sind im Beginne der Behandlung von Neuralgien nach wie vor milde
Wärmemethoden am Platze, unter denen ich der Blaulichtbestrahlung den
Vorzug geben möchte. Die Kombination mit der Anodengalvanisation ist dabei
meist zweckmäßig. Daß außerdem auch schon in diesem Stadium, besonders bei
der Ischias, allgemeine Schwitzprozeduren in Form der elektrischen Teil¬
oder Ganzlichtbäder von Nutzen sein können, ist ja bekannt.
Ist durch eine solche Behandlung eine Linderung der Schmerzen herbei¬
geführt worden, dann kann man zur Diathermie übergehen und damit sehr häufig
— ein „immer“ gibt es in der Therapie überhaupt nicht — eine dauernde Be¬
seitigung der Schmerzen erzielen. Und ebenso erweist sich die Diathermie in der
Mehrzahl der Fälle von Neuralgie nützlich und häufig anderen Methoden über¬
legen, wenn man die Patienten erst nach mehrwöchentlichem oder noch längerem
Bestehen der Krankheit in Behandlung bekommt. Hier kann man Erfolge er¬
leben, sowohl in bezug auf Raschheit der Heilung, wie auch namentlich bezüglich
der Dauerwirkung» die oft geradezu überraschend für den Arzt wie den Pa¬
tienten sind. Daß daneben auch Mißerfolge Vorkommen, z. B. bei den so hart¬
näckigen Trigeminusneuralgien alter Leute, darf nicht verschwiegen werden; aber
das darf nicht davon abschrecken, gerade in hartnäckigen und veralteten Fällen
von Neuralgie ein Mittel zu versuchen, das sich häufig so gut bewährt hat und
das doch vielfach, und darauf kommt es an, einen wirklichen Fortschritt vor
den bisher geübten Methoden der physikalischen Therapie darstellt.
Allerdings ist es notwendig, wenn man solche Erfolge erreichen will, gerade
bei der Behandlung peripherer Neuralgien eine gewisse V orsicht zu beobachten.
So wende ich hierbei die Diathermie niemals täglich, sondern nur jeden zweiten Tag
an. Auch hat es sich nicht als zweckmäßig erwiesen, die Dauer der einzelnen
Sitzung über 20 Minuten auszudehnen. Über die Zahl der Sitzungen, die bis zur
Erzielung der Heilung erforderlich sind, läßt sich natürlich allgemein-giUtiges
nicht sagen. 12—15 Sitzungen sind bei leichten und mittelschweren Fällen oft
ausreichend, bei hartnäckigeren Fällen muß die Kur darüber hinaus in immer
größer werdenden Pausen zwischen den einzelnen Sitzungen verlängert werden.
Das eben Gesagte gilt auch für die oft so hartnäckigen und schwer zu be¬
seitigenden Neuralgien nach Schußverletzungen peripherer Nerven. So
lange die Hyperästhesie eine sehr große ist — und das ist hier oft noch monatelang
nach der Verwundung der Fall — ist die Diathermiebehandlung nicht am Platze,
sondern milde Wärmemethoden, wie die Blaulichtbestrahlung, verbunden mit der
Galvanisation, sind vorzuziehen. Erst wenn das ärgste Reizstadium überwunden
ist, kann man dann zur Diathermie übergehen und hierdurch recht häufig sehr
befriedigende Erfolge erzielen. Wie bei den Neuralgien überhaupt, so ist nament¬
lich bei den Neuralgien nach Nervenverletzungen, schon wegen der dabei meist
bestehenden Sensibilitätsstörungen, meist die Längsdurchwärmung angezeigt.
Die Frage, wie weit sich die Diathermiebehandlung überhaupt für die
Kriegsverw’undeten und Kriegskrankea eignet, ist in den letzten Jahren
verschiedentlich erörtert worden, denn naturgemäß mußte man wünschen, dieses
neue wirksame Verfahren auch unseren verletzten und erkrankten Kriegern zugute
kommen, zu lassen. Tatsächlich kann die intensive Wärme- und Hyperämiewirkung.
[ ■ itized b
Google
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Praktische Bemerkungen zur Diathermiebehandlung.
247
die mit der Anwendung der Diathermie verbunden ist, auch hier in mannigfachster
Weise Nutzen bringen, sowohl bei Verwundeten zur Beförderung der Resorption
von traumatischen Exsudationen und Infiltraten, zur Lösung schmerzhafter
Kontrakturen, Erweichung und Schmerzstillung an Narben, Bekämpfung von
Neuralgien nach Nervenverletzungen, als auch bei Kriegskranken, vor allem solchen
mit neuralgischen und rheumatischen Leiden. Demgemäß liegen auch verschie¬
dentlich günstige Berichte aus Lazaretten vor, namentlich aus solchen, in denen als
Methode der Wärmebehandlung fast oder ganz ausschließlich die Diathermie verwandt
wnirde. Betrachtet man aber die Frage kritisch von dem Standpunkte aus, in¬
wieweit gerade hier die Diathermie anderen physikalischen Heilmethoden, nament¬
lich den sonstigen Wärmeanwendungen, überlegen ist, so sind doch einige Ein¬
schränkungen geboten. .-Stehen diese anderen Methoden zur Verfügung, was ja
bei weitem nicht in jedem Lazarett der Fall ist, so ergibt sich, daß in der Nach¬
behandlung Kriegsverletzter eine Schmerzstillung, Erweichung und Mobilisierung
sich mit Dampfduschen, Fangopackungen, warmen örtlichen oder allgemeinen
Bädern usw. ebensogut, häufig sogar besser als mit der Diathermie erreichen läßt.
Nur bei Neuralgien nach Schußverletzungen und hei Erfrierungen zeigt
sich die Diathermie hier oft den anderen Methoden überlegen.
Die „rheumatischen“ und „neuralgischen“ Erkrankungen, wie sie in
den Lazaretten zur Behandlung kommen, bilden im allgemeinen für die Therapie
ja eine undankbarere Aufgabe, als wir es von den Friedenszeiten her bei ähn¬
lichen Leiden gewohnt waren. Der meist unbedeutende oder ganz fehlende
objektive Befund, das Wechseln und Wandern der örtlichen Beschwerden er¬
schweren gerade die Anwendung einer Methode, welche, wie die Diathermie, ihre
besten Erfolge bei scharf umschriebenen und objektiv gut erkennbaren und lokali¬
sierbaren Veränderungen auf weist. Deshalb wird man bei diesen rheumatischen
Erkrankungen, oder genauer gesagt, um einen von Goldscheider 1 ) eingeführten
Ausdruck zu gebrauchen, bei den refrigeratorischen Myalgien und Arthralgien
vorzugsweise die allgemeine Diathermie anwenden. Dabei ist aber eine Über¬
müdung der oft erschöpften und gleichzeitig nervös erregbaren Patienten sorg¬
fältig zu vermeiden, und es darf auch nicht vergessen werden, später neben
der Wärmebehandlung nach Goldscheiders Empfehlung zu milden hydrothera¬
peutischen Kälteanwendungen und zu einer zweckmäßigen Gymnastik überzugehen.
Weiterhin bildet die Komplikation mit Neurasthenie und mit Neurosen,
die sich so häufig bei derartigen rheumatisch und neuralgisch Kranken, besonders
nach längerem Lazarettaufenthalt, einstellt, ein erschwerendes Moment für jede,
wenn man so sagen darf, rein objektiv wirkende Therapie und somit auch für die
Diathermiebehandlung. Nonne hat kürzlich in einem in Berlin gehaltenen Vortrage
über Suggestionsbehandlung geäußert, daß etwa 60 °/ 0 aller unter der Diagnose
Ischias in den Heimatslazaretten behandelten Patienten in Wirklichkeit an einer
Neurose leiden. Diese Schätzung dürfte sicherlich nicht übertrieben sein, besonders
wenn man diejenigen Fälle hinzu nimmt, bei denen wohl ursprünglich eine Ischias
vorhanden war, dann aber die unverhältnismäßig lange Krankheitsdauer sowie
die dem objektiven Befund nicht entsprechenden schweren Gehstörungen den Ver-
l ) Diese Zeitschr. Bd. XX, S. 193.
Difitized
by Google
/
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
248
A. Laqueur, Praktische Bemerkungen zur Diathermiebehandlung.
dacht auf Neurose erwecken, der sich dann durch Feststellung der bekannten
Allgemeinsymptome leicht bestätigen läßt. Daß in solchen Fällen auch die Diathermie
versagt, kann nicht wundemehmen.
Dankbarer ist die Anwendung der Diathermie in den bei Kriegskranken
selteneren, mit objektiven Veränderungen verlaufenden Fällen von subakutem
und chronischem Gelenkrheumatismus, sowie bei den nicht selten vorkommenden
Arthritiden nach Ruhr. In diesen Fällen, sowie bei den früher erwähnten Neuralgien
nach Nervenschüssen und bei den Erfrierungen bildet die Diathermiebehandlung,
auch in Lazaretten sehr häufig ein den sonstigen physikalischen Heilmethoden
überlegenes Agens. Davon abgesehen spielt sie aber bei der Behandlung von
Lazarettinsassen, falls die anderen Mittel der physikalischen Therapie zur Verfügung
stehen, doch nicht die präponderierende Rolle, die man ihr von manchen Seiten
zuschreibt. In der hydrotherapeutischen Anstalt des Rudolf Virchow-Kranken-
hauses verhielt sich beispielsweise in zwei bestimmten Zeitabschnitten die Zahl
der mit Diathermie behandelten Zivilpersonen zu derjenigen der damit behandelten
Soldaten, wie 39 : 1, bzw. 37 : 3, während in der betreffenden Zeit der Prozent¬
satz der in der Anstalt überhaupt behandelten Soldaten 40 % bzw. 45 °/ 0 betrug.
Zum Schlüsse sei noch auf zwei neuere, weniger bekannte Indikationen der
Diathermiebehandlung bei inneren Leiden hingewiesen. Bei den chronischen
Gallenblasenentzündungen, auch den mit Steinbildung verbundenen, läßt sich
mit der Diathermie oft ein sehr guter Erfolg bezüglich der Schmerzstillung sowie
Verhütung der Anfälle erzielen. Vorsicht ist allerdings, besonders im Anfänge
der Behandlung, geboten, um die initiale. Reaktion zu verhüten oder doch
möglichst milde zu gestalten. Deshalb sind anfangs intensive Wärmegrade zu
vermeiden, die Dauer der einzelnen Sitzung, auch der späteren, auf 15 Minuten
zu beschränken. Auch Grube 1 ) in Neuenahr hat auf diese wichtige Indikation
des Diathermieverfahrens neuerdings aufmerksam gemacht, das er auch bei post¬
operativen Verwachsungen mit Kolikschmerzen erfolgreich anwandte.
Weiterhin sei auf die wohltätige Wirkung hingewiesen, welche die Diathermie
der Herzgegend bei dem Oppressionsgefühl und den Angina pectorisartigen Be¬
schwerden der Arteriosklerosekranken mit Sklerose der Coronararterien ausübt.
Diese Wirkung stellt sich häufig schon nach den ersten Sitzungen ein; sie ist aber
in nicht zu vorgeschrittenen Fällen meist eine anhaltende, besonders wenn die
Kur nach einiger Zeit — nach 3 bis 6 Monaten etwa — wiederholt wird. Eine
Senkung des pathologisch erhöhten Blutdrucks läßt sich recht oft dabei be¬
obachten, ebenso wie nach der d’Arsonvalisation, worauf schon vor mehreren
Jahren Braunwarth und Fischer in dieser Zeitschrift hingewiesen haben' 2 ).
Häufig habe ich auch Erfolge in solchen Fällen gesehen, w r o die d’Arsonvalisation,
selbst wenn sie örtlich in der Herzgegend angewandt wurde, zur Bekämpfung der
genannten Beschwerden versagt hatte. Eine sehr intensive Erwärmung der Herz¬
gegend ist bei dieser Anw'endungsform der Diathermie nicht notwendig und w r egen
der anstrengenden Allgemeinwirkung auch gar nicht am Platze. In der Regel
genügt es, bei Applikation größerer Elektrodenplatten einen Strom von 1 Ampere
Stärke durch den Oberkörper zu schicken, w r obei zweckmäßigerweise die vorne
*) Medizin. Klinik 1918, Nr. 17.
3 ) Bd. XVI, S. 641.
“Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Schlesinger, Zur Kadiumbehandlung d. Krebses, insbesondere d. Rektumkarzinoms. 249
der Herzgegend anliegende Platte etwas kleiner gewählt wird, als die Rücken¬
elektrode (Dauer 10 bis 15 Minuten).
Noch manche andere Fortschritte • hat die Diathermiebehandlung in den
letzten Jahren aufzuweisen, namentlich auf Spezialgebieten der Medizin, wie der
Urologie, der Gynäkologie, der Augenheilkunde. Hierauf einzugehen, würde aber
hier zu weit führen. Der Zweck der obigen Ausführungen war nur, in aphoristischer
und kritischer Weise auf einige Punkte einzugehen, welche bei der praktischen
Anwendung der Diathermiebehandlung ein gewisses Interesse beanspruchen dürften.
y.
Zur Radiumbehandlung des Krebses, insbesondere des
Rektumkarzinoms.
Von
Dr. Erich Schlesinger.
Die Wertschätzung des Radiums als Heilfaktor bei der Behandlung bösartiger
Geschwülste hat in den letzten Jahren mancherlei Wandlungen erfahren. — Wie
immer bei der Entdeckung eines stark wirkenden Mittels trat zunächst ein schranken¬
loser Enthusiasmus in die Erscheinung. Der neue Stoff, der die jahrhundertalten
Grundpfeiler des physisch-chemischen Denkens ins Wanken gebracht hatte, der die
Lehren von der Unzerstörbarkeit des Elements, von "der Konstanz des Atomgewichts
in neue Bahnen lenkte und die Spekulation der alten Philosophen von einem ein¬
heitlichen Ursprünge der Materie in den Kreis menschlichen Begreifens rückte,
ließ seine Gnadenstrahlen auch in eines der dunkelsten Gebiete der Heilkunde
leuchten. Ein Heilmittel gegen den Krebs schien erstanden zu sein. Alle desolaten
Fälle, bei denen der chirurgische Eingriff längst als aussichtslos aufgegeben war
und die der einschläfernden Morphiumtherapie des Hausarztes überantwortet waren,
gewannen wieder klinisches Interesse und überfüllten die Behandlungsräume der
glücklichen Besitzer des kostbaren Elementes. — Die Berichte über glückliche
Heilungen blieben denn auch nicht aus. Die Horazeschen Regeln: Nonum primatur
in. annum, die für dieses Spezialgebiet der Medizin mehr als für jedes andere
gelten sollten, wurden meistens unter dem zwingenden Eindruck des handgreiflichen
Erfolges vergessen und die Rezidive erschienen häufig erst nach erfolgter Druck¬
legung. Bald kam die unausbleibliche Ernüchterung. Anfangs Geheilte erkrankten
von neuem, viele völlige Versager kamen dazu, das Radium war seines Unfehlbarkeits-
nymbus entkleidet und marschierte bescheiden in der Reihe vieler gleichfalls ge¬
stürzter therapeutischer Größen.
Diese ganze Entwicklung hat sich in der Geschichte der Medizin oftmals
wiederholt. Merkwürdig ist in unserem Falle nur ein einziges Moment, ein Denk-
Digitized by
Gck igle
Original fro-rn
UNIVERSITY OF MICHIGAN
250
£. Schlesinger
fehler oder vielmehr ein Kompromiß, durch den sich der anfängliche Enthusiasmus
mit den bald einsetzenden kritischen Regungen abzufinden suchte.
Man glaubte ein Heilmittel gegen den Krebs zu haben. Trotzdem wurde
allerorts das Dogma verkündet: Nur das inoperable Karzinom darf bestrahlt werden.
Solange noch irgendwelche Aussicht auf chirurgische Ausrottung des Leidens besteht,
regiert das Messer. „Erst der Stahl, dann der Strahl.“ Dieser Standpunkt wäre
durchaus berechtigt, wenn die operative Karzinomtherapie auf festeren Füßen stünde.
Daß dem nicht so ist, lehren die traurigen Zahlen der Statistik. Von operativ
geheilten priinären Karzinomen des Uterus blieben etwa 50 %, von solchen der
Mamma kaum 30 °/ 0 , des Rektums kaum 7 °/ 0 , des Magens kaum 1 % rezidivfrei.
Die beste Chance für die Operation bietet also der primäre Krebs der weiblichen
Geschlechtsteile, und trotzdem waren es gerade die Gynäkologen, von denen zuerst
die Losung ausgegeben wurde, die aussichtsreichste Behandlung des Uteruskrebses
sei nicht die Operation, sondern die Bestrahlung. Daß bei diesem Standpunkte
bald die Röntgenröhre, bald die Radiumkapsel auf den Schild gehoben und ver¬
dammt wurde, tut nichts zur Sache. — Man erhielt den Eindruck, daß manche
Klinik en saisonweise bald mit Röntgen, bald mit Radium heilten, eine Erscheinung,
welche wohl hauptsächlich auf einer etwas flüchtigen Kenntnis der physikalischen
Grundbegriffe und technischen Möglichkeiten begründet ist.
Zur Beantwortung der Frage, warum nur die Gynäkologen im Gegensatz zu
der Chirurgie auf dem Boden der reinen Bestrahlungstherapie stehen, gibt es zwei
Erklärungsmöglichkeiten:
1. Die Tatsache, daß der Krebs des Uterus der Bestrahlung räumlich besonders
zugänglich ist. In einer Arbeit von Rupp (D. m. W. 1914, Nr. 51) findet sich der
Passus: „Gegenüber dem Uterus, der offen zugänglich ist, ist die Mehrzahl der
anderen Körperorgane im Nachteil: Haut, Muskeln, Fett, Knochen absorbieren einen
großen Teil der Strahlen (pro 1 cm 10 °/ 0 der harten Gammastrahlung), die Strahlen¬
intensität nimmt im Quadrat der Entfernung ab, und es bleibt für die tiefer gelegenen
Tumoren nur mehr ein verschwindender Rest von Energie.“ Die Wahrheit der
physischen Überlegung in diesem Satze wird niemand bestreiten. Bezüglich der
offenen Zugänglichkeit besitzt aber das Karzinom des Rektums, der Prostata, der
Speiseröhre, der Brustdrüse, der Zunge die gleichen günstigen Bedingungen wie
das des Uterus. — Auch die Zugänglichkeit des Magenkrebses ist nur eine Frage
der Tec hnik. Es gelingt z. B. beim Karzinom der vorderen Magenwand unschwer,
den Tumor in die Bauchhaut einzulagern, zu tunnellieren und direkt zu bestrahlen.
Von wesentlich größerer Bedeutung ist der zweite Erklärungsversuch:
histologisch ist es ohne weiteres klar, daß der Krebs kein einheitlicher Begriff ist,
ganz abgesehen von den mannigfachen Unterschieden des elementaren Aufbaues.
Die Yirchowsche Erfahrung lautet: „Die Karzinome sind bösartige epitheliale
Gebilde, die sich durch infiltratives Wachstum und durch Metastasenbildung aus¬
zeichnen.“ Der Uteruskrebs führt erfahrungsgemäß erst spät zur Metastasierung.
Das gleiche sehen wir jedoch bei vielen Fällen von Rektumkarzinom, sowie
beim Brustkrebs, besonders wenn er im vorgerückten Lebensalter auf tritt. Wir
sehen nicht nur einen wesentlichen Unterschied bezüglich der Bösartigkeit der
einzelnen Karzinomformen hinsichtlich der Metastasierung und der Intensivität des
Umsichgreifens, sondern auch einen solchen bei verschiedenen Fällen der gleichen
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Zur Radiumbehandlung des Krebses, insbesondere des Rektumkarzinoms.
251
Form. Diese Tatsache würde allein ohne weiteres die wechselnde Wirksamkeit
der Bestrahlungstherapie erklären können. — Es gibt nun einzelne. Fälle, hei denen
die Bestrahlung absolut refraktär bleibt. Man hat versucht, die Blutversorgung
der verschiedenen Karzinomformen dafür verantwortlich zu machen. Blutreiche
Markschwämme sollten gut, harte Skirrhusformen schlecht reagieren. Demzufolge
sei besonders das harte, schlecht durchblutete Magenkarzinom ein absolut un¬
günstiges Objekt. Die Erfahrung hat diese Annahme als unberechtigt erscheinen
lassen. Von welcher Stelle des Körpers der Krebs seinen Ausgang nimmt, sowie
die Unterschiede des histologischen Baues, sind für den Erfolg der. Bestrahlung
ohne Einfluß, vorausgesetzt, daß er räumlich gut erreichbar ist.
Warum reagiert ‘nun das eine Rektum-, das eine Uteruskarzinom ohne
weiteres auf die Bestrahlung, das andere genau so aussehende unter den gleichen
Bedingungen gar nicht? — Diese Frage scheint die bei weitem wichtigste und
interessante auf dem ganzen Gebiet der Bestrahlungstherapie zu sein. Könnten
wir sie beantworten, könnten wir von vornherein eine Auswahl unserer Fälle vor¬
nehmen und die ungeeigneten ausscheiden, so stünde unsere Behandlung auf
sichereren Füßen und brauchte keine Diskreditierung zu befürchten.
Von einer Erklärung sind wir noch weit entfernt. Histologische Verhält¬
nisse kommen nicht in Frage. Es ist vielmehr anzunehmen, daß es sich dabei
um eine individuelle Reaktibilität des Organismus auf die Bestrahlung handelt. —
Wie wirkt denn überhaupt jede Bestrahlung? Halten wir uns an die grund¬
legenden Untersuchungen von Exner (Über die Rückbildung von Karzinom¬
metastasen unter Einwirkung von Radiumstrahlen, W. kl. W. 1Ö04, Nr. 7). Es
kommt bereits eine Woche nach der Bestrahlung zur Neubildung von Bindegewebe,
während zu dieser Zeit an der Karzinomzelle noch keine merkliche Veränderung
zn sehen ist. Diese Bindegewebsbildung ist das hervorstechendste Merkmal der
Bestrahlung. Die Bindegewebsstränge dringen nach und nach in die Tiefe des
Krebsknotens ein, sprengen die Krebsnester auseinander und schnüren die Krebs¬
zellen von der Blutversorgung ab. Nach einer größeren Zeit sehen wir Vakuolen¬
bildung in den Zellen, Quellen der Kerne und endlichen Zerfall. — Das neu¬
gebildete Bindegewebe enthält sehr zahlreiche Kapillaren, deren Endothel sich in
lebhafter Proliferation befindet. Es wird nach und nach immer derber und macht
zum Schluß den Eindruck einer jungen reaktionslosen Narbe.
Es handelt sich also bei der Strahlenwirkung nicht um eine reine Kauteri¬
sation des Krebsgewebes, wie vielfach angenommen wurde, auch nicht um eine
selektive Wirkung auf die einzelnen Krebszellen, sondern um die Provokation
einer Bindegewebsneubildung und eine sekundäre Erstickung des Krebsstromas
durch straffe Bindegewebszüge.
Man hat den Begriff der Radium- und Röntgenfestigkeit der Karzinomzellen
aufgestellt analog der Chininfestigkeit der Malariaparasiten. Die Festigkeit ist
keine endogene Eigenschaft der Krebszellen, sie ist vielmehr nichts anderes als
die mangelnde Fähigkeit des Organismus, auf die Bestrahlung mit der Bildung
jungen Bindegewebes zu reagieren. — Ich habe bei Rektumkarzinomen, die sich
gegen die Bestrahlung refraktär verhielten, Stückchen zur mikroskopischen Unter¬
suchung entnommen und fand stets in die Tiefe reichende Nekrotisierung und
zahlreiche kleine Blutungen zwischen den Karzinomzellen, niemals aber eine Spur
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSETY OF MICHIGAN
252
£. Schlesinger
von neugebildetem Bindegewebe. Die gleiche Erfahrung machte man bei der
Bestrahlung von Rezidiven, die nach einer voraufgegangenen erfolgreichen Radium¬
behandlung auftraten. Sie reagierten von Rezidiv zu Rezidiv immer schlechter.
Diese sich steigernde Festigkeit der aufeinanderfolgenden Rezidive beruht eben¬
falls auf der abnehmenden Fähigkeit des Organismus, frisches Bindegewebe her¬
vorzubringen.
Etwas anders sind die histologischen Vorgänge bei der intratumoralen Be¬
strahlung. Untersucht man einige Zeit nach der Behandlung ein Stückchen eines
tunnellierten. Magenkrebses, so findet man neben neugebildetem Bindegewebe große
Mengen von Leukozyten, die in die Zwischenräume der Krebsnester eindringen.
Man muß daran denken, daß es bei diesem Neuauftreten von Leukozyten zu einer
Aktivierung des autolytischen Fermentes kommt, eine Annahme, die sich durch
Untersuchungen bei direkter Bestrahlung in vitro bereits als wahrscheinlich er¬
weisen ließ.
Aus alledem folgt, daß besonders günstige Verhältnisse für die Bestrahlung
beim Uteruskarzinom gegenüber den anderen Krebsformen nicht vorliegen.
Die dritte Erklärungsmöglichkeit für die Erfolge der Gynäkologen liegt auf
rein technischem Gebiete. Bedienten sie sich einer besonderen Technik, die anderen
Therapeuten nicht zugänglich ist? Das ist nicht der Fall. Auswahl der Filter,
Abblendung der sekundäre^ Strahlen, Anwendung ausschließlich ultra-penetrierender
Strahlung, Applikationsdauer, alles das ist längst therapeutisches Allgemeingut
geworden. Es bleibt also das nur im Einzelfalle zur Verwendung kommende
Quantum strahlenden Materials. Die ersten Berichte über Krebsheilung durch
Radium seitens Wickham und Degrais bezogen sich auf die Ausrottung von
Kankroiden mittels relativ kleiner Mengen strahlender Substanz. Es ist richtig,
daß der oberflächliche Hautkrebs durch Bestrahlung mit 10—20 mg Radiumsalz
günstig beeinflußt, ja zum Schwinden gebracht werden kann. Nicht so der Krebs
der inneren Organe. Ich habe bereits im Jahre 1913 die Ansicht vertreten: Der
Krebs der inneren Organe ist nur durch große Dosen zu beeinflussen (über den
gegenwärtigen Stand der Radiumtherapie bösartiger Geschwülste, D.,m. W. 1913,
Nr. 47). Dieser Standpunkt wurde seinerzeit von verschiedener, z. T. autorita¬
tiver Seite energisch angegriffen. Der Grund dazu ist gewiß nicht in der Tat¬
sache zu suchen, daß nur den wenigsten Therapeuten größere Mengen Radium
zur Verfügung standen. Man fürchtete sich vielmehr, an der Hand unklarer Vor¬
stellungen vor der deletären Wirkung größerer Quanten. Man hatte eine Anzahl
schwerster Verbrennungen gesehen, Perforationen von Blase, Speiseröhre usw.
Man wußte, daß das Radium keine selektive Wirkung auf die Krebszellen ausübte
und dachte an das Schicksal des von den Strahlen durchsetzten gesunden Ge¬
webes, in dem ebenso wie in dem Tumor selbst Sekundärstrahlen entstehen, durch
die Destruktionsprozesse verursacht werden können.
Auch der „Radiumrausch“ mit seinen .Begleiterscheinungen wie Schüttelfrost,
Fieber, Pulsbeschleunigungen, Übelkeit, Schlaflosigkeit, war ein abschreckendes
Moment. Alle diese Einwände darf man getrost als hinfällig bezeichnen. Der
„Radiumrausch“ ist eine Intoxikation und stets von kurzer Dauer. Verbrennungen
tiefer Krebsschichten haben wir an der Hand der vervollkommneten Technik zu
vermeiden gelernt. Meines Erachtens ist die Gefahr bei der Anwendung kleinerer
\
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Zur Radiumbehandlung des Krebses, insbesondere des Rektumkarzinoms.
253
Dosen eine viel größere. Sie bewirkt vielmehr eine Wachstumsanregung der
Tumorzellen und eine rapide Metastasenbildung.
Daß bei der perkutanen Anwendung eine Hautverbrennung nicht immer ver¬
mieden kann, liegt auf der Hand. Wir haben wiederholt die Erfahrung gemacht,
daß die Haut einzelner Menschen ganz verschieden reagiert. Ein gut filtriertes
Radiumpräparat kann bei dem einen ohne jede Reaktion 12 Stunden liegen,
während bei dem anderen schon nach kurzer Anwendung unter sonst gleichen
Bedingungen Erytheme, ja selbst geschwürige Prozesse auftreten. Man muß sich
nur darüber im klaren sein, daß bei der Möglichkeit, einen Tumor durch inten¬
sive Bestrahlung rasch zu zerstören, eine oberflächliche Verbrennung in Kauf ge¬
nommen werden kann. Zudem sind die Radiumverbrennungen der Haut wesent¬
lich gutartigerer Natur als die Röntgenulzera. Sie gehen nie in die Tiefe, heilen
häufig bald ab und können bei verzögertem Heilungsprozeß durch Transplantation
geschlossen werden..
Verbrennung tiefer Gewebe muß in jedem Falle vermieden werden. Dies
gelingt: 1. Durch die Auswahl der Filter. — Immer noch sind vielfach Bleifilter in
Gebrauch. Um nur ultra-penetrierende Strahlung wirken zu lassen, sind Bleimäntel
in einer Dicke von 3—4 mm erforderlich. Abgesehen davon, daß dabei die In¬
tensität der erwünschten Gammastrahlung unnötig geschwächt wird, verhält sich
gerade das Blei, bezüglich des Auftretens der ätzend wirkenden Sekundärstrahlen
möglichst ungünstig. Ich habe gemeinsam mit Herschfinkel das Auftreten von
Sekundärstrahlen in den verschiedenen Medien untersucht (vgl. Archiv für Strahlen¬
therapie 1914) und fand neben den edlen Schwermetallen, wie Gold und Platin,
das Optimum bei Metallegierungen wie Neusilber und Messing.
2. Das Wesentliche für die möglichst ungefährliche Anwendung größerer
Mengen liegt aber in folgendem: Es ist nicht nötig, bei einem Fall ständig mit
dem gleichen Quantum zu arbeiten. Zur Erklärung mag ein Beispiel aus der
Chemie dienen: Es gelingt, durch die Emanation von 100 mg Radiumbromid
Ammoniak in Stickstoff und Wasserstoff zu zerlegen. Der Zersetzungsprozeß kann
durch immer geringere Mengen Emanation in Gang gehalten und beendet werden,
Mengen, die bei anfänglicher Anwendung absolut wirkungslos gewesen wären.
Auf Grund dieser chemischen Erfahrung bin ich zur fraktionierten Anwendung
der Radiumdosen gekommen.
Die erste Bestrahlung geschieht mit möglichst großen Mengen bei guter
Filtrierung. Bei jeder folgenden Bestrahlung ist das Quantum der Strahlensubstanz
herabzusetzen. Man wird einwenden, daß bei dem abgestuften Verfahren die
entfernt liegenden Geschwulstzellen umfangreicher Tumoren nicht mehr von den
Strahlen getroffen werden können. Das ist aber auch unnötig, ja selbst bei An¬
wendung größerer Mengen häufig unmöglich. Es kommt nur darauf an, zunächst
einen möglichst intensiven Anreiz zur Bildung von Bindegewebe zu geben. Die
nach und nach in die Tiefe reichende Wucherung des Bindegewebes wird durch
die Bestrahlung von der Peripherie aus fortwährend neu angeregt, und zwar ab¬
gestuft von Quanten, die ursprünglich nur eine oberflächliche Nekrotisierung des
Geschwulstgewebes verursacht hätten. Das Schicksal des Kranken beruht auf der
Größe der anfänglichen Strahlenmenge. Nur die Therapeuten dürfen zuerst der
reinen Bestrahlungsbehandlung noch operabler Tumoren das Wort reden, die
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
254
E. Schlesinger
mit möglichst großen Mengen strahlender Energie arbeiten könnten. Daß dieser
Gedanke zuerst von der Krönigschen Klinik in die Tat umgesetzt wurde, darf
nicht vergessen werden.
Daß das Rektumkarzinom hinsichtlich seines Sitzes dem Uteruskrebs an die
Seite gestellt werden kann, ist schon oben gesagt worden. — Häufig begegnen
wir in der Literatur der Angabe, die Bestrahlungsbehandlung des Mastdarmkrebses
sei wenig aussichtsvoll. Für diese Mißerfolge dürfen füglich allein die zu kleinen
Anfangsdosierungen verantwortlich gemacht werden. Wer nicht in der Lage ist,
mindestens 200 mg im Einzelfalle in Anwendung zu bringen, der behandle keine
Tumoren innerer Organe. Jch filtriere diese Menge mit 0,8 mm Gold und umgebe
den Goldfilter zur Abblendung der Sekundärstrahlen mit einer ZeHuloidkapsel, an
deren einem Ende ein längerer Seidenfäden befestigt ist. Die Einführung hat bei
allen höher sitzenden Rektumkarzinomen stets unter Kontrolle des Rektoskops zu
geschehen. Die einzelne Bestrahlung braucht die Dauer von 12 Stunden nicht zu
überschreiten. Sie geschieht am schonendsten für den Patienten vom Abend bis
zum Morgen.
Eine besondere Erwähnung verlangen die nach der Behandlung stets auf¬
tretenden Tenesmen. Die Krampfzustände können recht unangenehm werden. Ein
halbstündlich auftretender Stuhldrang mit Entleerung kleiner Mengen gelblicher
Flüssigkeit gehört nicht zu den Seltenheiten. Zu vermeiden sind die Tenesmen
nicht. Man muß sich vergegenwärtigen, daß das ziemlich umfangreiche Radium¬
paket, das stundenlang im Darm verharren muß, schon als Fremdkörper einen
dauernden Reiz ausübt. Aber auch die gesunde Mastdarmschleimhaut verhält sich
nicht indifferent gegen die auf sie fallenden Strahlen. Man erblickt sie im Rektoskop
stets im Zustande der Entzündung Medikamente sind zur Bekämpfung der Tenesmen
von nur geringem Werte. Belladonna versagt gänzlich. Am besten bewährt haben
sich hier Wasserspülungen mit Adrenalin (1 cbcm auf 1 Liter Wasser). Fast immer
wird man auch zu Morphium in Gestalt von Suppositorien greifen müssen.
Sollen wir aber wegen dieser unangenehmen Nebenerscheinung auf die ganze
Radiumtherapie des Mastdarmkrebses verzichten? Die anfänglichen und oft dauernden
Beschwerden eines am Mastdarmkrebs Operierten sind nicht geringer. Nie wird
sonst an eine energisch wirkende Behandlungsweise die Forderung der absoluten
Schmerz- und Beschwerdelosigkeit gestellt.
Ist man in der Lage, ein Rektumkarzinom durch Bestrahlung vollständig zum
Schwinden zu bringen, so stoße man sich nicht an dem Auftreten von Tenesmen.
Daß die Möglichkeit einer primären klinischen Heilung durch Radium gegeben
ist, mögen die folgenden Krankengescliichten erläutern:
1. 62 jähriger Mann, Blutungen ans dem Darm seit 2 Monaten. Im Bektoskop
fand sich ein zirkuläres blutendes Karzinom, 7 cm oberhalb des Schließmuskels. Von der
Operation mußte wegen schweren Diabetes Abstand genommen werden. Behandlung
fünfmal je 12 Stunden in achttägigen Pausen mit zunächst 200 mg heruntergehend auf
50 mg in 1 mm Platin. Nach 6 Wochen Schwinden der Geschwulst. Patient seit fünf
Jahren rezidivfrei.
2. 58 jähriger Mann, tiefsitzendes Bektum-Karzinom, das fest mit der Blase ver¬
kittet ist. Bestrahlung in gleicher Weise wie oben. Verschwinden des Tumors nach
sechswöchiger Behandlungsdauer. Der Patient erlag seitdem einer interkurrenten Lungen¬
entzündung.
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Zur Radiumbehandlung des Krebses, insbesondere des Rektumkarzinoms.
255
3. 64j&liriger Mann, seit l l / 2 Jahren Blntnngen ans dem Darm nnd ständige Te-
nesmen. Wurde bereits' vorher mit Radium (Quantum unbekannt) ohne Ergebnis be¬
handelt. Der Tumor saß ca. 11 cm oberhalb des Schließmuskels und obliterierte fast
völlig das Lumen des Darmes. Behandlung wie oben. Die wiederholte Rektoskop-Unter-
suchung ergab eine ständig zunehmende Schrumpfung des Geschwulstgewebes. Jetzt ist
an der Stelle des Tumors eine straffe Bindegewebsnarbe sichtbar.
Schwere Verbrennungen oder gar Perforationen habe ich nie erlebt.
Daß ich neben diesen klinisch geheilten Fällen eine Anzahl ungünstiger gesehen
habe, darf nicht verschwiegen werden. Fast in jedem Falle konnte aber eine
wesentliche Verkleinerung der Geschwulst durch die Bestrahlung erzielt werden.
Damit muß man sich zufrieden geben, wenn man sich die vorstehenden Bemerkungen
über die individuelle Reaktion auf die Bestrahlung vergegenwärtigt. Nur eine
kritische Auswahl der Fälle kann den Prozentsatz der Heilungen vergrößern.
Kranke mit Metastasenbildung sind ebensowenig Gegenstand der Strahlentherapie
wie der Operation.
Sind wir nun auf Grund unserer Kenntnisse schon jetzt in der Lage, die
Kardinalfrage zu beantworten: Operation oder Bestrahlung? Noch ist es zu früh,
ein Dogma auszusprechen. Die alteingesessene chirurgische Behandlung hat in
den letzten Jahrzehnten trotz ständiger Vervollkommnung der Technik eine Besserung
ihrer Statistik nicht zu erzielen vermocht. Die Rezidive erfolgen unbeirrt jetzt
wie früher.
Die junge Bestrahlungstherapie ist imstande, ebenso wie der chirurgische
Eingriff primäre Heilung zu erzielen. — Mehr soll hier nicht gesagt werden. Daß
der Gang der Entwicklung unaufhaltsam zugunsten der Bestrahlung vor sich gehen
wird, erscheint mir außer Zweifel.
Digitized by
Go igle
/
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
B. Nervenkrankheiten
VL
Ober Polyneuritis (ambulatoria) mit Diplegiä facialis.
Von
W. Alexander
in Berlin (z. Z. im Felde).
Im Folgenden berichte ich zunächst über einen seltenen Fall, der wegen der
eigenartigen Gruppierung seiner Symptome zu differentialdiagnostischen Erörterungen
Anlaß gibt.
36 jähriger verheirateter Kaufmann, gesunde Kinder, kein Abort, hat weder Lues
noch andere Erkrankung gehabt, trinkt nicht, raucht mäßig, hat keine Abkühlung oder
Infektion erlitten und mit Giften nichts zu tun. Erkrankt an typischem linksseitigem
Lumbago, Schwitzbäder auf Rat des Hausarztes beseitigen die Beschwerden in wenigen
Tagen. Nach zwei weiteren Tagen linksseitige Facialislähmung, wieder ohne Er¬
kältungsanlaß, bei gesundem Ohr, ohne jede Allgemeinerscheinung wie Fieber,
Magen-Darmstörung oder dergleichen. Nach weiteren drei Tagen erhebe ich folgenden
Befund:
Mittelkräftiger Mann in genügendem Ernährungstustand. Kein Fieber, keine Drüsen¬
anschwellungen, Organe o. B., Urin frei. L. VII. in allen Ästen gelähmt, r. VII. in
allen Ästen paretisch. Gaumensegel und Zunge o. B. Supraorbitalreflex 1. —, r.+
Geschmack total aufgehoben, was dem Kranken schon spontan aufgefallen war. Speichel¬
sekretion <C, Schweißsekretion = normal. Hirnnerven sonst intakt, kein Nystagmus. Ohr¬
befund und Gehör o. B. Kraft der Extremitäten normal. Bauchreflexe fehlen voll¬
kommen. Cremasterreflexe = +. Patellarreflexe = +• Achillesreflexe = — (im
Knieen mit Jendrassik-Spur + ?). Keine spontanen Schmerzen und Parästhesien,
keine Druckempfindlichkeit der Nervenstämme, keine Muskelatrophie, keine
Ödeme. Sensibilität für alle Qualitäten*) auch nicht andeutungsweise gestört.
Keine Gelenksinnstörung an den Zehen, keine Ataxie und Hypotonie.
Die Parese der r. VII. vervollständigt sich in wenig Tagen zur Paralyse.
Elektrisch: 1. starke, r. schwächere quantitative Herabsetzung der faradischen Erregbar¬
keit. Bauch- und Extremitätenmuskeln elektrisch intakt.
Diagnose: Polyneuri tis. Bett. Schwitzen. «
Die r. VTI.-Lähmung begann schon in der nächsten Woche zurückzugehen, die
linksseitige etwas später. Achillesreflexe jetzt mit iendrassik schwach aber deutlich +.
Neue Erscheinungen traten nicht auf.
Als ich den Kranken gelegentlich eines Heimatsurlaubs nach 6 Monaten wiedersah,
Das Vibrationsgeluhl wurde nicht untersucht.
Digitized by
Gck igle
Original frcnr
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Über Polyneuritis (ambulatoria) mit Diplegia facialis.
257
war die doppelseitige VH.-Lähmung geheilt. Links bestand eine Andeutung von
Kontraktur (Lidspalte Spur enger) und von Mitbewegungen beim Sprechen und Essen,
kein fibrilläres Zittern. Elektrisch normal. Geschmack wieder vorhanden. Bauch-
reflexe = +. Achillesreflexe: r.+, 1. + <. Snpraorbitalreflex r. -f-, 1. —.
Der Fall bietet in mehrfacher Hinsicht besonderes Interesse. Ist schon die
Diplegia facialis bei gesunden Ohren an sich ein sehr seltener Befund, so
wird sie durch die Coincidenz mit fehlenden Bauch- und Achillesreflexen ohne
jedes andere Symptom um so beachtenswerter. Differentialdiagnostisch käme
bei diesem auffallenden Syndrom nur die Poliomyelitis acuta adultorum in
Betracht. Zwar könnten die Erscheinungen auf der Höhe des Krankheitsbildes
einen Augenblick an diese, beim Erwachsenen gegenüber der Polyneuritis außer¬
ordentlich seltene Erkrankung mit ungewöhnlicher Gruppierung der Symptome
denken lassen: Entstehung und Verlauf sprechen aber in allen Punkten dagegen.
Das Fehlen der Allgemeinerscheinungen, wie Fieber, Schweiße usw., aller meningealen
Reizerscheinungen wäre ebenso ungewöhnlich wie das schubweise Auftreten und
die geringe Verbreitung der Lähmung, die gerade beim Erwachsenen im Anfang
ausgedehnte Territorien zu befallen pflegt. Der restlose Rückgang aller Lähmungs¬
erscheinungen und die Wiederkehr der Reflexe ist bei der Poliomyelitis des
Erwachsenen fast noch seltener als im Kindesalter, bei der Polyneuritis das
Gewöhnliche. Bei der Poliomyelitis pflegen die Reflexe zu fehlen, wenn der Erfolgs¬
muskel gelähmt, atrophisch und elektrisch entartet ist. Ob Fehlen von Reflexen
bei Poliomyelitis in irgendeinem Stadium bei funktionell ganz intakten Muskeln
vorkommt, erscheint mir zweifelhaft.
Was das Hauptsymptom unseres Falles, die Diplegia facialis betrifft, so
wird die alte Regel, daß die Beteiligung von Hirnnerven mehr für Polyneuritis
spricht, auch durch die neuere Erfahrung nicht erschüttert, daß bei der Poliomyelitis,
wenigstens des Kindes, gerade der Facialis nicht ganz selten befallen wird.
Ed. Müller (1) fand bei 165 Fällen den Facialis 21 mal beteiligt, meist waren
dann außerdem andere bulbäre und spinale Symptome vorhanden. Cassel (2) konnte
eine Anzahl isolierter VH.-Lähmungen bei Kindern aus hier nicht zu erörternden
Gründen als poliomyelitisch bedingt erweisen; auch konnten schon beim Affen
durch Überimpfung von menschlichen Poliomyelitismaterial isolierte VH.-Lähmungen
erzeugt werden. Endlich habe ich (3) selbst einen Fall bekanntgegeben, bei dem
eine Diplegia facialis die einzige Manifestation der Poliomyelitis eines 9jährigen
Knaben war. Auch Oppenheim (4) erwähnt solche Fälle isolierter ein- und doppel¬
seitiger Facialislähmung; gewöhnlich sind aber andere Himnerven mitbetroffen.
Im ganzen sind derartige Fälle jedenfalls selten, während Facialislähmung bei
der Polyneuritis verschiedenster Ätiologie nicht gerade ungewöhnlich ist.
Cassirer (5) bemerkt mit Recht, daß man sie meist erst auf der Höhe des
Krankheitsbildes findet und zwar in Fällen, die auch der übrigen Entwicklung
nach zu den schweren zu rechnen sind. Sie könne allerdings auch das erste
Symptom der Krankheit sein.
Auch aus der bei Remak(6) reichlich zitierten Literatur geht hervor, daß
meist ausgedehnte Extremitätenlähmungen, Schluck-, Zwerchfell- und Bauchmuskel¬
lähmungen gleichzeitig vorhanden waren. Bei der L an dry sehen Paralyse wurde
doppelseitige VH.-Lähmung mehrfach beschrieben.
Zeitachr. f. phyaik. a. diät. Therapie Bd. XXII. Heft 8/0. 17
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
258
W. Alexander
In der Ätiologie scheinen infektiöse Ursachen (Influenza usw.) zu über-
wiegen; Eichhorst (7) sah doppelseitige VII.-Lähmung im Gefolge einer primären
infektiösen Polyneuritis. Es muß aber auffallen, daß VII.-Lähmungen bei der
Polyneuritis nach Sepsis, Parotitis, Erysipel, Scharlach, Uasern, Keuch¬
husten, Pneumonie, Gelenkrheumatismus, Meningitis, Chorea, Variola,
Tuberkulose, und bei der senilen Polyneuritis nicht beschrieben zu sein scheinen.
Einmal beobachtete Mancini(8) Diplegia facialis bei typhöser*) Polyneuritis,
Maingauld (9) einmal nach Diphtherie. Auch 0ppenheim(4) erwähnt die Diphtherie
unter den Ursachen der Facialislähmung, sie scheint aber hier außerordentlich selten
vorzukommen. Nach Malaria, Lepra, Beriberi und bei der puerperalen und
Graviditäts-Polyneuritis wurde VII.-Lähmung in einzelnen Fällen beobachtet.
Oppenheim (4) berichtet über Diplegia facialis bei Kopftetanus. Ferner sah sie
HoUti(lO) nach Influenza bei einem Syphilitiker. Nach Benario(ll) ist die VII.-Läh¬
mung im Frühstadium der Lues selten. „Die Herxheimersche Beaktion im Facialis
beweist aber, daß schon kurz nach der Infektion auch der Facialis isoliert von Spiro¬
chäten befallen sein kann“. — Steinert (12) erwähnt die Beteiligung des Facialis bei'
der syphilitischen Polyneuritis nicht. — A. Strümpell (13) sah nach Fliegen¬
stich multiple Neuritis mit Ataxie der Beine und Diplegia facialis, dabei starke
Schmerzen in Schläfen und Ohren. —
Bei der Polyneuritis auf toxischer Basis ist die VII.-Lähmung noch seltener.
Auch bei der schwersten Form der alkoholischen P. scheint sie äußerst selten aufzu¬
treten. Oppenheim (4) sah hierbei mehrfach Diplegia facialis, auch W. Jakoby (14)
beschrieb unter 4 Fällen von'doppelseitiger VII.-Lähmung einen auf alkoholischer Basis.
— Die Nervenentzündung bei Diabetes beteiligte einige Male den Facialis, ebenso die
nach CO-Vergiftung und nach Wutschutzimpfung; bei letzterer sahen Darksche-
witsch (15) und Dünger (16) außer anderen Symptomen doppelseitige VII.-Lähmung,
Sterling (17) sogar das ausschließliche Befallensein beider Faciales. — K. Groß (18)
beschreibt einen Fall von myelogener Leukämie, bei dem außer anderen ausgedehnten
Lähmungen auch doppelseitige VII.-Lähmung bestand. Auch Hellgardt (19) sah
Diplegia facialis bei Leukämie. — Die seltenen bei Bleivergiftung beschriebenen
Fälle von VII.-Lähmung waren durch zerebrale Herde bedingt. Bei Gicht, Karzinom,
Kupfer-, Silber-, Arsenik-, Phosphor-, Hg-, Schwefelkohlenstoff, Nitro¬
benzol-Vergiftung sind neuritische VII.-Lähmungen nicht beschrieben worden. Nach
Nahrungsmittelvergiftung (Fisch, Hummer, Wurst, Schweinefleich usw.) wurde sie
mehrfach beobachtet. (P. Erben (20), L. Strauß (21) u. a.) Bei der „rheumatischen“
P. [von Noorden und Falta(22), Schulhof (23)], überwiegen die sensiblen Symptome
so sehr die motorischen, daß Falta und Freund (24) derartige Fälle als „Polyneuralgie“
bezeichnen; Facialislähmungen kamen hier nicht vor.. — Preti (25) will sie nach
exzesiver lokaler Hitzeanwendung beobachtet haben. Bei dem Fall von Diplegia
facialis, den Nikitin (26) beschreibt, wirkte Erkältung auslösend bei einem drei
Monate vorher luetisch Infizierten, der, bisher unbehandelt, jetzt durch spezifische Be¬
handlung geheilt wurde. — Endlich wäre noch die traumatische Entstehung ein- und
doppelseitiger VII.-Lähmungen zu erwähnen. —
Das Zusammenwirken mehrerer ätiologischer Momente spielt gerade bei der
Polyneuritis eine besondere Rolle. Ein schönes Beispiel dafür ist ein Fall von
Aguglia (27), bei dem ein Mann, der an chronischer Malaria und chronischen Alkoho-
liBmus litt, einige Monate nach luetischer Infektion eine schwere allgemeine Polyneuritis
mit Diplegia facialis bekam, die auf Hg + Jod heilte.
Alles in allem spricht eine Lähmung des Facialis also eher für Poly¬
neuritis als für Poliomyelitis, um so mehr, wenn sie, wie in unserem Falle, rest¬
los ausheilt. Dazu kommt, daß hier anderweitige Lähmungen vollkommen fehlten;
*) Nach G. Sterz (Typhus und Nervensystem. Beihefte zur Monatsschr. f. Psych. und
Neurol. Heft 1, 1917) ist der Facialis gegen die posttyphöse Neuritis fast immun.
Digitized by
Gcu igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Über Polyneuritis (ambulatoria) mit Diplegia facialis.
259
eine isolierte Vn.-Lähmung auf poliomyelitischer Basis, wie wir sie oben als beim
Kinde gelegentlich vorkommend beschrieben, ist aber bei der gewöhnlich besonders aus¬
gebreiteten poliomyelitischen Lähmung des Erwachsenen noch nicht beobachtet werden.
Was das Fehlen der Bauchreflexe in unserem Fall anbetrifft, so sind
dafür frühere oder zufällig gleichzeitig bestehende chronische Erkrankungen des
Bückenmarks, besonders die multiple Sklerose nicht verantwortlich zu machen,
weil einmal alle anderen Erscheinungen einer solchen (auch anamnestisch) fehlen,
besonders aber, weil diese Reflexe wiedergekommen sind. Hiermit ist auch dem
Einwand begegnet, daß vielleicht einer der seltenen Fälle Vorgelegen hat, wo die
Bauchreflexe beim gesunden jugendlichen 1 Mann fehlen können*). Auch
alle anderen Erkrankungen, bei denen die Bauchreflexe vorübergehend schwinden
können, wie Typhus, .entzündliche Bauchaffektionen [Sicard (30), Rolleston (31),
Müller und Seidelmann (29)], Neplirolithiasis (?) usw. kommen nicht in Frage.
Es bleibt also wieder zu entscheiden zwischen Polyneuritis und Poliomyelitis.
Wie schon angedeutet, geht bei der Poliomyelitis die Veränderung der Reflexe ge¬
wöhnlich mit dem Grade der Lähmung, der Atrophie und der elektrischen Ver¬
änderung parallel. Ein vollkommenes Fehlen der Reflexe bei motorisch und elek¬
trisch intaktem Muksel dürfte in keinem Stadium Vorkommen. Anders bei der Poly¬
neuritis. Hier begegnet man allen möglichst Kombinationen: Entartungsreaktion
in gut funktionierenden Muskeln, wie es bei Bleilähmung mehrfach beobachtet und
von Remak(32) und Bernhardt (33) bei schwerer generalisierter Polyneuritis sogar
für beide Faciales beschrieben wurde; verhältnismäßig geringe Erregbarkeitsherab¬
setzung in schwer gelähmten Muskeln; Fehlen von Reflexen bei erhaltener Motilität,
Sensibilität und Erregbarkeit, wie in unserem Fall. Nonne (34) beschrieb 1889 fünf
anatomisch untersuchte Fälle von Polyneuritis, wo Fehlen der Patellarreflexe
das einzige Symptom war; keine Lähmung, Atrophie, Druckschmerzhaftigkeit,
elektrisch nur mäßige quantitative Herabsetzung. Daß Sehnenreflexe bei der Poly¬
neuritis erlöschen, ist alltäglich. Auch das Erlöschen von Hautreflexen, speziell der
Bauchreflexe, ist nicht ganz ungewöhnlich, wenn auch erheblich seltener. Bei der
Polyneuritis alcoholica sind sie oft herabgesetzt oder erloschen [Oppenheim (4),
Sauer (35)], auch bei der infektiösen Polyneuritis wurde derartiges beobachtet,
allerdings fast stets gleichzeitig mit Lähmung der betreffenden Muskeln, Ea R
und Sensibilitätsstörungen. Solche Fälle beschreibt Oppenheim (36) im Anschluß
an Typhus, Malaria, Gicht und Diabetes (je einen Fall) und bei Polyneuritis aus
unbekannter Ursache; er zitiert Fälle von Taylor und von Gull mit denselben
Symptomen nach Herpes zoster im Abdominalgebiet, von Schöpplenberg und
von Kahler bei syphilitischer Wurzelneuritis; und fügt hinzu: „Es ist zu ver¬
muten, daß auch die anderen Erzeuger der Neuritis und Polyneuritis gelegentlich eine
sich in diesem Gebiet lokalisierende Nervenentzündung hervorrufen können.“
Immerhin scheint das Fehlen der Bauchreflexe auf polyneuritischer Grundlage
ohne Lähmung und elektrische Veränderung der Bauchmuskeln recht selten zu
*) Anmerkung: Als Kuriosum sei erwähnt, daß der Hausarzt des Kranken zufällig zu
diesen gehört, wie Oppenheim in jahrelanger Beobachtung festgestellt hat. — Müller |28)
und Seidelmann (29) fanden die Bauchreflexe unter 1000 Soldaten nur einmal fehlend, unter
2000 Weibern nur selten fehlend und dann bei älteren Individuen mit schlaffen Bauchdecken.
Durch die eingehenden Untersuchungen Söderberghs scheint das gelegentliche Fehlen von
Bauchreflexen bei Gesunden entgflltig sichergestellt. (Neur. Centralbl. 1918. Nr. 7.)
17*
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
260
W. Alexander
sein. Es handelte sich also um eine Neuritis der unteren Dorsalnerven, die
auf der Höhe der Erkrankung ohne Schmerzen vorliegt, ebenso wie die Neuritis
der Beinnerven, die zum Fehlen der Patellar- und Achillesreflexe führte,
zu keiner Zeit Schmerzen oder auch nur Parästhesien machte. Allerdings
hatte der Kranke wenige Tage vor dem Einsetzen der VIL-Lähmung eine links¬
seitige Lumbago, die nunmehr als das neuralgische Stadium der Neuritis wenig¬
stens eines der betroffenen Dorsalnerven aufzufassen ist. Die Geringfügigkeit der
Schmerzen und ihr Beschränktbleiben auf ein so kleines Nervengebiet wäre bei
Poliomyelitis eine ganz ungewöhnliche Erscheinung. — Zwar ist das völlige oder,
wie hier, fast völlige Fehlen von Schmerzen und Sensibilitätsstörungen auch bei
der Polyneuritis, wenigstens bei den infektiösen Formen, äußerst selten, was auch
Bing (37) hervorhebt; aber es ist gelegentlich von Remak (6) bei Landryscher
Paralyse, von Rosenheim (38) bei tuberkulöser Polyneuritis, ferner von Eisenlohr
(39), Roth (40), Dejörine (41) beobachtet und auch von Eichhorst (7) und
von Oppenheim (4) einwandfrei festgestellt wurden. Es wäre auch nicht einzu¬
sehen, warum das Fehlen von Schmerzen und Gefühlsstörungen, wie es zum
Beispiel bei der Bleineuritis die Regel bildet und auch bei der diphtheritischen
Polyneuritis beobachtet wird, nicht gelegentlich auch bei anderen Formen Vorkommen
sollte*). Kommt es hier sogar bei Fällen mit degenerativer Lähmung zur Beob¬
achtung, so ist es für unseren Fall um so weniger verwunderlich, als dieser in
allen seinen Symptomen rudimentär blieb. Wenn also auch das Fehlen von
Schmerzen und Sensibilitätsstörungen nicht gegen Polyneuritis ausschlaggebend
sein kann, so dürfte nach allem an dieser Diagnose nicht zu zweifeln sein, als
deren wichtigste Stütze nochmals die restlose Ausheilung hervorgehoben sei. Wie
es rein sensible Polyneuritiden gibt (es sei nur an die Neuritis multiplex
cutanea Schlesingers (42) erinnert), und rein motorische, so liegt hier ein
Fall von Polyneuritis vor, der weder sensible noch (an den Extremitäten)
motorische Ausfallserscheinungen aufweist, sondern lediglich solche der
Reflexe**).
Da die Polyneuritis mit Ausnahme der Gesichtslähmung dem Patienten als
Krankheit gar nicht zum Bewußtsein kam, er von einer Allgemeinerkran¬
kung seines Körpers keine Ahnung hatte, ist dieser Fall zugleich ein gutes
Beispiel für eine ganze Kategorie im Felde nicht seltener Fälle, bei
denen gelegentlich einer ärztlichen Untersuchung aus anderen Gründen gewisser-
massen zufällig als einziges Symptom Reflexverlust festgestellt wird. Beim Fehlen
von Schmerzen und Lähmungen haben diese Kranken ihre Polyneuritis un¬
bemerkt durchgemacht. Eine Polyneuritis mit derartigem Verlauf habe ich
als „Polyneuritis ambulatoria“ bezeichnet und an anderer Stelle (43) aus¬
führlicher geschildert.
*) Weil bestimmte ätiologische Momente besonders zu Schmerzen zu disponieren scheinen,
glaubt Remak, daß diese nicht so sehr von der Intensität des neuritischen Prozesses als
vielleicht von der Qualität des im Blute kreisenden ToxinB abhängig sind.
**) Oppenheim hat Fehlen des Achillesreflexes als einziges Symptom einer Nervenaffektion
beobachtet und auf Neuritis bezogen. (Lehrbuch, 6. Aufl., S. 606.) — Auch ich sehe nach Aus¬
heilung einer Neuritis ischiadica häufig nach vielen Jahren als einziges Restsymptom Ar$flexie
der Achillessehne. Nonne(34) erwähnt dasselbe fttr den Patellareflex bei Neuritis des Cruralis.
■v
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Über Polyneuritis (ambulatoria) mit Diplegia facialis.
261
Literatur.
1. Ed. Müller. Die bulbäre Form der epidemischen Kinderlähmung. Verhandl. der
5. Jahresvers. der Ges. deutscher Nervenärzte 1912. S. 193. — 2. Cassel. Beitrag zur Heine-
Medinschen Krankheit (Poliomyelitis und Polioencephalitis acuta epidemica). D. m. W. 1913.
Nr. 51. — 3. W. Alexander. Bulbäre Poliomyelitis. Verhdlg. der Hufelandschen Ges. 1912.
S. 16. — 4. Oppenheim. Lehrbuch der Nervenkrankheiten. 6. Aufl. 1917. S. Karger. —
5. R. Cassirer. Neuritis und Polyneuritis. Die deutsch. Klin. am Eingang des XX. Jahrh.
1906. Urban & Schwarzenberg. — 6. E. Remak. Neuritis und Polyneuritis. Im Nothnagel
Bd. XI., 3. 1900. — 7. H. Eichhorst Handbuch der spez. Pathol. und Ther. innerer Krank¬
heiten. 6. Aufl. — 8. Mancini. W. m. W. 1910. Nr. 18. — 9. Maingauld zit. nach Eich¬
horst — 10. Holsti. Ett fall af dubbelsidig peripher facialispares vid secundär syfilis. Refer.
N. C. 1908. S. 684. — 11. Benario. Über Neurorezidive nach Salvarsan- und Quecksilber¬
vergiftung. 1911. München. Lehmann. —' 12. H. Steinert. Über Polyneuritis syphilitica.
M. m. W. 1909. Nr. 38 bis 39. — 13. A. Strümpell. Multiple Neuritis mit doppelseitiger
VII.-Lähmung und Ataxie der unteren Extremitäten. N. C. 1889. Nr. 21. — 14. W. Jacoby.
Peripheral facial diplegia and palatal involvemont. Journal of Nerv, and Ment Dis. 1907
März. —15. Darkschewitsch zit nach Remak. —16. Dünger. Zur Kenntnis der Polyneuritis
M. m. W. 1912. Nr. 4. — 17. W. Sterling. Über die akuten paralytischen Syndrome nach Wut-
Schutzimpfungen. Ztschr. f. d. ges. Neur. u. £sych. Bd. 17. S. 160. — 18. K. Groß. N. C.
1911. Nr. 6. — 19. Hellgardt. Diplegia facialis bei Leukäme. Inaugur.-Dissert Königsberg
1917. — 20. F. Erben. Facialislähmung bei Nahrungsmittelvergiftung. M. m. W. 1910. Nr. 50. —
21. L. Strauß. Ein eigenartiger Fall von Fischvergiftung. M. m. W. 1910. Nr. 48. — 22. v. Noorden
und Falta. Klinische Beobachtungen über physiologische und therapeut. Wirkung großer Dosen
von Radiumemanation. Med. Klin. 1911. Nr. 38. — 23. W. Schulhof. Zur Frage der rheuma¬
tischen Polyneuritis. Med. Klin. 1913. Nr. 24. — 24. W. Falta und E. Freund. Über die
Behandlung innerer Krankheiten mit Radiumemanation. M. m. W. 1912. Nr. 14. — 25. Preti.
Rif. med. 1914. Nr. 4, zit. nach Schulhof. — 26. Nikitin. Diplegia facialis. (Polnisch.) Ref.
N. C. 1909. S. 926. — 27. Aguglia. Polineurite in soggetto sifilitico alcoolista interessante
i quattro arti ed il VH. bilateralmente. Riv. di Neuropatol., Psich. ed Elettroter. 1911. Fase. 11. —
28. E. Müller. Über einige weniger bekannte Verlaufsformen der multiplen Sklerose. N. C. 1905.
Nr. 13. — 29. Müller und W. Seidelmann. Zur Physiologie und Pathologie der Bauchdecken¬
reflexe. M. m. W. 1905. Nr. 28. — 30. Sicard. Le röflexe cutanö abdominal au cours de la
ftevre typhoide et de l’appendicite chez l’enfant. Presse m6d. 1915. Nr. 3. — 31. Rolleston.
The abdominal reflex in enteric fever. Brain 1906. S. 99. — 32. Remak. Ein Fall von gene¬
ralisierter Neuritis mit schweren elektrischen Alterationen auch der niemals gelähmten Nn. faciales.
N. C. 1885. Nr. 14. — .33. Bernhardt. Über einen Fall von multipler Neuritis, ausgezeichnet
durch schwere elektrische Erregbarkeitsveränderungen der nie gelähmt gewesenen Muskeln (auch
der Nn. faciales). Ztschr. f. klin. Med. Bd. XVH. Suppl. 1890. — 34. Nonne. Einige anato¬
mische Befunde bei Mangel des Patellarreflexes. Festschr. z. Eröffn, des neuen allg. Krankenh.
Hamburg-Eppendorf. — 35. H. Sauer. Fehlen der Bauchdeckenreflexe bei chronischen Alkoholis¬
mus. D. Ztschr. f. Nervenhlk. 1913. HeftS.— 36. Oppenheim. Über den abdominalen Symptomen-
komplex bei Erkrankungen des unteren Dorsalmarkes, seiner Wurzeln und Nerven. D. Ztschr.
f. Nervenhlk. Bd. 24. 1903. — 37. R. Bing. Pathogenese, Diagnose und Therapie der Poly¬
neuritis. Beihefte zur Med. Klin. 1911. Heft 6. — 38. Rosenheim zit. nach Remak. —
39. Eisenlohr zit nach Remak. — 40. Roth zit nach Remak. — 41. Däjörine zit nach
Remak. — 42. H. Schlesinger. Über Neuritis multiplex cutanea. N. C. 1911. Nr. 21. —
43. W. Alexander. Polyneuritis ambulatoria. D. m. W. 1918. Nr. 31. *
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
2G2
Kretschmer
VII.
Zwei neurologische Fälle.
Von
Stabsarzt d. R. Dr. Kretschmer,
Chefarzt eines Res.-Feldlazaretts,
Assistent am medizinisch-poliklin. Institut der Universität Berlin.
Unter den Krankheiten, die ich in zjvei Jahren auf der inneren Station des
Ortslazaretts einer Sanitätskompagnie im Osten zn beobachten hatte, überwogen
an Zahl neben Malaria und Ruhr das wolhynische Fieber und die zahlreichen
Fälle von Fieber unklarer Ätiologie, wie sie von Schittenhelm, Ludwig, de
Bo er u. a. beschrieben und z. T. als Sumpffieber, z. T. als atypisches, wol-
hynisches Fieber gedeutet worden sind. Wie die meisten anderen Autoren konnte
ich bei diesen letzteren Erkrankungen außer der Milzschwellung keinen krank¬
haften Befund an den inneren Organen feststellen. Außerdem fehlten Kompli¬
kationen und Nachkrankheiten, wie wir sie sonst bei fast allen Infektionskrank¬
heiten kennen. Nur einmal beobachtete ich im Verlauf eines Falles von wol-
hynischem Fieber eine exsudative Pleuritis und akute Endokarditis, ein Zusammen¬
treffen, das möglicherweise auch ein zufälliges gewesen sein kann.
Dagegen glaube ich, daß bei einem Falle von Fieber der Zusammenhang mit
dem darnach auftretenden apoplektischen Insult nicht von der Hand zu weisen
ist. Ich lasse zunächst die Krankengeschichte folgen:
Obergelreiter Franz E., 22 J. Erblich nicht belastet. Angeblich früher nie
wesentlich krank gewesen. Am 17. 10. plötzlich mit hohem Fieber nnd Kopfschmerzen
erkrankt
Befand: Großer, kräftiger Mann. Gesicht gerötet. Znnge leicht belegt.' Rachen
leicht gerötet. Herz: Grenzen regelrecht, Töne rein, Langen o. B., Baach o. B., Milz
nicht geschwollen. Urin frei von Eiweiß nnd Zucker. Im Blat keine Malariaplasmodien.
In den folgenden Tagen Fieber zwischen 39° nnd 40°, das vom 18.—22. 10.
treppenförmig abftel. Ab nnd zn klagte der Kranke über Schmerzen in den Knien,
keinerlei Schwellung an denselben festzustellen.
Am 23. 10. morgens fiel der Kranke plötzlich beim Waschen nm und war kurze
Zeit bewußtlos. Ich wnrde sofort gemfen nnd stellte eine rechtsseitige Halbseitenlähmung
fest. Das Bewußtsein war inzwischen zurückgekehrt. Pat. gab auf Befragen noch Ant¬
wort. Bei der Krankenvisite eine Stunde später wurde folgender Befand erhoben:
Am Herzen keine Geräusche zu hören. Grenzen regelrecht. Puls 110. Nerven¬
system: Gesichtsmuskulatur r. unten völlig gelähmt, 1. o. B. Arm r. völlig gelähmt,
1. o. B. R. Bein kann auf der Unterlage im Hüft- und Kniegelenk gebeugt, aber
nicht gehoben werden. Bewegungen völlig kraftlos, 1. Bein o. B. Die Zunge wird nicht
herausgestreckt, weicht nach rechts ab. Sprache: es werden nur einzelne lallende Brocken
hervorgestoßen. Sprachverständnis erhalten. Sensibilität wegen der Aphasie nicht zn
Digitizeü by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Zwei neurologische Fälle.
2G3
prüfen. Reflexe: am r. Arm nicht auszulösen, 1. Arm o. B. Patellarreflex r. sehr leb¬
haft, 1. +. Achillessehnenreflex r. gesteigert, 1. +. Kein Babinski. Faßklonus: r. +,
1. ■©.. Cremasterreflex r. 'S-, 1. +. Baachdeckenreflexe r. 'S., 1. +. Papillen bds.
gleich. Aagenbewegangen o. B.
Im weiteren Verlauf besserte sich die Sprache etwas, so daß Pat. ja and nein
sagen konnte. Die Beweglichkeit des Beines kehrte zurück, nar der Faß hing beim
Gehen herab. Die grobe Kraft war im r. Bein sehr herabgesetzt. Der r. Arm blieb
völlig gelähmt. Pkt. wurde zur Weiterbehandlung einem Kriegslazarett überwiesen.
' Es handelt sich also um einen Fall von rechtsseitiger Öalbseitenlähmung mit
motorischer Aphasie, die bei einem jungen, kräftigen Manne nach einer kurzen
fieberhaften Erkrankung auf trat. Das Fieber war eines jener schon erwähnten
unklaren Ursprungs, wie ich sie häufig beobachtete. Das Blut wurde auf Widal
in diesem Falle nicht untersucht. Da die Wassermannsche Reaktion negativ aus¬
fiel, kann man bei einem so jungen Manne eine Atheromatose der Gefäße kaum
annehmen. Außerdem würde dann die Apoplexie wohl sicher schon früher bei
den Anstrengungen des Feldzuges aufgetreten sein und nicht bei einer so ge¬
ringen körperlichen Bewegung, wie sie das Auf stehen und Waschen darstellt,
zumal Pat. sich schon in den Tagen vorher sehr wohlfühlte und keineswegs
durch das kurze Fieber sehr mitgenommen war. Es ist also wohl mit Sicherheit
eine Embolie der * Gehirngefäße anzunehmen, ausgehend von Auflagerungen auf
dem Endokard, die sich während der kurzen Erkrankung gebildet hatten. Aus¬
kultatorisch nachweisbar waren Veränderungen am Endokard während der Beob¬
achtungszeit nicht. Ältere endokarditische Auflagerungen hätten sich wohl sicher
durch Auskultation feststellen lassen imd hätten auch zu Kreislaufstörungen be¬
sonders bei den erhöhten Anforderungen des Feldzuges geführt. Es läge schlie߬
lich noch nahe, einen abortiven Rheumatismus anzunehmen, da der Kranke ein
paarmal über Schmerzen in den Kniegelenken' klagte. Doch waren keine
Schwellungen an denselben nachweisbar, und derartige Schmerzen in den Ge¬
lenken und an den Extremitäten bilden eine häufige subjektive Klage bei allen
diesen fieberhaften Erkrankungen, so daß sicher öfter Endokarditis beobachtet
wäre, wenn diese Erkrankungen auf rheumatischer Grundlage beruhten. Alle
Untersuchungen über ihre Ätiologie sind bisher ohne Resultat verlaufen. Der
vorliegende Fall beweist jedenfalls, daß auch diese unklaren fieberhaften Er¬
krankungen Komplikationen nach sich ziehen können, und daß auch bei ihnen die
gleichen Vorsichtsmaßregeln wie bei anderen Infektionskrankheiten zur Vermeidung
von Komplikationen geboten sind.
Der zweite Fall, den ich mitteilen möchte, war ein Fall von Poliomyelitis
acuta anterior bei einem Soldaten. Die Krankengeschichte war folgende:
Reservist P. M., 28 J. alt. Jannar—Mai 17 im Lazarett wegen Gelenkrheuma¬
tismus und Gelbsucht. Sonst nie wesentlich krank gewesen. Erblich nicht belastet.
Am 24. G. 17 erkrankte er plötzlich mit Kopf- und Brustschmerzen und hohem
Fieber. Konnte am 25. 6. nicht mehr gehen and den rechten Arm, in dem er zackende
Schmerzen verspürte, nicht mehr bewegen. Blieb bis 27. im Revier and wurde dann
dem Ortslazarett überwiesen. Bis znm 28. 6. Fieber zwischen 39° und 40°, dann
lytischer Abfall, seit 1. 7. fieberfrei. Starke Appetitlosigkeit während des Fiebers. In
den ersten Tagen beim Anfsetzen sofort Erbrechen.
Befhnd bei der Aufnahme: Schwerkranker Mann mit fieberhaft gerötetem Gesicht.
Kräftiger Körperbau. Kein Hautausschlag. Herz und Lungen o. B. Leber, Milz nicht
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSfTY OF MICHIGAN
2G4
Kretschmer, Zwei neurologische Fälle.
vergrößert. Puls verlangsamt. Nackensteifigkeit. Keine Lähmungen im Gebiet der
höheren Nerven. Papillen gleich, eng, reagieren träge anf Lichteinfall. R. Arm völlig
gelähmt, nnr Pro- nnd Supination des Unterarms in geringen Grenzen, sowie Beugung
der Finger möglich. L. Arm: geringe Beweglichkeit des Oberarms im Schultergelenk;
Unterarm: Beugung und Streckung nicht, Pro- und Supination in geringem Grade mög¬
lich. Finger können gleichfalls nur gebeugt, nicht gestreckt werden. Beide Beine völlig
gelähmt. TricepBsehnenrefiex bds. nicht auszulösen. Patellarreflex schwach bds. Achilles¬
sehnenreflex bds. 'S.. Kein Babinski. Kernigsches Symptom +. Sensibilität o. B.
Nervenstämme nicht druckempfindlich.
28. 6. Lumbalpunktion: Unter mäßigem Druck ca. 15 ccm klare Flüssigkeit ent¬
leert. (Ergebnis der bakteriolog. Untersuchung: Lumbalpunktal steril.) Kopfschmerzen
nach der Punktion gebessert,
29. 6. Patellarreflex bds. nicht mehr auszulösen. Zustand unverändert.
1. 7. Die Beweglichkeit des 1. Arms ist znrfickgekehrt. Grobe Kraft bei allen
Bewegungen stark herabgesetzt. Rechter Arm im gleichen Umfange wie bei der Auf¬
nahme gelähmt. Beweglichkeit der Beine ebenfalls wieder normal, grobe Kraft stark
herabgesetzt. Patellarreflex bds. schwach. Pupillen eng, reagieren nicht auf Lichteinfall.
Nackenstarre und Kernigsches Symptom verschwunden. Noch geringe Kopfschmerzen.
10. 7. Entlassungsbefund: R. Arm gelähmt wie bei der Aufnahme. L. Arm normal
mit geringer Kraft beweglich, ebenso beide Beine. Patellarreflexe etwas herabgesetzt.
TricepsBehnenreflex r. 'S, 1. schwach. Pupillen etwas weiter als im Anfang, Lichtreaktion
träge. Klagt noch ab und zu über Kopfschmerzen.
Eine weitere Beobachtung war aus äußeren Gründen nicht möglich, und im Inter¬
esse des Kranken nicht wünschenswert. Er wurde in ein Kriegslazarett überführt, um
dort mit Elektrizität usw. weiterbehandelt zu werden.
Der vorliegende Fall bietet Interesse wegen des Lebensalters des Kranken,
da die Poliomyelitis acuta anterior sonst vorzugsweise junge Kinder zu befallen
pflegt. Eine Ansteckungsquelle konnte nicht ermittelt werden. Der Kranke war
seit seiner Entlassung aus dem Lazarett an der Front gewesen, andere Fälle von
Poliomyelitis wurden im Divisionsbereich weder bei Soldaten noch bei Landes¬
einwohnern, mit denen er auch kaum in Berührung gekommen war, beobachtet.
Differentialdiagnostisch kommen andere Krankheiten nicht in Frage, da das Krank¬
heitsbild mit der plötzlichen Erkrankung, dem hohen Fieber und raschen Einsetzen
der Lähmungen ein typisches war. Die Rückbildung der Lähmungen des 1. Arms
und der Beine erfolgte auffallend rasch. Dem gewöhnlichen klinischen Bilde ent¬
sprach nicht die begleitende Leptomeningitis serosa, die sich durch die Nacken¬
steifigkeit, Kernigsches Symptom, Verengerung und träge Reaktion der Pupillen
auf Lichteinfall, sowie die Pulsverlangsamung dokumentierte.
Andere Nervenerkrankungen wurden im Verlaufe der zwei Jahre, abgesehen
von einigen Epileptikern, einem Fall von Dementia paralytica und mehreren Fällen
von Meningitis, nicht beobachtet. Zu den schweren Nervenerkrankungen, wie sie
in den heftigen Kämpfen der Westfront zur Beobachtung kommen, lag an unserer
verhältnismäßig ruhigen Front auch kein Grund vor. Die geringe Zahl von
chronischen Leiden, wie Epilepsie, ist ein Beweis, wie sorgfältig die Ausmusterung
des Mannschaftsersatzes geschieht.
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
K. Kroner, Zur Frage der Kriegsneurosen auf Grund von Beobachtungen an d. Front. 265
VIIL
Zur Frage der Kriegsneurosen auf Grund
von Beobachtungen an der Front.
Von
Dr. Karl Kroner,
Stabsarzt d. B.
Wie fast allen Gebieten der Heilkunde, hat der Krieg auch der Nervenheil¬
kunde eine Fülle von neuen Beobachtungen und Fragestellungen gebracht. Während
aber über die Beurteilung der organischen Schädigungen mit* der Zeit eine Über¬
einstimmung der Ansichten erzielt worden ist, gehen auch heute noch die Auf¬
fassungen von dem Wesen der — um es ganz allgemein auszudrücken — nicht
grob-organisch bedingten Zustände weit auseinander.
Es liegt nicht im Rahmen dieser Arbeit, und es verbietet sich auch aus Platz¬
mangel, auf die fast unübersehbare, die sogenannten „Kriegsneurosen“ betreffende
Literatur 1 ) einzugehen; es sollen hier nur einige bestimmte Punkte besprochen
werden, die noch der Klärung bedürfen.
Schon in den ersten Veröffentlichungen während des Krieges wird darauf
hingewiesen, daß wir bei den Soldaten vielfach die Zustände wiederfinden, die uns
vom Frieden her als sogenannte traumatische Neurosen bekannt sind. Und alsbald
tauchte, wie in der früheren Literatur, der Streit darüber auf, wie weit wir es
hier mit rein seelisch wirkenden Momenten, wie weit mit der Wirkung molekularer
Erschütterungen, wie weit endlich mit eigenartigen, durch Vermittelung der Psyche
zustande gekommenen körperlichen Zuständen, bzw. mit einer Kombination der
beiden letzteren Formen zu tun haben.
Die über die traumatischen und über die sogenannten Kriegsneurosen vor¬
liegenden sehr zahlreichen Arbeiten leiden an dem Übelstande, daß die Beobachtung
der Erkrankten zu spät einsetzt. Naturgemäß wird der Arzt nur zufällig einmal
Augenzeuge eines gewerblichen Unfalls sein, und vollends der Facharzt wird den
bei einem Unfälle zu Schaden gekommenen Kranken meist erst dann sehen, wenn
sich eine länger dauernde Schädigung des Nervensystems herausstellt. Dann aber
ist das ursprünglich vorhandene Bild schon verwischt. Im Felde ist nun dem
Arzte und vornehmlich dem Truppenärzte die Gelegenheit gegeben, die Einwirkung
eines körperlichen oder psychischen Traumas unmittelbar zu beobachten. Diese
*) Eine gute Übersicht gibt die Arbeit von H. Vogt in dem Buche: „Die Kriegsbeschä-
digungen des Nervensystems“. Wiesbaden 1917. Verlag J. F. Bergmann. S. ferner auch bes.
H. Oppenheim: „Die Neurosen infolge Kriegsverletzungen“. Berlin 1916. S. Karger.
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
266
Karl Kroner
Beobachtungen gewinnen an Interesse dadurch, daß sie als Experiment im größten
Umfange an einem ziemlich gleichartigen Menschenmaterial angestellt sind, das
noch dazu vorher dem Arzte bekannt ist.
Es liegen bereits mehrere Arbeiten von Truppenärzten, auch von neurologisch
vorgebildeten, über diesen Gegenstand vor. Ich erwähne besonders die lesenswerten
Aufsätze von Jolowicz 1 ), Münzer 2 ), Rohde 8 ), Vexberg 4 ), Boström 5 ) u. a.
Ein Teil dieser Arbeiten ist in der ersten Zeit des Krieges erschienen. Es fehlt
daher die Berücksichtigung der Einflüsse, die als besonders begünstigend.auf das
Eintreten von nervösen Folgezuständen angesehen werden, nämlich der chronischen
Erschöpfung und der gesteigerten Wirkung der Kampfmittel. Gerade die Berück¬
sichtigung dieser Momente ist aber unumgänglich notwendig.
Es sei daher nachstehend kurz über die Erfahrungen berichtet, die Ver¬
fasser als Truppenarzt im Westen während dreier Jahre sammeln konnte (mit
einer mehrmonatigen Unterbrechung, während welcher Zeit er Gelegenheit hatte,
in einem Kriegslazarett neurologische Fälle zu beobachten).
Es soll zunächst die Frage kurz erörtert w’erden: Kann ein gesundes Nerven¬
system die ungeheuren Anforderungen, die der Krieg besonders in Großkampf¬
gebieten stellt, ohne Schädigung ertragen? Die Beantwortung dieser Frage
scheint mir auch über das vorliegende Thema hinaus von Bedeutung zu sein.
Hier bietet nun die Beobachtung einer im Kampfe stehenden Truppe ein unschätz¬
bares Material, dessen Bearbeitung kaum erst begonnen hat. Unsere bisherigen
fast ausschließlich in Lazaretten hinter der Front sowie im Heimatsgebiete ge¬
wonnenen Erfahrungen reichen zur Beantwortung der Frage nicht aus. Denn das
hier zusammenströmende Material ist naturgemäß einseitig. Der im Lazarett tätige
Arzt sieht eben nur diejenigen, die versagt haben. Es ist aber hinterher oft sehr
schwierig, wenn nicht unmöglich, festzustellen, ob es sich um vorher völlig Gesunde
gehandelt hat oder nicht. Wo objektive Symptome fehlen (und sie fehlen recht
häufig) ist der Arzt auf die eigenen Angaben des Untersuchten angewiesen.
Mit wie großer Vorsicht die Vorgeschichte aber gerade auf diesem Gebiete
verwertet werden muß, weiß jeder erfahrene Neurologe. Schon das weit ver¬
breitete Vorurteil, das dem nervös Belasteten anhaftet, wird manchen veranlassen,
frühere nervöse Erkrankungen zu verschweigen. Dies gilt besonders für Psycho¬
pathen und Epileptiker, auf deren „Kriegsfreudigkeit“ als geradezu charak¬
teristisches Symptom neuerdings erst Hauptmann 6 ) mit Nachdruck hingewiesen
hat. Bei anderen wird die, wenn auch unbegründete, Besorgnis, bei bereits vor¬
handener nervöser Erkrankung in der Rentenabmessung benachteiligt zu werden,
die Veranlassung zum Verschweigen geben. Am häufigsten jedoch wird eine
nervöse Belastung oder Erkrankung durchaus bona fide nicht angegeben werden.
Viele Belastete versagen eben erst, wenn eine stärkere Beanspruchung eintritt;
eine solche wird aber, da es sich bei der Truppe vorwiegend um jüngere Menschen
] ) Zeitschrift f. d. ges. Neurologie und Psychiatrie 36, H. 1 und 2.
*) Beri. klin. Wochenschrift 1915, S. 10.
3 ) Zeitschrift für die gesamte Neurologie. D. 29, S. 379.
4 ) Wiener med. Wochenschrift. 1915. S. 27.
*) Med. Klinik. 1917. Nr. 50.
6 ) „Ober Epilepsie im Lichte der KriegserfahrungeD“. Berlin 1917. Springers Verlag.
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Zur Frage der Kriegsneurosen auf Grund von Beobachtungen an der Front. 267
handelt, oft vor dem Kriegsdienst noch nicht erfolgt sein. Kurz, es ergibt sich
hieraus, daß die in den Lazaretten, besonders denen des Heimatsgebietes, ge¬
wonnenen Erfahrungen zur Beantwortung der Frage, wie ein gesundes Nerven¬
system auf die akuten und die chronischen Schädigungen des Frontdienstes reagiert,
nur mit großer Vorsicht zu verwenden sind. Auch die Statistik versagt hier.
Wir können wohl feststellen, wie groß der Prozentsatz der an Neurosen (dieser
Begriff im weitesten Sinne genommen) Erkrankten ist; wieviel vorher Gesunde
sich aber darunter befinden, sagt uns die Statistik nicht, und sie kann es uns
auch nicht sagen, da sie zu Verschiedenartiges zusammenfaßt.
Meine Beobachtungen wurden zunächst angestellt an einem fast ausschließlich
aus jungen Kriegsfreiwilligen bestehenden Truppenteil, später bei einer aus den
verschiedensten Altersklassen (mit Ausnahme der ältesten) gemischten Truppe, die
wiederholt in den schwierigsten Kampfabschnitten eingesetzt wurde.
Das Ergebnis war aber überall fast das gleiche; Lähmungen und Kontrak¬
turen, Zitterzustände, kurzum das Heer der Krankheitsbilder, die in den Heimat¬
lazaretten das Gros bilden, gehören bei der kämpfenden Truppe zu den größten
Seltenheiten. So sah ich im vergangenen Frühjahr an einem Brennpunkte des
Kampfes auf einem Verband- und Sammelplatz, dem zunächst fast alle Ver¬
wundeten und Kranken eines Divisionsabschnittes zuströmten, während eines Zeit¬
raumes von 8 Tagen nur einen einzigen Fall von Stupor mit chorea-ähnlichen
Zuckungen. Dieser Zustand war in vorderer Stellung eingetreten. Über die Vor¬
geschichte war nichts Näheres zu erfahren.
Nimmt man aber bei derartigen Kranken später im Lazarett, nach Abklingen
des akuten Stadiums, die Anamnese auf, so wird man fast regelmäßig als ver¬
meintliche Ursache hören, der Zustand sei eine Folge einer Verschüttung oder
einer in unmittelbarer Nähe erfolgten Granatexplosion.
Diese immer wiederkehrenden Angaben sind nun in die Literatur über¬
gegangen, und sie haben bei der Erörterung der Frage, ob es sich hier um lediglich
funktionelle Zustände oder um die Folge einer Erschütterung handelt (die man
sich wieder mehr oder minder organisch bedingt oder auf molekularen Er¬
schütterungen beruhend vorstellen kann), eine große Rolle gespielt. Es muß daher
auf diese Frage etwas genauer eingegangen werden.
Daß eine Granate beim Krepieren eine kolossale Luftdruckschwankung
hervorbringt, ist bekannt, und ganz besonders gilt dies für die schwereren Kaliber
und für die Minen, deren Anwendung im Stellungskrieg immer mehr zugenommen
hat. Der Überdruck im Augenblick der Explosion beträgt etwa 500 Atmosphären.
Daß dieser Druck, um sich auszugleichen, einen großen Radius erfordert, zeigt
schon die Erfahrung, daß zum Beispiel bei Beschießung einer Ortschaft die Fenster¬
scheiben meist in einem Umkreis von mehreren 100 Metern zerspringen.
Wie rasch der ungeheure am Ort der Explosion entstandene Luftdruck
absinkt, wie lange er überhaupt einwirkt, und ob es sich um ein einfaches, zur
Peripherie fortschreitendes Absinken oder ob es sich um Verdichtungs- und Ver¬
dünnungswellen handelt (vgl. Ho che, Med. Klinik 1917, Nr. 34), darüber ist noch
wenig bekannt. Fest steht jedoch, daß der Luftdruck in der Nähe der Einschlags¬
stelle hinreicht, um nicht nur Menschen, sondern sogar viele Zentner schwere
Gegenstände weit fortzuschleudern. Daher sehen wir nicht selten bei Explosionen.
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
268
Karl Kroner
besonders wenn der Anprall des durch die Gewalt der Explosionen fortgescldeuderten
Körpers, gegen unnachgiebigen Boden, die Wand des Schützengrabens oder der¬
gleichen erfolgt, schwere mechanische Verletzungen, wie Knochenbrüche und Kon¬
tusionen, und bei stärkerem Anprall des Schädels sehen wir das bekannte Bild
der Commotio cerebri. Die hierdurch bedingten Schädigungen bieten aber nichts
für die Luftdruckwirkung als solche Charakteristisches. Denn an sich ist es für
den Mechanismus des Zustandekommens der Commotion gleichgültig, ob der Be¬
wegungsimpuls durch Fortgeschleudertwerden des menschlichen Körpers infolge
des Luftdrucks oder zum Beispiel durch Fortschleudern aus einem Gefährt erfolgt,
oder ob endlich eine bewegte Masse gegen den ruhenden Körper geschleudert wird.
Die Frage ist vielmehr so zu stellen: Kann der Luftdruck allein zu einer
Erschütterung und dauernden Schädigung des Zentralnervensystems führen? Diese
Frage muß ich nun im Gegensatz zu den Angaben besonders von v. Sarbo,
Ravaut u. a. durchaus verneinen. Ich habe trotz einer recht ausgedehnten
Beobachtungsmöglichkeit niemals etwas Derartiges gesehen. Bei den langdauernden
Stellungskämpfen ist das Krepieren von Granaten in der Nähe von Posten, Unter¬
ständen usw. etwas so Gewöhnliches, daß bei der Möglichkeit einer reinen
Luftdruckwirkung eine schädliche Einwirkung bei der großen Mehrzahl der Kriegs¬
teilnehmer eingetreten sein müßte. Es dürfte wohl wenige Kämpfer in der
vordersten Linie geben, in deren unmittelbarer Nähe nicht wiederholt Granat¬
einschläge stattgefunden hätten. Im Stellungskampf kommt noch dazu, daß der
Einschlag meist in der Nähe der Gräben und Unterstände erfolgt, in denen der
Ausgleich der Luftdruckschwankung viel unvollkommener erfolgt als im Freien.
Freilich muß man auch hier eine verschiedene Widerstandsfähigkeit der Organismen
voraussetzen, aber diese kann bei einem mechanisch wirkenden Agens nicht so
verschieden angenommen werden, um derartig weitgehende Unterschiede zu er¬
klären. Sehen wir doch, daß auch bei der Gehirnerschütterung durch Schlag
oder Stoß die Widerstandskraft des Nervensystems keine sehr bedeutende Rolle
spielt; diese kommt erst zur Geltung in der Art, wie die Folgen überwunden
werden.
Es ist aber hier noch ein Punkt zu beachten, der meines Wissens bisher
nicht erwähnt worden ist: Das Zentralnervensystem ist gegen nicht unmittelbar
einwirkende Gewalt durch seine Lage von Natur ganz außerordentlich ge¬
schützt. Von Knochen (mit darüber liegenden Weichteilen) völlig umgeben, in
einer Flüssigkeit suspendiert, ist es den Luftdruckschwankungen völlig entzogen.
Nur auf zwei Wegen können diese Schwankungen auf das Gehirn wirken: durch
das Auge und durch den Gehörgang.
Nun sind in der Tat von Augenärzten Schädigungen des Auges infolge des
Luftdruckes beschrieben worden (Pachantoni) 1 ). Aber einmal sind diese Ein¬
wirkungen (Blutungen) in ihrer Ätiologie noch nicht genügend geklärt und zweitens
beweisen sie nichts in der vorliegenden Frage. Denn selbst wenn eine Verletzung
des Auges lediglich durch den Luftdruck möglich sein sollte, so ist damit noch
nicht gesagt, daß nun auch das Gehirn beschädigt wird, eher im Gegenteil: Das
hinter dem Bulbus liegende orbitale Fettpolster würde alsdann den Stoß elastisch
') Revue inöd. de la Suisse romande 1917, Nr. 4, ref. in Neur. C. 1917, Nr. 11.
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Zur Frage der Kriegsneurosen auf Grund von Beobachtungen an der Front. 269
auffangen. Auch bei unmittelbar auf das Auge wirkender schwerer Gewalt sehen
wir ja keine Fortleitung des Stoßes auf das Gehirn.
Der zweite Weg ist der durch das Ohr. Am Gehörorgan sind nun Schädigungen
gar nicht selten; sie sind gut bekannt und genau beschrieben. Hier haben wir es
also in der Tat mit einer reinen Luftdruckwirkung zu tun, die zu Veränderungen
des mittleren und namentlich des inneren Ohres führt.
Schwerhörigkeit, sogar völlige Ertaubung, ist dabei häufig. Aus diesen
Schädigungen des N. acusticus darf man jedoch nicht schließen, daß auch andere
Nervengebiete durch den Luftdruck getroffen werden können. Denn hier handelt
es sich um einen nur übermächtigen adäquaten Reiz, der etwa in Parallele zu
setzen ist mit der Schädigung des Nervus opticus durch Blendung. Gerade diese
Fälle zeigen im Gegenteil, wie wenig das Zentralnervensystem auf die bei der
Granatexplosion zustande kommende Luftdruckschwankung anspricht.' Denn ge¬
wöhnlich findet man gerade bei den nach Explosionen Ertaubten, bei denen also
sicherlich die Einwirkung eine besonders große war, keine Erscheinungen einer
weiteren Beteiligung des Nervensystems, während umgekehrt diejenigen, die nach
einer angegebenen Explosion an Neurosen bezw. Psychoneurosen erkrankt sind,
fast nie eine Beteiligung des N. acusticus zeigen.
Nun sind allerdings, auch in der französischen und englischen Kriegsliteratur
(Ravaut 1 ), Hurst 2 ) u. a.) Symptome beschrieben worden, die auf eine molekulare
oder auch auf eine gröbere organische Erschütterung hindeuten könnten, nament¬
lich Drucksteigerung des Liquor cerebro-spinalis und Auftreten von Eiweiß und
Lymphozyten in demselben.
Was das erstere anbetrifft, so handelt es sich wohl um Fälle, in denen eine
commotio cerebri durch Fortgeschleudertwerden Vorgelegen hat. Ob indessen eine
Liquorstauung nicht lediglich auch nach einem psychischen Trauma allein vorkommt,
müßte erst noch festgestellt werden. Daß sie, wie die Blutdrucksteigerung bei
traumatischen Neurosen, noch nach Jahren vorhanden sein kann, ist längst fest¬
gestellt. Bei dem innigen Einfluß, den der Schreck auf die Vasomotoren hat, wäre
es durchaus möglich, daß eine entsprechende Einwirkung auch durch Vermittelung
der Plexus chorioidei auf die Produktion des Liquor cerebro-spinalis zustande
kommt.
Wie das Auftreten von Eiweiß und Lymphozyten zu deuten ist, kann hier
nicht näher ausgeführt werden. Vermutlich hat es sich in diesen Fällen um
groborganische Schädigungen mit Blutaustritten gehandelt. Es wäre jedoch auch
daran zu denken, ob nicht bei einer bestimmten neuropathischen Konstitution,
entsprechend der Vermehrung der Lymphozyten ira Blut, auch eine solche im
Liquor vorkommt. Untersuchungen hierüber liegen meines Wissens nicht vor.
Für die eben dargelegte Anschauung gibt es endlich noch einen zwingen¬
den Beweis: Würde der Luftdruck allein zu Schädigungen des Zentralnerven¬
systems führen, dann müßte man diese am häufigsten und am reinsten in den
Fällen finden, in denen die Luftdruckwirkung am größten gewesen ist, d. h. bei
denjenigen, die dem Orte des Einschlags am nächsten waren: das sind die Schwer¬
verwundeten. Denn bei der Sprengwirkung der modernen Geschosse ist es klar,.
•) Press. m<d. 1915, Nr. 39, ref. in Neur. C. 1911, Nr. 1.
*) British, med. journ. 1917, 29. September, ref. in Neur. C. 1918, Nr. 5.
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
270
Earl Kroner
daß ceteris paribus die Verletzungen um so schwerer und um so zahlreicher sein
werden, je näher sich der Verwundete der Einschlagstelle befunden hat. Gerade
bei Schwerverletzten habe ich aber Luftdruckwirkungen niemals feststellen können,
wie ja auch nervöse Spätfolgen bei dieser Kategorie sehr selten sind. Ich fand
sie aber auch nicht bei Leichtverwundeten mit zahlreichen Verletzungen, die, nach
der Verteilung und der Zahl der Verletzungen zu schließen, sich gleichfalls in
unmittelbarer Nähe der Einschlagstelle befunden haben müssen. Bei dieser
Kategorie von Verwundeten ergab sich durch das Fehlen der Shockwirkung ein
noch klareres Bild.
Ich möchte also mit Bestimmtheit sagen, daß eine Luftdruckwirkung allein,
wenn sie überhaupt vorkommt, sicherlich recht selten ist, daß sie zumindest die
zahlreichen Krankheitsfälle, die auf sie zurückgeführt werden, nicht erklärt.
Wie ist nun diese häufige Angabe der Erkrankten zu erklären? Sie erklärt
sich sehr einfach, wenn man die Soldaten genau über den Hergang befragt. Da
ergibt sich dann gewöhnlich, daß die Betreffenden in ihren Angaben unsicherer
werden und dann meist zugeben, daß sie den Hergang nicht wüßten, da sie
plötzlich bewußtlos geworden seien. Häufig geben sie dann auch zu, von einem
Einschlag in der Nähe nichts zu wissen. Aber selbst wenn ein solcher statt¬
gefunden haben sollte, möchte ich die Wirkung nicht als Luftdruckwirkung,
sondern einfach als Folge des Schrecks und des starken akustischen Keizes auf¬
fassen. Die reine Luftdruckwirkung zeigt sich beim Gesunden, wie ich auch aus
Selbstbeobachtungen bestätigen kann, abgesehen von der Einwirkung auf das
Gehörorgan, lediglich in einer momentanen Erschwerung des Atmens, bisweilen
auch in dem Gefühl, einen Schlag gegen den Leib erhalten zu haben (Druck auf
die nachgiebigen Bauchorgane).
Zusammenfassend möchte ich also sagen: die Tatsache, daß bei Schwer¬
verletzten Folgezustände, die als Luftdruckwirkung angesehen werden könnten,
fast ausnahmlos fehlen, daß derartige Folgen auch bei sicherer Luftdruckwirkung
auf das Gehörorgan fast stets vermißt werden, wehrend andererseits bei den
infolge angeblicher Granatexplosion in der Nähe Geschädigten fast stets Ver¬
letzungen fehlen, diese Tatsachen zeigen mit größter Wahrscheinlichkeit, daß das
Zustandekommen dieser Zustände auf rein psychische Einflüsse zurückzuführen ist.
Zu erwähnen wäre hier allerdings, daß unter bestimmten Voraussetzungen
bei Explosionen Schädigungen des Nervensystems durch Kohlenoxydvergiftung
eintreten können. Diese Möglichkeit ist besonders in Sprengtrichtern und in
Unterständen gegeben, in denen das infolge seiner Schwere nach unten sich
senkende Kohlenoxyd nicht abfließen kann. Auf diese Weise zustande gekommene
Kohlenoxydvergiftungen habe ich wiederholt gesehen. In den Fällen, die ich
verfolgen konnte, trat indessen meist nach wenigen Tagen völlige Erholung ein;
nur einige wenige erholten sich nicht so rasch. Diese klagten über Mattigkeit
und leicht eintretende Erregbarkeit, sie boten das Bild, das uns aus der Literatur
bekannt ist, das uns hier jedoch nicht weiter interessiert. Denn wir haben hier
nichts anderes vor uns als den zum Beispiel bei der Leuchtgasvergiftung vor¬
kommenden Symptomenkomplex.
Die zweite, häufig von den nervös erkrankten Soldaten angeschuldigte Ursache
ist, wie oben erwähnt, die Verschüttung. Auch hier ist zunächst an eine grob-
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Zur Frage der Kriegsneurosen auf Grund von Beobachtungen an der Front. 271
mechanische Einwirkung bzw. eine molekulare Erschütterung zu denken, und sie
kommt zweifellos auch vor. Wird ein Mann zum Beispiel beim Einstürzen einer
Grabenwand verschüttet, dann kommt es meist zu schweren Quetschungen, die
natürlich auch Schädel und Wirbelsäule und damit das Zentralnervensystem in
Mitleidenschaft ziehen können. Daß man derartig Verschüttete iu Behandlung
bekommt, ist aber ziemlich selten, da beim Einstürzen von größeren Erdmassen
gewöhnlich der Tod durch Erstickung eintritt.
Wird vorwiegend der Rumpf von der Verschüttung getroffen, dann werden
schwere innere Verletzungen die Folge sein. Kurz: bei einer Verschüttung durch
schwere Erd- oder Gesteinsmassen werden umfangreiche organische Verletzungen
im Vordergründe des Krankheitsbildes stehen. Eine etwaige Schädigung des Zen¬
tralnervensystems spielt dabei eine durchaus sekundäre Rolle.
Gewöhnlich wird mm aber von einer Verschüttung da gesprochen, w r o dieser
Ausdruck nicht am Platze ist. Meist handelt es sich nur darum, daß eine in der
Nähe krepierende Granate Erdbröckel und Gesteinstrümmer aufwirft, die, wenn
es sich um kompakte Massen handelt, wie bei Gesteinstrümmern, grobmechanisch
wirken, während bei der Überschüttung mit Erde dieser Vorgang an sich gar keine
Rolle spielt, sondern lediglich die Shockwirkung infolge des Schrecks, der Glaube
verletzt zu sein, in Frage kommt.
In diesen Fällen werden wir bei näherem Befragen gewöhnlich auch von
dem Verletzten die Auskunft erhalten, daß er bewußtlos gewesen sei. Die Einzel¬
heiten sind dann meist nur aus Angaben der Kameraden, die Augenzeugen
gewesen sind, zu entnehmen. Gewöhnlich ergibt sich dann, daß eine Verschüttung
überhaupt nicht eingetreten ist, sondern daß ein Zustand von Stupor durch
Schreck, eine mehr oder weniger tiefe und langdauernde Bewußtlosigkeit mit
retrograder Amnesie Vorgelegen hat. Die Angaben des Mannes selbst werden
jedoch von Lazarett zu Lazarett immer bestimmter, und nur darauf ist es wohl
zurückzuführen, daß in den Krankheitsgeschichten der Lazarette, besonders der
Heimatlazarette, so häufig eine Verschüttung als Ursache nervöser Störungen an¬
gegeben wird, wo es sich um nichts weiter handelt, als um die Folge eines
psychischen Traumas.
Besonders trifft das zu für die Fälle, bei denen eine Verschüttung in einem
Unterstände stattfand. Ist durch einen Treffer der Unterstand selbst eingeschossen,
dann werden schwere Quetschungen und sonstige organische Verletzungen die
Folge sein. Handelt es sich aber, wie häufig, um ein Verschütten des Eingangs
zu einem Unterstände, so liegt ja eine eigentliche Verschüttung der Insassen
gar nicht vor, sondern lediglich ein in diesem Falle besonders stark wirkendes
psychisches Trauma, nämlich die Angst, lebendig begraben zu sein. Daneben
kommen allerdings noch bei länger dauerndem Eingeschlossensein die Folgen des
Sauerstoffmangels und der Kohlensäureüberladung der Luft, sowie eine etwaige
Kohlenoxydvergiftung hinzu.
Also auch bei der Verschüttung ist ebenso wie bei der Granatexplosion in
den weitaus meisten Fällen, wenn nervöse Folgezustände auf treten, ein psychisches
Trauma das auslösende Agens gewesen. Dafür spricht auch, daß auch hier die
Folgezustände fast stets bei organisch nicht Verletzten beobachtet werden, während
sie bei körperlich Schwerverletzten sehr selten sind.
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
272
Karl Kroner
Es ergibt sich somit, daß auch die anscheinend körperlichen Einwirkungen
fast nur im Sinne eines psychischen Traumas sich geltend machen. Daß aber
rein psychische Traumen imstande sind, die Krankheitsbilder zu erzeugen und zur
Fixation zu bringen, die wir jetzt bei Kriegsteilnehmern beobachten, hat Gold¬
scheider 1 ) überzeugend nachgewiesen. Seine 1. c. niedergelegte Auffassung, daß
es die Emotion, der Schreck ist, welcher dem Trauma diejenige Verbreitung und
Fixierung der nervösen Unfallfolgen verleiht, welche dem rein somatischen Reiz
an sich nicht zukommen, habe ich immer wieder bestätigt gefunden. Je mehr Ver¬
wundete man unmittelbar nach der Verletzung in der Feuerlinie gesehen hat, um
so mehr kommt man zu der Überzeugung, daß das körperliche Trauma fast nichts,
das psychische fast alles ist.
Wie wirken nun diese psychischen Traumen auf den gesunden, nicht be¬
lasteten Kriegsteilnehmer? Die Antwort lautet, man muß schon sagen, merk¬
würdigerweise: außerordentlich gering. Jeder, der in einem Großkampfgebiet
gewesen ist, jeder, der ein Trommelfeuer miterlebt hat, macht in wenigen Tagen
eine Unzahl von körperlichen und seelischen Erschütterungen durch. Das Resultat
ist nicht selten eine körperliche und seelische Erschöpfung, die sich aber selten
in Reizerscheinungen, sondern eher in einer Abstumpfung zeigt, die sich namentlich
bei den jüngeren Jahrgängen in der Ruhe sehr rasch wieder ausgleicht. Die
Ursache für die Erschöpfungszustände sehe ich aber weniger in den voraus¬
gegangenen seelischen Erschütterungen als in dem bei starker Beanspruchung der
Kämpfer stets vorhandenen Schlafmangel und der dauernden Anspannung der Auf¬
merksamkeit. Beides wirkt am meisten zusammen da, wo die Verantwortung am
größten ist, d. h. bei Offizieren.
Und in der Tat sehen wir auch bei Offizieren die Erschöpfungszustände
relativ häufig und relativ schwer, während bei den Mannschaften, sobald Ruhe
eingetreten oder Ablösung erfolgt ist, das Stadium der Erschöpfung sehr rasch
überwunden wird. Ein schwerer dauernder Schaden tritt also bei einem ge¬
sunden Nervensystem in der Regel nicht ein, es handelt sich nur um ein akutes
Erschöpfungsstadium, das, Schonung vorausgesetzt, ohne Residuen vorübergeht.
Wie die häufige Wiederholung derartiger Zustände wirkt, soll noch erörtert
werden.
Während der Dauer der stärksten körperlichen und seelischen Beanspruchung
hat der Beobachter jedenfalls durchaus den Eindruck, daß durch die Anspannung
der Aufmerksamkeit und die Masse besonders der akustischen Eindrücke eine Er¬
höhung der Reizschwelle eintritt, die, ich möchte fast sagen, den Weg für, ein
psychisches Trauma sperrt. Vielleicht erklärt dies auch, daß, worauf Hirschlaff 2 )
neuerdings hinweist, über die Erscheinungen einer traumatischen Neurasthenie
hinausgehende Störungen bei Fliegern sehr selten sind, während nervöse Er¬
schöpfungszustände nach längerer und stärkerer Beanspruchung öfter beobachtet
werden. Nur diese Sperrung, zu der mit der Zeit auch Gewöhnung an Gefahr
und Abstumpfung eintritt, ermöglicht es dem Soldaten, die seelischen Strapazen
des Krieges jahrelang auszuhalten. Bestände sie nicht, dann würden in der Tat
*) Dtsch. m. W. 1916, Nr. 46.
a ) B. kl. W. 1918, Nr. 15.
Digitized by Gck >gle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Zur Frage der KriegsneuroBen auf Grund von Beobachtungen an der Front. 273
die Befürchtungen begründet sein, die vor dem Kriege und auch in der ersten
Zeit des Krieges geäußert wurden, dann würde kaum einer, der lange in der Front
war, ohne Schädigung seines Nervensystems heimkehren.
Wie sehr die auf das Nervensystem einstürmenden Eindrücke ausgeschaltet
werden, zeigt auch das Verhalten im Schlafe. Der Schlaf des Soldaten in der
Feuerlinie ist meist sehr fest, man sieht selten unruhige Bewegungen, hört Selten
ein abgerissenes Wort.
Wie ich auch durch häufiges Befragen festgestellt habe, ist der Schlaf meist
traumlos; der Traum berührt, wenn überhaupt militärische, gewöhnlich gleichgültige
Angelegenheiten. Während des Tages erlebte schreckhafte Eindrücke gehen
selten in den Schlaf über. Dieses Verhalten ist für mich direkt ein Kriterium
geworden. Das Auftreten ängstlicher Träume in der Feuerliuie zeigt an, daß das
Nervensystem nicht, oder nicht mehr intakt ist. Während der Ruhezeit, nament¬
lich in den ersten Tageh, werden dagegen die Ereignisse der voraufgegangenen
Kampfperiode nicht selten im Schlafe weiterverarbeitet, hier ist das Auftreten
von schreckhaften Träumen häufig, aber belanglos.
In der Tat sieht man, daß eine Truppe nach einer meist sogar recht kurzen
Ruhezeit wieder einen völlig frischen Eindruck macht, daß die akuten Schädigungen
der voraufgegangenen Kampfperiode anscheinend restlos überwunden sind. Aber
doch nur anscheinend. In Wirklichkeit wird, zumindest bei einigen, eine Dis¬
position, eine erhöhte Bereitschaft zum Auftreten eines Reiz- oder Erschöpfungs¬
zustandes Zurückbleiben, es wird bei der nächsten Beanspruchung eher die Toleranz¬
grenze erreicht sein.
Es ist dies eigentlich auch selbstverständlich und deckt sich vollständig
mit den Erfahrungen, die wir im Frieden auf den Gebiet des bürgerlichen Berufs¬
lebens machen. Auch hier sehen wir, daß eine dauernde starke Inanspruchnahme
selbst bei Unbelasteten, wenn auch bei diesen erst spät und nicht sehr hochgradig,
allmählich zu einer reizbaren Schwäche des Nervensystems führt. Wir sehen aber
dann fast nur die Krankheitsformen, die in das Gebiet der Neurasthenie und der
Erschöpfungszustände gehören. Wieweit sie durch Störungen des endokrinen
Gleichgewichts bedingt sind, bedürfte noch näherer Untersuchung.
Zu einer hochgradigen Ausbildung dieser Zustände kommt es aber bei der
Truppe infolge der den Kampfperioden folgenden Ruhezeiten in der Regel nicht. Sonst
wäre es nicht möglich, daß das Gros der Soldaten nach bald vier Kriegsjahreu den
ständig gesteigerten-Strapazen Stand hielte und zwar ohne subjektive Erscheinungen
seitens des Nervensystems. Objektive Veränderungen, wenn auch nur solche ge¬
ringeren Grades, finden sich jedoch häufig. Bei der Untersuchung von Soldaten,
die lange Zeit in der Front gestanden haben, fand ich fast regelmäßig eine Er¬
höhung der Haut- und Sehnenreflexe, ferner auch fast stets eine Steigerung
der mechanischen Muskelerregbarkeit. Diese Anomalien, die ohne irgendwelche
subjektiven Störungen bestanden, waren oft so erheblich, cftiß man sie beim
Vorbringen von Klagen ohne weiteres als genügende objektive Unterlage be¬
trachtet hätte.
Daß die Erlebnisse des Krieges allein im allgemeinen von einem intakten
Nervensystem ohne wesentlichen Schaden überstanden w r erden, zeigen auch die
Erfahrungen an Kriegsgefangenen, die auch durch neuere Arbeiten, wie die von
Zeit*chr. L pby*ik n. diät. Therapie Bd. XXII. Heft 8/0. 18
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
274 K. Kroner, Zur Frage der Kriegsneuroaen auf Grund von Beobachtungen an d. Front.
Imboden 1 ) und Hörmann 2 ) immer wieder bestätigt werden, wenn auch Mörchen,
dem wir die erste und umfassendste Arbeit hierüber verdanken, sein urprüngliches
Urteil eingeschränkt und modifiziert hat. Auf dieses Kapitel will ich, da mir
eigene größere Untersuchungreihen fehlen, hier nicht eingehen.
Dagegen möchte ich, da sie ein interessantes Seitenstück bieten, kurz über
die Beobachtungen berichten, die ich an den Bewohnern des besetzten Gebietes
in Frankreich und Belgien anstellen konnte; es liegen hierüber meines Wissens
keine ausführlichen Arbeiten vor:
Wenn auch aus der Feuerzone selbst die Bevölkerung in ihrem eigenen
Interesse entfernt wird, so kommt es doch bei der immer größer werdenden
Reichweite der Geschütze vor, daß weit hinter der Front gelegene, bisher ver¬
schonte Ortschaften beschossen werden. Namentlich hat aber die Gefahr der
Fliegerangriffe erheblich zugenommen. Wenn nun natürlich auch kein Vergleich
gezogen werden soll zwischen den Strapazen und Gefahren des Frontkämpfers und
den Gefahren, denen die Bevölkerung des besetzten Gebietes ausgesetzt ist, so
muß doch beachtet werden, daß es sich hier um ein wenig widerstandsfähiges,
psychisch labileres Menschenmaterial handelt, das zudem fast ausschließlich aus
alten Männern, Frauen und Kindern besteht. Trotzdem sind hier Neurosen, die
auf die Kriegsereignisse bezogen werden müssen, selten. So sah ich in einem
größeren Ort hinter der Front, der von Zeit zu Zeit beschossen wurde, nur einen
einzigen Fall. Es handelte sich um eine Frau anfangs der 40er Jahre, bei der
seit einer kurz vor dem Kriege vorgenommenen Hysterektomie Ausfallserscheinungen
bestanden. Da ich mehrere Monate lang in diesem Städtchen Ortsarzt war, glaube
ich nicht, daß mir weitere Fälle entgangen sind.
Jedenfalls sah ich immer wieder, daß Beschießungen und Bombenabwürfe
mit großer Ruhe, fast mit Fatalismus ertragen wurden. Ähnliches beobachtete
ich auch an anderen Orten hinter der Front. Also auch hier dasselbe Ergebnis
wie bei den Kriegsgefangenen: Neurosen sind selten, Zitter-, Krampf- und Lähmungs¬
formen fehlen fast völlig. Besonders auffallend war dies bei den Franzosen und
Belgiern, die durch die Geschosse ihrer eigenen Landsleute verwundet waren.
Meine Beobachtungen hierüber beziehen sich naturgemäß auf ein relativ geringes
Material. Es wäre wünschenswert, wenn hier ausgedehntere Untersuchungen vor¬
genommen würden.
Zum Schluß möchte ich meine Erfahrungen wie folgt zusammenfassen:
Die körperlichen und seelischen Strapazen des . Krieges werden
von einem gesunden Nervensystem im allgemeinen ohne wesentlichen
Schaden ertragen. Die Schädigungen sind hauptsächlich durch Er¬
schöpfung, besonders infolge Schlafmangels, bedingt. Sie bieten das
bekannte Bild der Neurasthenie in ihren verschiedenen Abstufungen.
Die Kriegserei^nisse wirken fast ausschließlich als psychisches
Trauma, besonders durch Schreck; schwere Erkrankungsformen sieht
man nur bei einem von vornherein minderwertigen Nervensystem.
Wohl nur in diesen Fällen kommt es zum Auftreten der Krampf-,
’) Das Neurosenproblem im Lichte der Kriegsneurologie. (Korresp. f. Schweizer Ärzte 1917,
ref. in Neur. C. 1917, Nr. 19.)
») Med. Kl. 1917, Nr. 26.
Digitized by
Gck igle
Original fru-mr
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Kart Singer, Prinzipien and Erfolge der aktiven Therapie bei Neurosen,
275
Zitter- und Lähmungsformen, für deren Zustandekommen lediglich
psychische, nicht organisch bedingte Momente verantwortlich zu
machen sind. Auch Granatkontusion und Verschüttung sind nur als
psychische Traumen anzusehen. Eine gleichzeitig erfolgte Verletzung
mag auf Art und Ort der Reaktion von Einfluß sein; ihre Dauer und
ihre Stärke sind jedoch einzig und allein durch die psychische Kon¬
stellation des Verletzten bedingt.
IX.
Prinzipien und Erfolge der aktiven Therapie bei Neurosen.
Von
Dr. Kurt Singer
in Berlin.
Die aktive Therapie der Kriegsneurosen und besonders der veralteten Fälle,
die uns in den Heimatlazaretten begegnen, ist jetzt in ein Stadium getreten, in
dem von Versuchen und Tasten nicht mehr geredet werden kann. Sie ist ein
zielbewußtes, durch wissenschaftliches Denken, theoretische Überlegung und
praktische Erfahrung ausgebautes methodisches System geworden, an dessen Grund¬
linien und an dessen Wirksamkeit bei aller geringen oder reichen Variabilität
nicht mehr gerüttelt werden kann. Diese Richtlinien eröffnen die weiteste und
beste Perspektive auch für die Friedensarbeit bei den Unfallsneurosen aller Art;
nur daß hier aus äußeren Gründen die Frage der Entschädigungsansprüche, der
Rente eine noch größere Rolle spielen wird, während bei den neurotischen Soldaten
die Heilung zunächst das ausschlaggebende Moment für unser Handeln sein muß.
Eine jetjst schon nach Tausenden von Fällen zählende Erfahrung hat uns
gelehrt, daß jeder auch noch so iriveterierte, noch so oft vergeblich behandelte
Neurotiker symptomfrei gemacht werden kann. Für seinen bürgerlichen Beruf,
für eine Arbeitsverwendung, also auch für die Frage der Dienstbeschädigung und
Rente bedeutet aber Symptombeseitigung so viel wie Heilung. Die Disposition
zur Neurose, all die inneren und äußeren Bedingungen zu einer Steigerung latenter
nervöser Reizerscheinuügen, die Bereitschaft des Individuums zur Aufnahme und.
krankhaften Verarbeitung späterer neuer seelischer Traumen können wir ihm
selbstverständlich nicht nehmen. Wer aber über viele eigene Beobachtungen
verfügt, der kann leicht feststellen, daß der Zusammenhang der äußerlich sicht¬
baren neurotischen Erscheinungen sowohl mit dem körperlichen Wohlbefinden
als mit gemütlicher Stimmung und seelischem Gleichgewicht ein viel engerer und
wohl auch viel gesetzmäßigerer ist, als das von vornherein sichtbar ist. Diese
Frage bis zu Ende zu durchforschen, ist hier nicht der Platz, greift sie doch bis
tief in den physio-psychischen Parallelismus des Lebens, überhaupt in das Ab-
Digitized by
Go igle
18 *
Original from
UMIVERSITY OF MICHIGAN
276
Kurt Singer
hängigkeitsverhältnis von Körper lind Geist, Bewegung und Seele hinein. Doch
so viel kann gesagt werden, daß der Hysteriker in der Zeit seiner manifesten Er¬
scheinungen trotz guter Pflege herunterkommt, daß mit seiner Heilung sich mit
einem Schlag Appetit, Eßlust, Gewichtszunahme, körperliche Frische, Gesundheit
der Gesichtsfarbe zum Besseren wenden, und daß vor allem auch der Drang nach
Betätigung und Dienst ■wachsen. Man staunt so oft, daß Kranke, die sich un¬
willig gegen eine „schon so oft“ geübte Heilprozedur sträuben, die in Wut und
Erregung geraten, wenn von ärztlicher Behandlung, sicherer Heilung usw. ge¬
sprochen wird, daß Kranke, die heute noch mit dem bekannten, aus Leid, Unwillen,
Verbitterung und hypochondrischer Depression (oft auch Hohn) gemischten Gesichts¬
ausdruck ungehörige Antwort geben, eine Stunde nach der Heilung freundliche,
offene, zugängliche, frohe und oft arbeitsbeflissene Menschen geworden sind.
Es ist, als seien sie einen Stein, eine Last von ihrer Seele los gewordenem der
Art, wie die Soldaten das zum Ausdruck bringen — froh oder unlustig — zeigt
sich auch retrospektiv noch der Grad der Übertreibung, die ja fast physiologisch
zum Bild der Hysterie gehört 1 ).
Diese Hebung des psychischen Wohlbefindens, diese seelische Veränderung
beweist uns, daß durch die Kur ein drückender, ein „eingeklemmter“ Affekt
(nach Freud) freigeworden ist. Dieser weit zurückliegende Affekt muß aufgedeckt
werden; all die psychischen Bausteinchen, die das Mosaikbild der Neurose zu¬
sammensetzten, all die assoziativen Bindemittel, durch die das zeitlich und ur¬
sächlich Getrennte hier fixiert und vereint bleibt, der ganze Komplex von
Krankheits-, Angst- und Wunschvorstellungen, von unbewußten und
bewußten Abwehrmaßnahmen muß gesprengt, muß für immer zersetzt
und zerfetzt werden. Das ist Sinn und Zweck der aktiven Therapie.
Gegner der aktiven Therapie konnten nur auftreten, solange an der unhalt¬
baren und unmöglichen These von der organischen Grundlage der Kriegsneurosen
mit oder ohne Einschränkung festgehalten wurde. Seit man weiß, daß genau die
selben neurotischen Bilder des Zitterns, der Lähmung, des Stummseins, der Aphonie,
der Krampfzustände mit photographischer und kinematographischer Treue auch ohne
jedes körperliche Trauma auftreten, lediglich bedingt durch schreckhafte Eindrücke,
aufregende Vorkommnisse und angstbetonte Erlebnisse in der Heimat, bei der mili¬
tärischen Übung, im Zug oder in den vier häuslichen Wänden, seitdem ist es den
Einsichtigen unter den Gegnern auch klar geworden, daß die somatische, auch
die aus Verlegenheit konstruierte molekular-somatische Ursache der Neurose zu den
Akten zu legen ist. Die Neurose ist eine Abwehrmaßnahme des Organismus, der
mehr oder weniger durch Belastung schon einen guten öder gut vorbereiteten
Boden zur Aufnahme des neurotischen Infekts bietet. In der Neurose reagiert das
Individuum die gesteigerten und eingeschlossenen Affekte ab, sie ist eine unbe¬
wußte Sicherung gegen das Auftreten und Überwuchern unlustiger, angstvoller
Situationen, sie schließt, meist dem Individuum unbewußt, den Zweck in sich,
Gefahren und seelisch-körperlichen Strapazen durch die Krankheit zu entfliehen.
Dieser „Flucht in die Krankheit“ setzt sich die aktive Therapie als Mittel zur
Flucht in die Heilung entgegen. Sie baut die Brücke, auf der das erkrankte
') S. dazu meine Arbeiten zur Simulationsfrage in den Würzburger Abhandlungen XVI, 1
und XVI, 6.
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Prinzipien und Erfolge der aktiven Therapie bei Neurosen.
277
Individuum zurückfindet in die spannungslose, affektfreie, gereinigte seelische
Konstellation gesunder Tage.
An diesem Prozeß der Spaltung, Sprengung und Verdrängung falsch einge¬
stellter Assoziationen muß sich nach unserem Erachten der kranke Soldat selbst
beteiligen, soll das Heilresultat ein möglichst dauerndes sein. Deswegen ist die
Hypnose nicht prinzipiell als Methode der Wahl anzuerkennen, denn hier erlebt
und durchlebt der Kranke den Heilvorgang nicht im mindesten selber mit, er lebt
vielmehr ohne eigenes Zutun aus der Krankheit durch Vermittlung eines traum¬
haften, kaum erinnerten Zustandes der Bewußtseinstrübung in die Gesundheit hinein.
Auch bei starker Gegensuggestion gelingt es sehr oft nicht, diese oft gewünschte,
dann verwünschte Willenlosigkeit für später zu bannen. Wie in der Hypnose
durch einen Lufthauch (nämlich das Wort „werde krank“) das alte Bild der Neurose
wieder hervorgerufen werden kann, so ist der Kranke konsequent auch bereit, jeden
seelisch unangenehmen Eindruck hinter der Hypnose auch wieder als adäquaten
Anlaß eines neurotischen Komplexes im Rückfall aufzufassen. Ich habe Rezidive
bei Hypnotisierten gesehen, wenn die Tür des Krankensaales zugeworfen wurde,
wenn ein Brief von daheim verspätet ankam, wenn ein Kamerad den einstmals
Kranken hänselte. Auch gelingt weder jede Hypnose (wobei allerdings die Technik
eine Rolle spielt), noch aber verschwinden immer die in der Hypnose beseitigten
Symptome auch für die Zeit nach der Hypnose. Ich habe Zitterer gesehen, die
in der Hypnose ihr Zittern verloren und unmittelbar nach dem Aufwachen, trotz
reichlich gegebener Suggestion, wieder zitterten; Kranke also, die die Schläf-
suggestion prompt, die Heilsuggestion aber kaum annahmen. Zuletzt sind mir mehrere
Kranke in Erinnerung, bei denen auch das Einachläfern durch hervorragendste
Hypnotiseure mißlang, weil die Kranken für die Erfassung des Sinns der Hypnose
zu minderwertig waren.
AU diese hemmenden Momente fallen bei der aktiven Methode der Therapie,
wie wir sie meist üben, fort. Es gibt keinen Hysteriker, der ihr nicht zugängig
wäre, es gibt kein Sympton, das durch sie nicht in einer Sitzung beseitigt werden
könnte, es gibt keine Mißerfolge, und es gibt — nach unseren bisherigen kat-
amnestischen Erhebungen — bei geeigneter müitärischer Verwendung kaum Rezi¬
dive. Man tut gut, die Angstneurosen und die schweren Psychopathen von der
Therapie, wie sie in Hornberg und bei uns geübt wird, auszuschüeßen; diese
Kranken sind ebenso wie die konstitutioneU Nervösen, Depressiven und die Cyclo-
thyrnen für die konservative medikamentöse, psycho-analytische und sonstwie rein
suggestive (auch hypnotische) Art der Behandlung zu reservieren. Sie bieten
auch für ein sehr aktives Eingreifen meist weniger Handhabe und Anlaß.
Wir wenden die aktive Therapie bei aUen Formen der psycho-motorischen
Neurose an, besonders also bei folgenden Symptomkomplexen: Zittern und Schütteln,
Tic und Krampfzuständen, Haltungs-Anomalien des Körpers, der Wirbelsäule, der
Schulter, psychogener Lähmung und Kontraktur, Pseudo-Ischias und Lumbago-
Schmerz, Aphonie, Stottern, Stummheit, Amblyopie und Schwerhörigkeit, Pseudo¬
demenz, Stupor, Enuresis, Singultus, Vomitus. Es ist von selbst verständlich, daß
eingehendste körperliche Untersuchung und der Versuch, in den psychischen Zu¬
sammenhang zwischen Schreckerlebnis und Neurose einzudringen, dem Behandlungs¬
akt vorhergeht. Eine gewisse Vorbereitungszeit, in der der Kranke im Bett liegt
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
278
Kart Singer
und der starken Suggestion des Heilmilieus (durch Gespräche mit früher behandelten
und geheilten Kameraden) ausgesetzt ist, wirkt zuweilen so gut, daß sich eine
Therapie überhaupt erübrigt. In den letzten Wochen sind so innerhalb weniger
Tage 10 Kranke auf dem Weg vom Krankensaal zum Behandlungsraum geheilt.
Eine Idealmethode, der allerdings noch die Möglichkeit der Verallgemeinerung fehlt.
Die Behandlung selbst ist, analog der Kehrerschen, eine Kombination aus:
suggestiven Einspritzungen in die kranken Organe, starker verbaler Beeinflussung,
vermeintlicher Behandlung von Rückenmark und Nervensträngen mit unfühlbaren
galvanischen Strömen bis zum Nachweis der völligen Gesundheit dieser Organe,
starker faradischer Reizung der Schmerzpunkte im Gebiet der befallenen Partien,
suggestive (scheinbare) Steigerung der Stromstärke bis zu den höchsten Graden
(2000 Volt und mehr) unter lauten und anregenden Suggestionen, Betonung der
Selbstarbeit und Willensanspannung des Kranken, Zwangsübungen und Zwangs¬
exerzieren. Alle diese Etappen der Heilung werden je nach der Lage des Falls
variiert. Die Einzelheiten stärker oder schwächer, länger oder kürzer ausgedehnt,
die scheinbare Stärke der Ströme abhängig gemacht von dem Mitgehen oder Ver¬
sagen des Kranken. Es gibt dabei kein Sichgehenlassen und Schwachwerden des
Patienten. Der militärische Ton bleibt auch gewahrt, wenn er nicht rigoros wird,
das Odium der Strafe fehlt vollkommen, die ganze Prozedur muß in jedem Augen¬
blick wie ein wohlvorbereiteter, gerade für das zu behandelnde Individuum speziell
zusammengesetzter Heilplan wirken. Eine Marter nur für den AAt, der in schweren
Fällen auch 1 bis 2 Stunden bei dem Kranken lehrend, übend, zuredend und behan¬
delnd ausharren muß; für den Kranken nur anstrengend, wenn er eine mala voluntas
gegen den eindringenden Heileffekt stemmt. Durchschnittlich dauert die suggestive
Vorbehandlung (die im einzelnen nicht beschrieben werden kann) 5 bis 10 Minuten,
die eigentlich elektrische und Übungsbehandlung 10 bis 20 Minuten.
Was nützt die aktive Therapie und welche Grenzen sind ihr gezogen? Zu
allererst werden mit absoluter Sicherheit die krankhaften, äußerlich sichtbaren
Symptome beseitigt. Damit, sagen manche, sei noch nicht viel gewonnen. Man
könnte ja allerdings darauf vergleichsweise hinweisen, daß man einen Kranken
noch nicht geheilt hat, wenn man eine äußerlich fühlbare karzinomatös oder
syphilitisch verhärtete Drüse entfernt hat, wenn man nach einem Hirnschuß den
Prolaps abträgt. Der Kranz, der Boden, der Keim der Krankheit bleibt unaufhörlich
wuchernd und stets bereit, sich wiederum äußerlich sichtbar zu machen. Es ist aber
schon oben gezeigt, daß die gesamte Persönliclikeit mit all ihren Vorstellungen,
Affekten, Wünschen und Abwehr-Reaktionen durch das Befreien von lästigen Krank¬
heitssymptomen zum Guten verändert wird. Die Trägen arbeiten, die Unfreund¬
lichen werden umgängig. Das, was äußere Einflüsse an dem seelischen Gleich¬
gewicht unserer Soldaten verschieben konnten, das vermag die erfolgreiche Therapie
auch wieder auszugleichen. Solche Leute sind in nicht viel anderem Sinne „geheilt“,
als Leute mit Gelenkrheumatismus, Spitzenkatarrh, Ischias, Nephritis, auch allen
möglichen muskulären und endokarditischen Herazffektionen. Setzt man derartige
Patienten wieder der Möglichkeit aus, mit den gleichen schädigenden ätiologischen
Faktoren zusammenzutreffen (Durchnässung und Überanstrengung beim Marsch,
Infekte u. a.), so rezidiviert auch der Kranke dieser Art, der Organiker. Nur vom
Neurotiker verlangt man, in Anerkennung der Gefahr, die das Anwachsen dieses
'N
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Prinzipien und Erfolge der aktiven Therapie bei Neurosen.
279
St amm es bedeutet, in Überschätzung aber seiner militärischen Ausnutzungsmöglich¬
keit, daß er rezidiv-frei geheilt werde. Nirgendwo ist man so kritisch, so
skeptisch, so nervös-befangen und anspruchsvoll in der Beurteilung
eines Gesundheitszustandes, wie beim Hysteriker. Die seelischen Schä¬
digungen sind einschneidender, aber sie sind auch nicht seltener, als die Schäden
durch Infektion, Erkältungen, körperliche Überanstrengung. Die einen Faktoren
werden wohl für die Rheumatiker, die Herzkranken, .Lungenkranken u. a. ähn¬
liche Bedeutung haben wie die psychischen Einflüsse für die Nervösen. Für die
einen wie für die andern droht im Bereich der ätiologischen Schädigungen das
Rezidiv.
Nun ist in der Tat der objektive Nachweis der Neurose nicht so einfach wie
bei inn erlich Kranken oder dem Organiker. Und man könnte sagen: auch die
Lust an der Neurose, das Hineinleben in diesem ganzen diffizilen Mechanismus
ist nicht so ganz wegzudisputieren, die Flucht in die Krankheit wird immer
wieder einsetzen, wenn ein anderer Weg, ängstlicher, erregender, affektbetonter
Situationen Herr zu werden, versperrt ist. Aber wenn von hundert oder tausend
Menschen, die derselben Gefahr, derselben Strapaze, denselben Einflüssen körper¬
licher und seelischer Art ausgesetzt sind, nach einem gleichen äußeren Schreckreiz
nur einer oder zwei mit den Erscheinungen eines hysterischen Stotterns, eines
generalisierten Tremors, einer Paraplegie der Beine antworten, so erweisen sich
doch diese ein oder zwei Menschen als anders geartet, als anders disponiert, als
hysteriebereiter, denn Hundert andere, eben durch die Schnelligkeit und Sicherheit
ihrer krankhaften Reaktion. Das Gros dieser Leute ist erfahrungsgemäß stark
belastet, von Haus aus seelisch oder bezüglich der allgemeinen Nervenkraft minder¬
wertig. Der kleinere Teil ist gesund und nur durch starke innere Erlebnisse für
die Entstehung und Aufnahme psychogener Störungen vorbereitet. Solche mehr
oder weniger mit dem Individuum verwachsene, angeborene oder erworbene Prädis¬
position kann natürlich auch die aktive Therapie nicht beseitigen. Kein Ein¬
sichtiger verlangt die Garantie des Gesundbleibens beim „geheilten“ Ulcus ventriculi,
beim Lungeninfarkt, bei der Polyarthritis. Man soll den Bogen der Erwartung
auch dem Neurotiker gegenüber nicht überspannen. Wir entlassen ihn nach
dem Erfolg der aktiven Therapie auch nur mit einer Narbe, einer Narbe im Seeli¬
schen, im Gehirn, in der Erinnerung. Ist das ein Defekt der Heilung, so gibt es
eben in der Medizin überhaupt noch keine Heilung.
Durch die energische, dem Gedanken- und Gefühlskreis des Soldaten an¬
gepaßte aktive Behandlung zwingen wir den Kranken beredter und nachdrücklicher
unseren Willen auf, als durch die hypnotische Suggestion. Seine Ausdrucksbe¬
wegungen werden einer Revision unterzogen, seine körperlichen Leistungen kon¬
trolliert, schiedsgerichtlich abgeurteilt und korrigiert, der Weg der Entstehung
einer Neurose wird rückwärts verfolgt unter Zuhilfenahme nicht militärischer, aber
aus soldatischem Geist geborener Erziehungsmethoden. Befehl und Ausführung
des Befehls folgen sich hart aufeinander, wenn nötig unter Anbahnung entwöhnter
Willensleistungen durch den Schmerz. Dabei wird die Übung nicht zum befehls¬
automatischen Moment, wie bei der Hypnose, sondern motiviert und deutlich ge¬
macht durch den Wegfall von Hemmungen, unter vollem Bewußtsein undganzer Ver¬
antwortlichkeit des zu Heilenden. Er erlebt die Heilung, erlebt den Genuß
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
280
Kurt Singer
des Gesundwerdens. Strom, Schmerz, Gymnastik, Exerzieren, Arzt, Spritze und
Wort werden Vehikel. Der Heilung ist die aktive Mitarbeit des Soldaten als
Grundbedingung vorgestellt. Der Schock bei der ersten faradischen Muskelreizung
überwiegt den vorher übermäßig wirksamen Schmerz; der Kranke, der aus Ge¬
wohnheit, aus Erinnerung an Unlustgefühle, aus der Erkenntnis heraus, daß sein
bewegtes Bein mehr Schmerz erzeugt, als das ruhende, der aus all diesen wohl
bewußten Momenten heraus sein Bein fixiert und schont, bewegt es ohne Hemmung
wieder, wenn ihn die tetanisch'e Kontraktion durch den Strom davon überzeugt
hat, daß die Anspannung, das Durchdrücken des Knies, die Mobilisierung der
Gelenke ohne Schaden vor sich geht. Der Zitternde erkennt die Möglichkeit,
daß seinem Schütteln durch eine äußere Macht schnell beizukommen ist; diese
Erkenntnis, zusammen mit der Furcht vor einer Fortsetzung der elektrischen
Prozedur erzwingt die subjektiv erhöhte Anspannung aller verloren gegangenen,
in periphere Gebiete planlos abgeirrten Energie. Nicht viel anders ist es bei der
Neuerweckung von Leistungen der Sinneswerkzeuge. Bei Auge und Ohr sind es
die ersten, scharfen Reize, die eine dem Sinnesorgan spezifisch zukommende Emp¬
findung (Helligkeit, Blitz, Sausen, Geräusch) hervorrufen und dadurch die Kette
der bisherigen defekten Empfindungen zerreißen. Bei der Heilung von Sprach¬
störungen (Aphonie, Mutismus) bewirkt die suggestive Vorbereitung zunächst eine
erhöhte Einstellung auf den motorischen Stimmbänderakt. Die erste Phonation
ist nichts als ein Schrei der Abwehr. Der aber genügt fast stets, um an ihn die
Glieder des Vokal- und Wörtersprechens schnell anzuknüpfen. Es wirkt dabei
sehr anregsam, wenn der Arzt seine eigene Erregung nicht verbirgt, d. h. die
freudige Erregung beim Eintritt des „Wunders“. Auch eine gewisse überrumpelnde
Schnelligkeit des Vorsprechens ist von Nutzen, eine Gehobenheit des Phonierens;
ich habe immer das Gefühl gehabt, als käme aus dem Kranken das Echo des
Heilenden zurück. Und der Vorwurf eines gewissen jugendlichen Schneids oder
kurpfuscherischer Methodik bei der Heilung verschlägt nichts gegenüber der
Promptheit und Sicherheit der Heilresultate; der Arzt, der bei aller Kenntnis
des Wie der Heilung seinem wissenschaftlichen Wortschatz, seiner rein
ärztlichen Schulbildung Opfer abverlangt, um Kranke gesund zu machen,
ist viel weniger ein Kurpfuscher als der Arzt, der auf der Höhe der
Lehrmeinungen stehend, mit Salben und Mixturen, mit Zureden und
Analysieren, mit Beobachtung und Erziehung nicht zum Ziel kommt.
Es ist auffallend, daß wir unter den hysterisch Stummen, Gelähmten,
Zitternden, nicht öfter Menschen treffen, die wirklich leidend sind, d. h. denen
die Beschwerlichkeit und soziale Bedrückung durch ihre Krankheitssymptome an
den Augen, an dem Gesamtbild ihrer seelischen Verfassung abzulesen ist. Gewiß
treffen wir auch in Neurotiker-Abteilungen auf Depressive, Hypochondrische, im
ganzen seelisch mitgenommene, ramponierte Individuen; aber diese bieten eben
das seelische Stimmungsbild als besonderen Krankheitszustand dar, gegen den eine
aktive Therapie gar nichts verschlagen kann, ein Bild, das sich’s mit der gemüt¬
lichen Veränderung genug sein läßt. Im übrigen kann man ein Zurücktreten
der permanenten psychischen Alteration beobachten, entsprechend der Zunahme
der körperlichen Erscheinungen. Hysteriker mit Massensymptomen schwersten
Formats sind oft in ihrem Wesen gleichmäßiger, psychisch ausgeglichener, indo-
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Prinzipien und Erfolge der aktiven Therapie bei Neurosen.
281
lenter, als solche mit einem einzigen, kräftig vorgetriebenen Symptom. Am nach¬
drücklichsten schien mir immer der leidende, unzufriedene, schwermütige Zustand
im Gesicht der Zitterer ausgesprochen, während z. B. bei Gehstörung, Enuresis,
Armlähmung sehr oft ein lebhaftes, ja auch heiteres Temperament der Leute nicht
zu tangieren schien. Doch ist auch das sicher keine Regel; manchem Bettnässer
z. B. ist auch sein Leiden entsprechend der Bedeutung in sozialer und erwerb-
licher Beziehung voll und ganz zu Bewußtsein gekommen. Sowohl mündliche
Berichte, wie schriftlicher Dank und die Wandlung der Gesichtszüge nach Be¬
seitigung des Zustandes, lassen diesen doch rückschauend als vom Patienten sehr
quälend empfundenen erkennen. Ein gut Teil der völlig Gleichgültigen zeigte
auch deutliche Zeichen der Degeneration oder geistigen Minderwertigkeit. Jeden¬
falls muß auch der Erfahrene mit einer in regelmäßigem Umgang mit Neurotikern
gern (und mit Erfolg) geübten Diagnostik der Mimik vorsichtig sein. Denn es
würde aus der Disrepanz zwischen Schwere des objektiven Befundes und Mangel
an adäquaten seelischen Veränderungen gar zu häufig der Schluß gezogen werden,
daß hier krasse Übertreibung oder Simulation vorliege. Bei der Schwierigkeit,
die physiologischen Unterstreichungen der Hysteriker von dem zweckvoll und mit
Ziel durchgeführten bewußten Übertreibungen der mehr oder weniger Gesunden
zu unterscheiden, dürfte die nicht zu unterschätzende Beobachtung der Mimik
jedenfalls nur eins der vielen differential-diagnostischen Hilfsmittel, und nicht
einmal das wertvollste sein. Auch Simulationsverdächtige zeigen nach der Heilung
eine Aufhellung ihres seelischen Habitus, zeigen sich durch Geste, Wort und Be¬
tätigung, die keinen Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit lassen, oft so verwandelt,
daß man noch nachträglich zu der. Annahme gezwungen ist, hier sei ein wirklicher
Krankheitsherd zur Freude des Patienten und des Arztes beseitigt.-
Jede Methode, jeder Heilplan, jedes neue und alte Mittel haben und er¬
werben ihre Berechtigung durch die nachweislichen Erfolge. Diese will ich im
folgenden für unsere aktive Therapie noch kurz nachweisen, wobei aus dienstlichen
Gründen allerdings von zahlenmäßigen Belegen an dieser Stelle abgesehen werden
muß. Es soll nicht bezweifelt werden, daß auch auf anderem Wege die gleichen
Resultate erzielt werden, und daß sich Stimmen und Bedenken gegen eine Ver¬
allgemeinerung, sowie gegen manche unumgängliche Härten der von uns geübten
Methode erheben könnten. Doch kommen sie gegenüber den Erfolgen gar nicht
in Betracht. Prinzipielle Bedenken gegen andere Heilverfahren gerade bei den
Soldaten habe ich oben vorgebracht.
Die Art und Raschheit des Erfolges bei der aktiven Therapie bringt zu¬
nächst eine Veränderung der Aufnahme- und Entlassungsfrequenz der Patienten
mit sich. Schon im ersten Vierteljahr, da wir aktive Therapie trieben, ist das
deutlich und sicher, späterhin noch nachdrücklicher in Erscheinung getreten. Es
prägt sich auch dadurch ein großer Unterschied gegen früher aus, daß ein An¬
wachsen der Dienstfähigkeit (in irgendwelchem Grade) aller unserer Neurotiker
von 59 °/ 0 auf 79 °/ 0 zu konstatieren war.
Einen besonderen Vorteil bietet dabei allerdings die jetzt generell geübte
Methode, daß die von uns geheilten Neurotiker zur Arbeitstherapie und Einführung
in ihren Beruf dem Kurhaus St. Georg (Hermsdorf) oder (seltene^) dem Lazarett
Lankwitz überwiesen werden, wo derselbe therapeutische Geist herrscht, wie in
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
282
Kurt Singer
. - .
unserem Lazarett 1 ). Selbstverständlich fallen die Verlegungen in ein anderes La¬
zarett zum Zweck der Behandlung (wie früher nach Hornberg) vollkommen fort.
Unter den wenigen als kr. u. Entlassenen befindet sich kaum ein funktionell
Kranker. Höchstens bei schwer degenerativen Psychopathen braucht man von
dieser Regel abzugehen, der Durchschnitts-Hysteriker ist zumindest in seinem
Beruf arbeitsverwendungsfähig nach Beseitigung seiner Krankheitssymptome.
Unsere Erfahrungen über den Nutzen der Kriegs Verwendung bei den Neurotikern
sind noch zu gering, als daß wir uns heute schon auf das Experiment einlassen
könnten, die Leute gar zu häufig als k. v. zu entlassen. Man züchtigt damit nur
(nach theoretischer Überlegung und gewissen Heimatbeobachtungen) die Rück¬
fälligen und füllt die Lazarette. Sicher soll der Hysteriker nicht eine Prämie er¬
halten für das Sichgehenlassen und die bewußten Übertreibungen, die oft genug
unterlaufen. Aber der Dienst, der dem Vaterland durch Zuführung von
militärischer Arbeitskraft geliefert wird, ist größer, wenn der ge¬
heilte Neurotiker an einen Platz hinter der Front gestellt wird, den
er voll auszufüllen imstande ist, als wenn er in der Front zu einem
unliebsamen Kameraden, schlappen Soldaten, zu einem dem Arzt und
dem Truppenführer zur Last fallenden Nachläufer gedrillt wird. Die
schlechte psychische Atmosphäre, die ein einziger Hysteriker mit Anfällen,
Stimmungsschwankungen, Depression, zu verbreiten imstande ist, kann unheil¬
voller wirken und durch Ansteckung gefährlicher werden, als der Verlust von
einem Dutzend gesunder Soldaten. Solange der echte Hysteriker als Kranker
angesehen wird, solange taugt er gewöhnlich nicht zum Frontdienst, oder doch
erst nach einer etappenweis durchgeführten Vorbereitung. Diese allein gehört
zunächst zum Wirkungsbereich des Nervenarztes. Durch Heilung der Symptome,
durch Turnen, psychische Abhärtung, allgemein-soldatische Erziehung, Arbeits¬
dienst führen wir allmählich dem Neurotiker die Energien zu, die ihn befähigen,
beruflichen oder Gamisondienst zu leisten. Von hier führt der Weg aufwärts zu
dem körperlich und nach Seite der gemütlichen Alteration wesentlich angreifenderen
Frontdienst. Ohne zahlenmäßige Beweise geben zu können, sind wir überzeugt,
daß viele der von uns als a. v. H. oder g. v. E. entlassenen Neurotiker nach
rückfallos verstrichener Dienstzeit in dor Garnison auch wieder die nötigen Kräfte
für den Felddienst in sich aufgespeichert haben und zur rechten Zeit in An¬
wendung bringen. Nur da, wo uns die Übertreibungen über das Maß des Physio¬
logischen sichtlich hinauszugehen scheinen, wo die Krankheitserscheinungen einen
stark artefiziell gefärbten Beigeschmack haben, entlassen wir die Leute sofort aus
dem Lazarett als k. v. Diese k. v. Entlassungen sind aus erzieherischen Gründen
in Neurotikerlazaretten ab und zu durchaus am Platz. Die Aufnahme auf der
Station soll nicht zur stillschweigend anerkannten Befreiung von irgend¬
wie möglichen militärischen Dienstleistungen werden.
Der Fortschritt, den die generelle Einführung der aktiven Therapie bedeutet,
ist aber besonders groß, w r enn w r ir nicht unsere eigenen früheren Beobachtungen
in Anrechnung ziehen (wo doch auch bereits energisch behandelt wmrde), sondern
die Beobachtungen aus anderen Lazaretten zur Hilfe nehmen. Da ist es denn
*) Reserve-Lazarett „Nord“, Berlin.
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Prinzipien und Erfolge der aktiven Therapie bei Neurosen.
283
vor allem die Schnelligkeit der Heilung und die Kürze des Lazarettsaufenthalts,
die schwerwiegend als Erfolge zu buchen sind. Da wir die Soldaten durch¬
schnittlich zur Vorbereitung, und damit das Heilmilieu ihnen in Fleisch und Blut *
übergehe (Erzählungen der Kameraden, Beobachtung von Heilungen), 2 bis 3 Tage
im Bett liegen lassen, bevor die Kur beginnt, so brauchen 250 Kranke bis zur
Heilung insgesamt 500 Tage im Lazarett zu sein. Wenn durchschnittlich hinterher
noch 8 bis 14 Tage weiter beobachtet wird, so wäre das für 250 Leute ein
Gesamtaufenthalt im Lazarett von höchstens 3500 Tagen = 117 Monaten.
Dieselben 250 ersten Kranken unserer aktiven Therapie hatten sich, bevor sie
zu uns kamen, in anderen Lazaretten insgesamt
29 160 Tage = 973 Monate
aufgehalten. Dabei sind in dieser Zeit nicht eingeschlossen die Soldaten, bei
denen die äußerlich sichtbaren Erscheinungen erst 2—3 Wochen bestanden, und
ebenso diejenigen nicht, bei denen schon eine „Heilung“ eingetreten war und*die
dann — nach längerer Dienstzeit — wieder rückfällig geworden waren. Diese
Zahl und diese Riesendifferenz allein spricht mehr und deutlicher als jede
theoretische Untersuchung.
Als weitere, besonders eingreifende Änderung gegen frühere Verfahren, die
nicht mit vollständiger und nicht mit schneller Beseitigung der Krankheitssymptome
endeten, ist die Änderung der Rentensätze und die neue Einstellung in der
Frage der Dienstbeschädigung zu buchen. Eine volle Dienstbeschädigung
nehmen wir nur als vorliegend an, wenn auch der symptomfrei Gemachte noch
psychische Veränderungen, also auch Veränderungen in seinem Verhalten der
Umwelt, den Anforderungen des Lebens und der sozialen Betätigung gegenüber
zeigt, die ihn als einen wirklich Geschädigten erscheinen lassen. Gewöhnlich
ist bei von Haus aus Gesunden mit der Befreiung von der Symptomreihe auch
der Status quo ante wiederhergestellt, sowohl bezüglich der körperlichen und
nervösen Gesundheit, als auch hinsichtlich der Leistungsfähigkeit. Wir sind
gerade nach den Erfahrungen des Kriegslebens nicht (oder nicht mehr) berechtigt,
anzunehmen, daß die einmalige in Form des hysterischen Krankheitsbildes
auf getretene psychogene Reaktion bereits als Ausdruck einer psychopathischen
Belastung anzusehen sei. Wie gesagt wurde (Hoche), ist in diesem Kriege
jeder Mensch, auch der unbelastete und robusteste, hysteriefähig. Wer
körperlich und seelisch gesund war und durch Bombenwurf oder Granat¬
explosion einen generalisierten Tremor bekam, ist, nachdem der Tremor beseitigt
wurde, wieder als gesund anzusehen, wofern die Aufgaben, die er fernerhin zu
erfüllen hat, seiner allgemeinen körperlichen Konstitution angemessen sind. Dies
ist aber fast durchweg der Fall für die als arbeitsverwendungsfähig zu Entlassenden.
Andererseits sind fast alle Soldaten, die auch nach der Heilung in dem alt¬
gewohnten oder doch ähnlich gearteten Arbeitsmilieu wieder zusammenbrechen.
von Haus aus schwächliche, degenerierte, psychisch minderwertige, kranke Individuen.
In diesen Fällen kann ebenfalls der erste Schock im Kriegsdienst nur als eine Ver¬
schlimmerung, nicht aber als volle D. B. angesehen werden. Die bislang so häufig
verliehenen Rentensätze von 50 bis 100 °/ 0 sind daher sämtlich zu streichen
für die von Haus aus Gesunden, sind auf ein wesentlich geringeres Maß
Digitized by
Gck igle
Original frn-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
284
Kart Singer
(kaum je über 30 °/ 0 ) herabzusetzen bei den schwer Belasteten» Es kommt
ja vor, und kam besonders in der Begeisterung der ersten Kriegsmonate häufig vor,
daß die Psychopathen (und andere Grenzfälle der Psychosen, wie die Cyclothymen,
auch wohl Hebephrene) in völliger Verkennung ihrer psychischen und körperlichen
Leistungsfähigkeit sich zur Front drängten, dann Monate hindurch tapfer aus¬
hielten, um bei einem besonderen seelisch schädigenden Anlaß kläglich zusammen¬
zubrechen. Es sind die Leute, die auch im Frieden die Sanatorien bevölkerten, in
Anstalten für Krampfkranke lagen, die Fürsorge-Instituten besuchten usw. Wo die
leider oft mangelhafte Anamnese solche Daten aufdeckt, ist auch die D. B.-Frage
meist negativ oder doch nur im Sinne einer Verschlimmerung zu beantworten, und
auch diese muß meist als durch die Symptombeseitigung erledigt angesehen werden.
So kommt es, daß wir bei unseren Entlassungen in nur sehr seltenen Fällen eine
Rente von mehr als 10 °/ 0 zugestehen konnten; bei allen anderen wurde die Er¬
werbsfähigkeit nach Prüfung als normal oder als unter 10 °/ 0 anerkannt,
woftiit sich die Frage der D. B. von selbst löste. Der Wille zum Arbeiten und vor
allem zum Gesundwerden war im allgemeinen kein schlechter, er wuchs mit der Sicht¬
barkeit der Heilungen. Gewiß fehlt es nicht an Widerspenstigen, an- Auf gehetzten,
an Fortläufern, aber sie sind nicht zahlreicher, als die spontan, ohne Behandlung,
lediglich durch das Heilmilieu gesund Gewordenen. Die Zahl der letzteren betrug
innerhalb 3 Monate 10. Bei den Aufbegehrenden, Erregten, sich Sträubenden ist
die objektive Beobachtung interessant und charakteristisch, daß sie nach der
Heilung oft die Willigsten, Dankbarsten sind. Gerade diese sind es oft, die dem
behandelnden Arzt nach der Kur dankbar die Hand drücken und den Heilbazillus
auf der Station zur Weiterentwicklung bringen. Die ehrliche Freude über die
Heilung, auch wenn eine kleine Rente dabei verloren ging (von der sie „doch
nicht leben und die Familie ernähren“ können), ist mündlich und schriftlich uns
Ärzten der Station dutzendfach ausgesprochen worden.
Mißerfolge sind so gut wie überhaupt nicht zu verzeichnen, Rückfälle während
unserer Beobachtung sehr selten, ebenso w'ährend der Einführung in die Arbeit
(die 6 bis 8 Wochen dauert).
Die hysterischen Anfälle sind unserer aktiven Therapie am schlechtesten zu¬
gängig, so daß wir hier sogar von der üblichen Methode jetzt übergegangen sind
zu dem von den Franzosen besonders empfohlenen Versuch mit Apomorphin-In¬
jektionen. Die Versuche sind noch im Gange. Jedenfalls sind aber die Anfälle
auch mit aktiver Therapie in ihrer Häufigkeit gut zu beeinflussen, Rückfälle bleiben
jedoch nicht aus. Von 23 Bettnässern wurden während der Beobachtung 9
(= 39 °/ 0 ) rückfällig; bis auf einen blieben dann aber alle rezidiv-frei und auch
Hermsdorf meldet keine Wiedererkrankungen. Merkwürdigerweise war besonders
die erste Nacht nach der Behandlung noch unbeeinflußt, die darauffolgenden dann
mit oder ohne neue Therapie gut. Auch bei diesen kombinieren wir jetzt Fara-
disation Apomorphin-Injektionen.
Von 16 Soldaten mit hysterischen Anfällen würden während der Beobachtung
6 (also 33°/ 0 ) rückfällig, verloren dann aber auch für die Hermsdorfer Zeit ihre
Anfälle.
Für alle anderen psychogenen Erkrankungen können wir uns resü¬
mierend sehr kurz fassen; sie kamen bei der ersten Sitzung zur Radikal-Heilung
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Prinzipien und Erfolge der aktiven Therapie bei Neurosen
285
und blieben bis zum Abschluß der Beobachtung (ca. 3 Monate) rezidivfrei.
Diese Fälle rekrutierten sich aus folgenden Gruppen: Lähmung an einer Ex-,
tremität, generalisierter oder lokalisierter Tremor, Gesichts und Schulter-Tic, Geh¬
störung, Pseudo-Ischias (bei der auch die Schmerzen beseitigt wurden), Aphonie,
Astasie und Abasie; Taubheit, Mutismus, Schiefhaltung der Wirbelsäule und des
Beins, Stottern, Pseudo-Demenz,' nervöses Erbrechen, Kontrakturen.
Wir haben uns bei Einleitung der Therapie niemals durch die wirkliche oder
angebliche Riesendauer der Erkrankung schrecken lassen. Ein Hand-Tremor, der
nachweislich 40 Jahre bestand, wurde in 5 Minuten restlos beseitigt. Ebenso
störte uns im allgemeinen nicht das Vorliegen einer organischen Erkrankung; gerade
bei den Rückenmarkstörungen wird ein stärkerer psychogener Einschlag leicht
übersehen. Bei einer spastischen Parese der Beine wurde die nach dem Gesamt-
Aspekt als hysterisch gedeutete Gehstörung rasch beseitigt, bei einem Tabiker der
Hände-Tremor.
Zum definitiven Abschluß sind unsere Beobachtungen und Erfahrungen natürlich
noch nicht, gekommen; dafür fehlt die monatelange Kontrolle der Entlassenen.
Eine gewisse Kontrolle suchen wir dadurch auszuüben, daß wir in den Entlassungs¬
befunden der Geheilten vermerken, die Truppe, Sammelstelle, das Lazarett usw.
solle beim leisesten Rückfall den Kranken zur nochmaligen Behandlung zurücksenden.
In den wenigen (5) Fällen, in denen dies geschah, war die hysterische Erscheinung
bei der Einlieferung wieder verschwunden. Doch ist von bindenden Schlüssen
(besonders bez. der Krämpfe und der Enuresis) solange nicht die Rede, als bis diese
von uns gestellte Forderung auch regelmäßig erfüllt wird und evtl, auch eine
Kontrolle der gänzlich aus dem Militärdienst Entlassenen möglich ist. Nach den
in Hornberg gemachten Erfahrungen zu urteilen, ist das Resultat auch dann ein
hervorragendes.
Durch die „aktive Therapie“ ist jedenfalls dem Überwuchern der Neurotiker-
Stämme für die Kriegszeit und — hoffentlich — auch für die Zukunft der Boden
abgegraben. Und damit scheint mir ein vaterländischer und staatsökonomischer
Dienst von ^unsagbarer Wirkungskraft geleistet, besonders nach den kümmerlichen
Aussichten der alten und jetzt doch auch schon veralteten Lehre von den „trau¬
matischen Neurosen“.
p
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
286
Ernst Tobias
X.
Ober Brachialgien und ihre Behandlung nebst
Betrachtungen zur ,»Neuralgies-Diagnose.
Von •
Dr. Ernst Tobias
in Berlin.
Unter den schwierigen und unklaren Problemen, welche die medizinische
Wissenschaft beschäftigen, nehmen Rheumatismus und Neuralgie eine be¬
sondere Stellung ein. Nachdem Jahrzehnte hindurch Wissenschaft und Klinik
über den Begriff „Rheumatismus“ oft gedankenlos hinweggegangen sind, hat in
den letzten Jahren die Kritik vor allem in der Frage des „Muskelrheumatismus“'
eingesetzt; wenn dabei allerdings die eingehenden und gedankenreichen Dis¬
kussionen, an denen vornehmlich Adolph Schmidt und Goldscheider beteiligt
waren, zu endgültiger Stellungnahme noch nicht führen konnten, so bleibt das Ver¬
dienst, den Stein ins Rollen gebracht zu haben, schon darum anerkennungswert,
weil es nicht wünschenswert erscheint, daß unsere exakte Wissenschaft so oft
mit einem Faktor arbeitet, der in der Mehrzahl der Fälle oder häufig nichts anderes
bedeutet wie eine Umgehung des Eingeständnisses: ignoramus.
Ganz ähnlich verhält es sich mit der Neuralgie oder mit dem, was wir im
medizinischen Sprachgebrauch Neuralgie zu nennen pflegen. Die Diagnose
„Neuralgie“ wird überaus häufig gestellt; oft wird Neuralgie angenommen, wenn
über den Charakter von Schmerzen keine Klarheit gewonnen werden kann. In
vielen Fällen bedeutet die Diagnose nur, daß die Diagnose unklar ist.
Unter Neuralgie, unter einem neuralgischen Schmerz verstehen wir einen
Schmerz von ganz bestimmter Eigenart. Charakteristisch ist vor allem, daß der
Schmerz nicht immer vorhanden ist, daß er anfallsweise und in Exazerbationen
auftritt, daß Schmerzanfälle und schmerzfreie Zeiten in unregelmäßigen Inter¬
vallen abwechseln. Der neuralgische Schmerz verläuft für gewöhnlich in be¬
stimmten Nervenbahnen, pflegt aber, entsprechend den weitverzweigten Endbahnen
und Anastomosen, sich meist auf größere und umfangreichere Bezirke auszudehnen.
Die Frage, die man sich angesichts dieser Defination des neuralgischen
Schmerzes zu stellen hat, ist die, ob die Feststellung eitler Neuralgie eine
Diagnose bedeutet. Gibt es eine selbständige, idiopathische Neuralgie
als Krankheit für sich oder ist die Neuralgie oft oder immer nur ein
Symptom irgendeines Krankheitszustandes?
Die Bedeutung dieser Frage leuchtet ein. Von ihrer Beantwortung hängt
ab, ob wir berechtigt sind, so häufig wie üblich die Diagnose „Neuralgie“ zu
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Über Brachialgien u. ihre Behandlung nebst Betrachtungen zur „Neuralgie a -Diagnose. 287
stellen, Ischias-, Trigeminus-, Interkostal-, Brachialneuralgie usw. zu dia¬
gnostizieren.
Die Frage hat, wenn auch nicht oft allgemein, so doch für bestimmte Einzel¬
gebiete wiederholt Neurologen beschäftigt. Oppenheim berührt sie an einzelnen
Stellen seines Lehrbuchs; W. Alexander geht auf sie näher ein in seinen
Arbeiten über die Trigeminusneuralgie x ), die Ischias-Fehldiagnosen l 2 ) usw., ich selbst
habe mich mit ihr bei Besprechung der „Interkostalneuralgien“ 3 ) befaßt. . . Eine
Änderung ist nicht eingetreten; nach wie vor steht die Häufigkeit der „Neuralgie“-
Diagnose im Widerspruch zu den Befunden der Wirklichkeit.
Den typischen Verlauf einer Neuralgie, wie wir ihn eingangs skizziert haben,
sieht man, worauf besonders W. Alexander hinweist, beim lanzinierenden
Schmerz der Tabiker und bei der Trigeminusneuralgie.
Bei der Tabes dorsalis handelt es sich um „neuralgiforme“ Schmerzen, welche
die neurologische Spezialwissenschaft streng von der Neuralgie trennt. Wie bei
der Neuritis haben wir bei den tabischen lanzinierenden Schmerzen objektive
Veränderungen, die sich bei der Tabes im Zentralnervensystem, in den Hinter¬
strängen des Eückenmarkes, abspielen. Eine besondere, allerdings mehr als strittige
Theorie denkt an die Möglichkeit eines peripherischen Ursprungs der Tabes; danach
können Erkrankungen der peripheren Nerven eine Affektion der Spinalganglien
und selbst der hinteren Wurzeln und Hinterstränge zur Folge haben 4 ). Dem Ge¬
danken, daß der Schmerz bei Neuralgien von peripheren Bedingungen abhängig
ist, hat in konsequentester Weise bekanntlich Cornelius Ausdruck gegeben; er
ist auf energischen Widerstand gestoßen. Gibt man auch zu, daß mit der von
ihm empfohlenen Druckpunktmassage zeitweilig Erfolge zu erzielen sind, so wird
seine theoretische Begründung als im schärfsten Widersprach zu allen anerkannten
Anschauungen stehend wohl fast ausnahmslos abgelehnt.
Schwieriger ist die Beurteilung der Trigeminusneuralgien. Um es vor¬
auszuschicken: die Trigeminusneuralgien sind — vielleicht neben den Okzi¬
pitalneuralgien — die einzigen Neuralgien, welche in Auftreten und Verlauf fast
immer genau dem in der Definition charakterisierten Bilde, entsprechen. In
meinem eigenen Material handelte es sich einige Male — einmal bei einer Frau —
um Tabes; die Differentialdiagnose dürfte kaum Schwierigkeiten bereiten. In
wenigen anderen Fällen bestanden hysteroneurasthenische — meist doppelseitige! —
neuralgiforme Beschwerden. Bis auf diese nicht sehr zahlreichen Ausnahmen
konnte an der Diagnose Neuralgie kein Zweifel bestehen. Was Schwierigkeiten
bereitet, das ist die Deutung und die Beantwortung der Frage, ob es sich wirk¬
lich um eine idiopathische Neuralgie handelt. Eine klare und einwandfreie Ant¬
wort auf diese Frage zu geben, dürfte kaum möglich sein. Haben wir es mit
einem Diabetiker oder z. B. mit einem Malariakranken zu tun, so kann die Frage
.einfach liegen; für die vielen Fälle, in denen jede Ätiologie fehlt, bereitet die
Auslegung größere Schwierigkeiten und muß letzten Endes überhaupt in Zweifel
l ) W. Alexander, Was muß der Zahnarzt von der Trigeminusneuralgie wissen? Korre-
spondenzbl. für Zahnärzte. 1914. Januar.
*) W. Alexander, Fehldiagnosen bei Ischias. B. kl. W. 1912. Nr. 18.
3 ) E. Tobias, Zur Frage der idiopathischen Intercostalneuralgie. B. kl. W. 1914. Nr. 18.
4 ) Oppenheim, Lehrbuch der Nervenkrankheiten, VI. Auflage. Bd. 1. S. 202.
Digitized
Google
/
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
288
Ernst Tobias
bleiben. Bei ihnen ist der Theorie freiester Spielraum gelassen, indem ohne
weiteres zugegeben werden muß, daß latente Stoffe im Organismus schlummern
können, die zur Zeit keine anderen Störungen machen, indem andererseits aber
auch die Anschauung Berechtigung hat, daß ein allgemein negativer Befund uns
nicht auf das spekulative Gebiet von latenten Krankheiten führen soll, von
denen — außer der Neuralgie — jedes erkennbare Zeichen zur Zeit und vielleicht
für immer fehlt.
In vielen Fällen von sogenannten Neuralgien sieht man dann oft auch den
typischen Verlauf, wo klinisch die Diagnose hinfällig ist und wo es sich mit
Sicherheit um eine Neuritis handelt. Die Momente, welche eine Neuritis und
eine Neuralgie voneinander unterscheiden, sind bekannt (für Neuritis sprechen
mehr kontinuierliche Schmerzen, Druckempfindlichkeit der Nerven, Lähmungs¬
erscheinungen, Atrophie, Fehlen bzw. Abschwächung von Reflexen, Anästhesien,
Parästhesien, trophische Störungen — für Neuralgie das Fehlen dieser Störungen
sowie die skizzierte Art des Schmerzes); aber die scharfe Unterscheidung in dem
Charakter der Schmerzempfindung trügt oft. Wiederholt sieht man den charakte¬
ristischen neuralgischen Schmerz in Fällen, welche durch Sensibilitätsstörungen,
Atrophie, Reflexanomalien u. dgl. als Neuritis angesprochen werden müssen.
Die erste Forderung für die Diagnose Neuralgie ist die sichere
Ausschließung jedes materiellen Leidens.
Sehen wir von der Trigeminus- und von der Okzipitalneuralgie ab, so sollte
jede Erkrankung, welche mit typischen neuralgischen Anfällen verläuft, zunächst
den Verdacht einer Tabes dorsalis erwecken und daraufhin untersucht werden.
Wie ein immer wieder gehegter Verdacht schließlich auf die rechte Spur leiten
kann, lehrt ein Beispiel eigener Beobachtung:
P. G., 35 Jahre alt, leidet an typischen neuralgischen Schmerzen von außerordent¬
licher Intensität im rechten Bein; nach Abklingen treten die gleichen Schmerzen auch im
linken Bein auf. Im Verlauf der Beobachtung besteht die „Ischias“ bald rechts, bald
links, nie zu gleicher Zeit in beiden Beinen. Objektiver Befund negativ — Reflexe,
Pupillenreaktion normal, keinerlei Ischiassymptome. Die Anamnese ergibt syphilitische
Infektion. Mehrfache Blutuntersuchungen auf Wassermannsche Reaktion hatten trotz
vieler spezifischer Behandlungen immer ein stark positives Ergebnis. Im Verlauf der
Beobachtung stellten sich mit der Zeit eine Reihe „kleinerer Nebensymptome“ wie Abadie,
Biernacki u. dgl. ein, die so unzweideutig waren, das an der Diagnose „Tabes incipiens“
kein Zweifel mehr sein konnte. Den Verdacht, daß hinter der „Ischias“ sich ein organisches
Leiden verberge, mußte von vornherein neben der eigenartigen Neuralgie auch die Doppel-
seitigkeit der Beschwerden erwecken.
Wie oft pflegt man sich in derartigen Fällen mit Diagnosen wie „Neuralgia
ischiadica luetica“ abzufinden! Wie oft kombiniert man Diagnosen und nimmt
Ursache und Wirkung als gegeben, ohne weitere Beweise zu haben als einen
doppelten Befund! Die Annahme einer syphilitischen—gichtischen—tuberkulösen usw.
Neuralgie steht, worauf besonders auch W. Alexander wiederholt hingewiesen
hat, auf so unsicheren Füßen, daß man einen Zusammenhang nur auf Grund
zwingender Beweise annehmen sollte, was allerdings oft nur nach der Behandlung
möglich scheint.
Es besteht kein Zweifel, daß „die Krankheit Neuralgie“ viel
seltener ist als sie diagnostiziert wird, und daß in der Mehrzahl der
DYgitizsa by
Gougle
Original fram
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Über Brachialgien u. ihre Behandlung nebst Betrachtungen zur ff Neuralgie“-Diagnose. 289
Fälle die Neuralgie nur ein Symptom eines bestehenden lokalen oder
allgemeinen Krankheitszustandes darstellt. Wir können Oppenheim nur
beipflichten, wenn er, allerdings vornehmlich bei einer bestimmten Krankheits¬
gruppe, bei den „Brachialneuralgien“, der Krankheitsbezeichnung entgegentritt und
— in diesem Falle die Brachial neuralgien— durch Brachialgien ersetzt wissen will.
Über „Brachialgien“ liegen nur wenige ausführlichere Mitteilungen vor.
Am eingehendsten hat sich Oppenheim mit ihnen befaßt. In seinen Ausführungen
stellt er das Vorkommen von Brachialneuralgien nicht in Abrede, aber die echte,
reine Brachialneuralgie sei selten. Derselben Ansicht sind v. Strümpell und
Bing; besonders letzterer mahnt bei der Diagnose „Brachialneuralgie“ zur Vorsicht.
Brachialgien finden wir zunächst bei zentralen und peripheren Er¬
krankungen des Nervensystems. Was die zentralen Erkrankungen anbetrifft,
so sei bezüglich der Hirnaffektionen an apoplektische Insulte und an Ponserkran¬
kungen erinnert, in deren Verlauf sich zeitweilig intensivere Armschmerzen ein¬
stellen. Häufiger kommen Affektionen des Rückenmarks in Frage, zu deren
wichtigsten Symptomen sie gehören. Die lanzinierenden Schmerzen' sind bei der
Tabes dorsalis allerdings wesentlich seltener in den Armen lokalisiert als in den
Beinen. Die Differentialdiagnose dürfte'kaum Schwierigkeiten bereiten, viel weniger
als bei anderen Rückenmarksaffektionen, von denen besonders die Pachy-
meningitis cervicalis hypertrophica, die Meningitis chronica syphi¬
litica, die Meningitis serosa circumcripta, der Tumor medullae spinalis
und die Spondylitis tuberculosa (bzw. die Wirbelkaries) in Frage kommen.
Zu den ersten Symptomen der Pachymeningitis cervicalis hypertrophica
gehören neuralgiforme Schmerzen, nicht nur zwischen den Schultern, sondern be¬
sonders im Arm, vorwiegend im Gebiete der nn. ulnaris und medianus. Diese
Schmerzen können Monate hindurch andauern, bis sich Lähmungen einstellen. Da
meist Lues ätiologisch in Frage kommt, dürfte die Blutuntersuchung auf Wasser-
mannsche Reaktion eine wichtige diagnostische und therapeutische Rolle spielen.
Ähnliche Gesichtspunkte gelten für die Meningitis chronica syphilitica. Auch
bei ihr hat das Ergebnis der Blutuntersuchung bfcw. der Untersuchung der Spinal¬
flüssigkeit größte Bedeutung, wenn auch ein negativer Ausfall nicht unbedingt
gegen die syphilitische Ätiologie zu verwerten ist; neben dem Krankheitsbilde als
solchem und dem Verlauf ist eventuell das Lumpalpunktat und seine Zusammen¬
setzung zur Klärung der Diagnose heranzuziehen. In einigen wenigen Fallen
meiner Beobachtung bestand der Verdacht einer Meningitis serosa circum¬
scripta, bei welchen Kompressionserscheinungen im Anfang heftige Schmerzen
auslösen können. Weiterhin sei auf den Tumor medullae spinalis und vor
allem auf die Wirbelkaries hingewiesen. Am häufigsten wird allerdings die
Lendenwirbelsäule von der tuberkulösen Erkrankung ergriffen. Differential¬
diagnostisch ist von Wichtigkeit, daß besonders das jugendliche Alter, daß vor
allem Kinder an Wirbelkaries erkranken. Das erste Symptom — das regelmäßiger
ist als die Druckempfindlichkeit der Wirbel — sind Schmerzen, die der Höhe der
Erkrankung entsprechen und die auf die Arme übergreifen, wenn die achte Zer¬
vikalwurzel und die erste Dorsalwurzel betroffen sind. Zu den Schmerzen gesellen
sich Gefühlsstörungen, namentlich im Uli\arisgebiet, atrophische Lähmungen der
kleinen Handmuskeln, eventuell Pupillenveränderungen usw\ Außer der Wirbel-
Zeiteebr. I. phyeik. u. diät. Therapie Bd. XXII. Heft 8|9. 19
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
290
Emst Tobias
karies müssen auch Wirbeltumoren — vor allem das metastatische Wirbel¬
karzinom nach primärem Mammatumor —, müssen die chronisch-entzündlichen
Erkrankungen der kleinen Wirbelgelenke, muß die Bechterewsche
Krankheit erwähnt werden. Luxationen und Frakturen der Wirbel brauchen
keine Symptome von seiten des Rückenmarks und seiner Wurzeln zu machen; so
sehen wir bei den Kriegsverletzungen der Wirbel häufig keine ernstere nervöse
Störungen bei positivem Röntgenbefund. Andererseits treten dann im Gegensatz
auch so schwere und bedrohliche Erscheinungen auf, daß Brachialgien nur eine
ganz untergeordnete Rolle spielen.
Im .Vordergründe der peripheren Nervenerkrankungen steht die periphere
Neuritis. Wir sehen eine Neuritis im Arm oder in beiden Armen als Mono¬
neuritis oder als Teilerscheinung einer Polyneuritis ursächlich hervorgerufen durch
Überanstrengung, Erkältung, durch toxische und infektiöse Prozesse, durch Stoff¬
wechsel- und Ernährungsanomalien, allgemeine Infektionskrankheiten, Kachexie
und Autointoxikationen. Erwähnt sei auch die symmetrische Armplexus¬
neuritis. Die Diagnose „Neuritis“ bereitet häufig Schwierigkeiten. Nicht immer
handelt es sich um typische Fälle mit Atrophien, Sensibilitätsstörungen, Reflex¬
anomalien u. dgl. Oft sieht man die charakteristischen neuralgiformen Schmerzen¬
fälle, bevor irgendein objektives Zeichen die Diagnose „Neuritis“ erkennen läßt.
Ein besonders schwankendes Symptom ist der Druckschmerz der erkrankten
Nerven. Aus meinem eigenen Material möchte ich darauf hinweisen, daß
Überanstrengung, die in ihrer ätiologischen Bedeutung oft angezweifelt, aber
als Gelegenheitsursache zugegeben wird, in einer meiner Beobachtungen bei einem
Berufspianisten eine wesentliche, wenn nicht die wichtigste Rolle spielte. Daß
es sich um eine Neuritis im rechten Arm handelte, konnte unzweifelhaft fest¬
gestellt werden; die Diagnose war nicht allein durch starke lokale Druckschmerzen,
sondern durch erhebliche Sensibilitäts- und Lagegefühlsstörungen gesichert; auch
fehlten die Reflexe auf der erkrankten Seite, während sie am gesunden Arm deut¬
lich auslösbar waren. Die diabetische Neuritis sah ich meist in Fällen mit
nur geringem Zuckergehalt des Urins. Wir sehen dann ferner Armschmerzen noch
bei der allgemeinen Hystero-Neurasthenie und den sogenannten Beschäfti¬
gungsneurosen. Die hystero-neurasthenischen Armschmerzen, die man am häufig¬
sten bei blutarmen jungen Mädchen beobachten kann, nehmen in der Regel nicht
Dimensionen an, die zu differentialdiagnostischen Schwierigkeiten Veranlassung
geben könnten; auch die Schmerzen bei den Beschäftigungsneurosen unterscheiden
sich durch ihr charakteristisches Gepräge, indem es sich mehr um schmerzhafte
Muskelkrämpfe als um wirkliche neuralgiforme Schmerzen handelt. Der Beruf
bzw. die Berufstätigkeit der Erkrankten leitet zudem meist schnell auf die richtige
Fährte, wenn auch der vordem erwähnte Fall von Neuritis bei einem Berufs¬
pianisten zur Vorsicht mahnt. In seltenen unklaren Fällen, auf die ich die Auf¬
merksamkeit lenken möchte, sah ich Schmerzen auf der weniger in Anspruch ge¬
nommenen Seite anstatt auf der Seite, auf der sie in der Regel und erklärlicherweise
zu erwarten gewesen wären. Endlich sei noch envähnt, daß Nervengeschwülste
— Neurome — nicht zu vergessen die Recklinghausensche Krankheit — und
Nervenverletzungen Armschmerzen verursachen, deren Natur wohl fast immer
klar zutage liegt.
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ober Brachialgien n. ihre Behandlung nebst Betrachtungen zur „Neuralgie a -Diagnose. 29 1
In zweiter Linie finden wir dann Brachialgien bei zentralen und peri¬
pheren Erkrankungen des Kreislaufsystems. Bekannt sind die ausstrahlen¬
den Armschmerzen — besonders im linken Arm — bei der Angina pectoris, k
beim Aneurysma der Aorta sowie bei Koronarerkrankungen. Nach Löwenfeld
kann sich Angina pectoris mit Neuralgia ulnaris verbinden oder mit ihr alternieren.
In einer eigenen Beobachtung 1 ) sah ich heftigste Armschmerzen in einem Falle
von Aneurysma der rechten Arteria subclavia. Die Diagnose konnte durch
das palpable Aneurysma leicht gestellt werden, es fehlte außerdem der Radialpuls
auf der Seite der Erkrankung. Der Fall hat hervorragendes praktisches Interesse.
Während es sich in einem Falle von Oppenheim 2 ) um einen leichteren Grad der
Erkrankung gehandelt haben muß, bei dem unter Anwendung von Jodkalium,
Elektrizität und lokaler Applikation der Eisblase Heilung eintrat, bestanden in
meinem Falle allerschwerste Veränderungen. Sowohl Goldscheider wie A. Bier
empfahlen die Radikaloperation; Bier exzidierte dann auch das sehr große Aneu¬
rysma, das nach hinten bis an die Wirbelsäule heranreichte, die schon Zeichen
deutlicher Usurierung darbot. Die Gefahr des Platzens des Aneurysmasackes in
den Wirbelkanal stand anscheinend unmittelbar bevor. Recht erhebliche Schmerzen
sieht man auch bei peripherer Arteriosklerose. Über arteriosklerotische
Schmerzen verdanken wir Goldscheider®) eine sehr eingehende Arbeit.
Schmerzen können zunächst durch den Druck eines erweiterten und hartrandigen
Gefäßes auf die vorüberziehenden Nerven entstehen; aber wahrscheinlicher ist,
daß die in der Adventitia gelegenen sympathischen Nervengeflechte ihren Er¬
regungszustand auf die entsprechenden Headschen Zonen, d. h. auf die mit dem
betreffenden Sympathikusgebiet in gleicher Höhe liegenden spinalen Segmente
übertragen können. Die bei Arteriosklerose auftretenden Huskelschmerzen —
ich sah sie besonders intensiv im Daumen — führt Goldscheider auf Ischämie
zurück, die ähnlich wirkt wie Ermüdung und Überarbeitung. Ischämie ist auch
die Ursache der Schmerzen bei der Koronarsklerose, bei der es sich danach im
wesentlichen um einen Muskelschmerz handelt. Die Ischämie wirkt aber auch er¬
regend auf die Ganglien und die zentripetalen Fasern des Herzens; dadurch, daß
die Erregung dann auf spinale schmerzleitende Nervenbahnen übertragen wird,
geht der Schmerz auf Schulter und Arm über. Eine besondere Form der peri¬
pheren Arteriosklerose sehen wir bei der Dyskinesia intermittens, die am
Arm u. a. von Nothnagel, Erb, Embden beschrieben wurde. Die wesentlichsten
Beschwerden dieser Kranken — ich konnte selbst zwei typische Fälle beobachten
— bestehen allerdings mehr in einem periodischen Müdigkeits- und Schwäche¬
gefühl im Arm oder in den Armen, und erst bei fortschreitendem Leiden bzw.
verstärkten Anstrengungen treten Schmerzen auf, die etwa den Schmerzen ent¬
sprechen, wie wir sie bei Wadenkrämpfen beobachten. Zur Sicherstellung der
Diagnose kann das Röntgenverfahren wertvolle Dienste leisten.
Wir sehen dann ferner Brachialgien als Muskelschmerzen und bei
Gelenkaffektionen. Auf die Unklarheit der Diagnose „Muskelrheumatismus“
wurde bereits eingangs hingewiesen, wie auch bereits erwähnt wurde, daß man
') Veröffentlichungen der Hufelandschen Gesellschaft in Berlin 1911, S. 12.
*) Lehrbnch der Nervenkrankheiten. 6. Aufl., Bd. I, S. 750.
3 ) Zeitschrift fttr physikalische nnd diätetische Therapie, April 1909.
19*
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
292
Ernst Tobias
bei Erkrankungen kleiner Gelenke an der Halswirbelsäule Ärmsckmerzen beob¬
achten kann, wenn sich auch die Schmerzen häufiger auf die Wirbelsäule be¬
schränken. Vielfach wird dann auch, vor allem von Goldscheider 1 ), auf den
Zusammenhang von Omarthritis und Brachialgien hingewiesen. Während Senator
und Niemeyer die Ansicht vertraten, daß Gelenkrheumatismus die in der Nähe
des Gelenks gelegenen Nerven rheumatisch affizieren kann, Immermann und
Edlefsen, daß die Schädlichkeiten des akuten Gelenkrheumatismus auch Neuralgien
erzeugen, Steiner und E. Remak, daß bei akutem Gelenkrheumatismus die
Nervenstämme der Perineuritis (Steiner) bzw. Neuritis (Remak) druck¬
empfindlich sind, ist Goldscheider zu der Überzeugung gelangt, daß in selteneren
Fällen Neuritis, Myositis und Neuralgien beim Gelenkrheumatismus Vorkommen,
daß es sich hingegen häufiger um einfache irradiierte Hyperalgesien handelt, ähn¬
lich den nasalen Reflexneurosen, ähnlich den Headschen referred pains bei Vis¬
ceralerkrankungen. Unbedingt bestätigen möchte ich die Annahme besonders
älterer Autoren, daß hinter „Brachialneuralgien“ oft eine beginnende Arthritis
deformans des Schultergelenks sich verbirgt. In einzelnen, wenn auch bedauer¬
licherweise nicht sehr zahlreichen Fällen schafft die Röntgendurchleuchtung Klar¬
heit. Von den gichtischen Gelenkveränderungen wird im Rahmen der Stoff¬
wechselerkrankungen die Rede sein.
Eine weitere Gruppe von Armschmerzen hat vornehmlich chirurgisches
Interesse. Bei allen unklaren Fällen muß an Halsrippen 2 ) gedacht werden;
die Röntgendurchleuchtung ist hier allein imstande, die Diagnose zu sichern. Nicht
sehr häufig und auch nicht sehr intensiv sind die Armschmerzen beim Caput
obstipum, sehr heftig und andauernd die Schmerzen bei komprimierenden Tumoren,
Fremdkörpern, Knochensplittern, Callusbildungen u. dgl.
Brachialgien, die am ehesten den Eindruck reiner Neuralgien erwecken, sind
die Armschmerzen, die wir bei Stoffwechselerkrankungen sowie bei toxischen
und infektiösen Krankheiten beobachten. So sehen wir beim Diabetes mellitus
Neuralgien, die wie die erwähnten Neuritiden mit Vorliebe bei geringer Zucker¬
ausscheidung auftreten. Bei der Gicht zeigen sich einerseits gichtische Schulter¬
gelenkentzündungen, andererseits Harnsäureablagerungen am Bicepsansatz. Oppen¬
heim sah ferner Brachialneuralgien durch Gicht hervorgerufen; beim Ablauf eines
gleichzeitigen typischen Gichtanfalles verschwand auch die Neuralgie. Bing
fahndet auf Gicht besonders bei der Ulnarisneuralgie. Bei Fettsucht bestehen
Schmerzen im allgemeinen nur bei der Adipositas dolorosa, der Dercumschen
Krankheit. Bekannt sind dann die N.euralgien im Anschluß an Influenza, Ab¬
dominaltyphus, Malaria, beim Alkoholismus, bei Blei- und Kohlenoxyd¬
vergiftungen usw. Kurz erwähnt seien endlich die Reflexneuralgien; sie
gehören aber für den Arm oder die Arme zu den größten -Seltenheiten, während
z. B. Trigeminusneuralgien bei Zahnkaries, Nebenhöhlenkatarrhen u. dgl. wieder¬
holt beobachtet werden.
Wollten wir nun eine detaillierte Beschreibung der Behandlung der Brachi¬
algien geben, so müßte die Therapie aller jener Erkrankungen zur Erörterung
gelangen, in deren Verlauf oder durch welche Brachialgien entstehen. Da dies
*) Therapeutische Monatshefte 1909, Nr. 12.
s ) Röntgenbild und Literatur s. b, Kurt Mendel, Neurol. Centr. 1913, Nr. 9.
Dlgitizeo by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Über Bracbialgien u. ihre Behandlung nebst Betrachtungen zur „Neuralgie“-Diagnose. 293
viel zu weit führen würde, so müssen wir uns mit einem Überblick über die
hauptsächlichsten Richtlinien begnügen:
Im Vordergründe der Behandlung steht immer das Grundleiden;
erst in zweiter Linie folgt die Berücksichtigung der örtlichen Schmerzen.
Zuweilen schwinden die Schmerzen ohne lokale Behandlung, so z. B. bei den
liystero-neurasthenischen Brachialgien; in der Regel wird sich aber eine Kombi¬
nation von allgemeiner und örtlicher Behandlung als notwendig erweisen. Viel¬
fach bestimmt die Grundkrankheit den Charakter der Behandlung (Lues spinalis,
Tabes dorsalis, diabetische und gichtische Neuritiden und Neuralgien usw.); Tu¬
moren verlangen die Spezialbehandlung des Chirurgen.
Im allgemeinen ist medikamentöse Therapie nicht zu entbehren. Besonders
beim Beginn einer akuten Neuritis kommt man ohne Narcotica selten aus, zumal
wenn die Schmerzen intensiven neüralgiformen Charakter haben. Es erübrigt sich
besonders hervorzuheben, daß bei chronischen Krankheitszuständen, wie z. B. den
lanzinierenden Schmerzen der Tabiker, Vorsicht geboten ist. Im übrigen wird
man bei rheumatischer Ätiologie Salizylpräparate, bei Lues Jod und Quecksilber
bzw. Salvarsan, bei anämischen und neurasthenischen Individuen Eisen-, Arsen-,
Baldrian-, Brompräparate u. dgl. verordnen. Mancher Eingriff bleibt dem Chirurgen
Vorbehalten. Kurz erwähnt, wenn auch am Arm nur der Vollständigkeit halber, sei
die Nervendehnung in hartnäckigen Fällen von Neuralgie.
Eine große Rolle in der Therapie der Brachialgien spielen die einzelnen
Faktoren der physikalischen Heilmethoden. Znnächst eine wichtige Frage:
Soll man einen an Armschmerzen bzw. Neuralgien leidenden Arm ruhig stellen?
Soll man ihn eventuell in eine Mitella legen? Diese wichtige Frage ist nicht
prinzipiell für alle Fälle mit ja oder nein zu beantworten. In der Regel pflegen
die Kranken den Arm sehr gern zeitweilig in einer Binde zu tragen, aber sie
müssen die Möglichkeit haben^ oft die Lage zu Wechseln bzw. ihn jeden Augen¬
blick, wenn es ihnen angenehm scheint, herauszunehmen und für kürzere oder
längere Zeit hängen zu lassen.
Diät spielt nur selten eine Rolle; es ist bekannt, daß diabetische Neuralgien
sich meist nur durch Diätregulierung bessern.
Wie verhält es sich nun mit der mechanischen, der thermischen und
der elektrischen Behandlung der Brachialgien?
Massage ist bei intensiveren Armschmerzen kontraindiziert. Die einzige
Massageform, welche, abgesehen von leichten, nicht von professionellen Masseuren
und Masseurinnen vorzunehmenden Streichungen, oft recht wirksam sein kann, ist
leichte Duschemassage unter Dampf, bei welcher aber die noch zu be¬
sprechenden thermotherapeutischen Regeln befolgt sein wollen. Diese Dampf¬
duschemassage ist besonders zu empfehlen bei Beschäftigungsneurosen, wo sie im
Verein mit dosierter Widerstandsgymnastik oft Vortreffliches leistet. Dieselbe
Behandlung bringt auch Erfolge bei abgeklungenen Armschmerzen, die ein stärkeres
örtliches Ermüdungsgefühl zurückgelassen haben. Uber die (Jorneliussche
Nervenpunktmassage, die bekanntlich gerade bei peripheren neuralgischen Schmerz¬
zuständen am meisten empfohlen wird, läßt sich so viel sagen, daß man sie ohne
Zweifel vielfach mit Erfolg anwenden kann. Sehen wir von allen theoretischen
Erörterungen ab, von deren Ablehnung durch die wissenschaftliche Medizin be-
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
294
E. Tobias, Über Brachialgien und ihre Behandlung usw.
reits die Rede war, so ist gegen einen Versuch nichts einzuwenden, wenn es sich
nicht um pseudoneuralgische hystero-neurasthenische Schmerzen handelt, bei denen
die Methode nach meinen Erfahrungen unter Umständen geradezu eine Gefahr
bedeutet. Bei akut entzündlichen Erscheinungen, sowie vor allem hei trauma¬
tischer Neurose, ist die Corneliussche Nervenmassage absolut kontraindiziert.
Wenden wir uns nunmehr zur Thermotherapie, so läßt sich ganz all¬
gemein die Regel aufstellen, daß sich extreme Temperaturen, mag es sich
um Kälte oder um Wärme handeln, nicht für neuralgiforme Schmerzen
eignen. Der intermittierende, exazerbierende Schmerz verträgt, wenn
überhaupt, Hitze und Kälte nur ausnahmsweise und zwar nur in kurzer
energischer Applikation. Ganz anders der neuritische kontinuierliche Schmerz;
er wird durch Hitze meist sehr gut beeinflußt. Der neuritische Schmerz wird
durch Diaphorese gelindert. Als geeignete Prozedur kommt bald trockene,
bald feuchte Wärme in Frage; je nachdem wird man Elektrothermkompressen,
Teillicht- und Heißluftbäder oder Schlamm-, Moor-, Fangopackungen, Dampf¬
kompressen u. dgl. zur Anwendung bringen. Im allgemeinen konnte ich mich
auch beim neuritischen Schmerz davon überzeugen, daß die allerextremsten Tem¬
peraturen durchaus nicht immer auch die wirksamsten sind. Bei ganz akuten
Fällen empfiehlt sich im allerersten Beginn Ableitung (fliegende Vesikantien,
points de feu, Biersche Saugglocke usw.). Schwierig ist die thermotherapeutische
Beeinflussung neuralgiformer Schmerzen. Was heute wirkt, versagt morgen!
Meist wird man auf hydriatische Prozeduren — zeitweilig wirken vorübergehend
Umschläge mit indifferenten Temperaturen — ganz verzichten. Dafür sind milde
therapeutische Eingriffe, wie Blaulichtbestrahlung, wie die vorsichtig angewandte
Heißluftdusche (Föhn) oder wie die milde Dampfdusche (ohne Massage!) zu
empfehlen.
Zum Schlüsse bleibt endlich nur noch ein therapeutischer Faktor zu be¬
sprechen, der von jeher in der Schmerzbehandlung eine besondere Rolle gespielt
hat, die Elektotherapie. Sie gelangt in verschiedener Form zur Anwendung.
Ein erprobtes Verfahren ist die lokale Anwendung der galvanischen Anode
— bei stabiler Applikation besonders mit längerer Ausdehnung der einzelnen
Sitzung. Sehr wirksam ist oft die faradische Bürste — sowohl zur Bekämpfung
der Hypästhesie nach abgelaufenen Neuritiden wie auch bei starken Schmerzen
zwecks Ableitung. Auch das elektrische Zweizellenbad leistet bei Anwen¬
dung eines der Art des Falles angepaßten Stromes gute Dienste. Allen diesen
bewährten und darum nur kurz erwähnten älteren Verfahren gegenüber muß
schließlich noch einer neueren Therapie gedacht werden, welche gerade bei
Schmerzen so Vortreffliches leistet, das man fortan wohl kaum auf sie wird ver¬
zichten wollen, der Diathermie. Die Anwendung der Diathermie bedeutet
zweifelsohne einen außerordentlichen therapeutischen Fortschritt. Zu warnen ist
vor schematischem Vorgehen. Auch die Diathermie will der Individualität ange¬
paßt werden, und da es sich bei ihr nicht eigentlich um ein elektrisches, sondern
um ein Wärmeverfahren dem Effekt nach handelt, so gelten auch für sie die
Regeln, die vordem für die Thermotherapie aufgestellt wurden. Auch bei der
Diathermie sollen bei Neuralgien nur geringe, bei • Neuritiden hingegen hohe oder
besser höhere Temperaturen auf den erkrankten Arm einwirken.
Digitized by
Gougle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
E. Wolff, Beitrag* za den Verletzungen des Konus medullaris u. d. Kauda eqnina. 295
Die Injektionstherapie, spielt bei den Brachialgien nicht entfernt die
Bolle, die ihr bei der Ischias und besonders bei der Trigeminusneuralgie seit
Jahren zufällt. ,
Ganz allgemein läßt sich sagen, daß die Bekämpfung der Brachialgien eine
oft nicht leichte, jedoch eine meist dankbare therapeutische Aufgabe ist, die in
der Eegel zum Ziele führt, wenn nicht ein unheilbares organisches Grundleiden
der völligen Beseitigung hindernd im Wege steht.
XL
Beitrag zu den Verletzungen des Konus medullaris
und der Kauda equina.
Von
Erich Wolff,
stellvertr. Assistenten an der Med. Univers.- Poliklinik in Berlin.
I.
Die Erkrankungen des unteren Rückenmarkendes verdienen deswegen ein
besonderes Interesse, weil sie mit wichtigen Problemen verknüpft sind, die eine
endgültige Lösung noch nicht gefunden haben. Ich erinnere nur an die Differential¬
diagnose zwischen Konus- und Kaudaerkrankungen und an die Frage nach der
automatischen Blasen- und Mastdarmtätigkeit. Deswegen möge es erlaubt sein,
an der Hand zweier Fälle einige der Probleme zu erörtern und die noch vor¬
handenen Schwierigkeiten erneut zu beleuchten.
Am 24. März 1917 fiel der Arbeiter 0. von einem Baum, den er anscheinend in
einem Zustand plötzlicher Verwirrtheit bestiegen hatte, auf den Rücken herunter und
zeigte noch längere Zeit im Krankenhaus ein unnormales psychisches Verhalten. Er
hatte von Anfang an über sehr heftige Schmerzen zu klagen und schrie bei der geringsten
Berührung der Lendenwirbelsäule laut auf. Erst nach Wochen verloren sich die Schmerzen.
Es trat sofort Urin- und Stuhlverhaltung auf, die Katheter und Einlauf nötig machten.
Nach Verlauf von 3 Wochen fand sich zum erstenmal spontane Entleerung wieder ein.
Bei der Suche nach Gefühlsstörungen wurde die untere Hälfte des Körpers von einer
Linie 6 cm unterhalb des Nabels an unempfindlich für Berührung und Druck gefunden.
Im Rücken schloß diese Linie mit dem ersten Lendenwirbel ab. Patient klagte über
Kribbeln und Kältegefühl in den Beinen, deren Bewegung aktiv und passiv ohne Schmerzen
möglich war. Die Achillessehnenreflexe und die Patellarreflexe waren beiderseits gesteigert.
Kein Babinski. Als der Patient nach D /2 Monaten aufstand, vermochte er sich nur im
Laufstuhl vorwärts zu bewegen, doch lernte er mit der Zeit an zwei Stöcken, wenn auch
unsicher und schlotternd zu gehen. Die Gefühlsstörung besserte sich sehr; bei seiner
Entlassung schien sie den Ärzten gänzlich geschwunden.
Zurzeit, etwa 7 Monate nach dem Unfall, ist eine normale Kot- und Urinentleerung
noch nicht wieder eingetreten. Der Patient empfindet zwar 6- bis 7 mal täglich deut¬
lichen Harndrang, vermag aber den Urin nicht willkürlich zurückzuhalten und trägt des-
Digitized b'
Google
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
296
E. Wolff
halb außer dem Hanse ein Urinoir. Die drohende Harnentleerung kündigt sich dnrch ein
brennendes Gefühl in der Spitze der Harnröhre an nnd Patient hat dann noch etwa zwei
Minuten^Zeit, den Abort oder das Nachtgeschirr aufzusuchen, bis die ersten Tropfen kommen.
Gelingt ihm das einmal nicht mehr rechtzeitig, so muß er entweder mit der Hand die
Harnröhre zukneifen oder die Kleider benetzen. Bei der Entleerung selbst laufen, wie das
mehrfach beobachtet werden konnte, zunächst einige Kubikzentimeter tropfenweise ab,
dann tritt eine kurze Pause ein und darauf schießt die Hauptmenge des Harnes in einem
recht kräftigen Strahl heraus. Die Entleerung ist eine vollständige, denn der eingeführte
Katheter fördert danach keinen Bestharn zutage. Bis vor wenig Wochen genügte der
Harndrang nicht, den Patienten nachts aus dem Schlaf zu wecken und die Entleerung
erfolgte ins Bett. Seitdem ist eine Besserung eingetreten, aber jede Nacht wird die Ruhe
durch die Häufigkeit des Geschäftes etwa 8- bis 10 mal gestört. Und hin und wieder
passiert es doch noch, daß nach tiefem Schlaf die Wäsche sich eingenäßt findet. Bei
kaltem Wetter soll die Urinentleerung viel häufiger vor sich gehen, als oben angegeben
ist. Subjektiv empfindet der Patient beim Urinieren jedesmal ein Kribbeln in den Beinen.
Mit seiner Kotentleerung ist der Patient besser zufrieden. Alle zwei Tage wird
ein durchweg harter Stuhl abgesetzt, der sich rechtzeitig genug durch ein Druckgefühl am
After selbst bemerkbar macht. Doch kann die Entleerung nicht willkürlich hervorgerufen
oder aufgeschoben werden und es besteht Inkontinenz für flüssige Stühle oder Klistiere.
Wollustgefühl und Libido Bind — soweit man ans dem Patienten klug werden kann,
seit dem Unfall nicht wieder aufgetreten. Vordem hat er eine ausreichende sexuelle
Tätigkeit ansgeübt und mehrere Kinder erzeugt. Jetzt kommt es bei Beizung durch aktive
und passive körperliche Berührungen ein- bis zweimal in der Woche zu kurz dauernden
kraftlosen Erektionen, an deren Ende Samen langsam abfließt. Ein Koitusversuch miß -
lang. Auch eine spontane, mehrere Minuten dauernde Erektion wurde beobachtet, die
ruckweise eintrat, „als ob das Glied aufgepumpt würde“. Sie schloß sich an eine Harn¬
entleerung an und war nicht von Samenerguß, sondern von einer geringfügigen Miktion
gefolgt. Bei gefüllter Blase oder gefülltem Mastdarm wurde Steifung nicht beobachtet.
An der Rückseite des Patienten zeigt die Untersuchung eine Sensibilitätsstörung
die vor allem das Gesäß betrifft und Perinäum, Skrotum und Penis bis auf einen kleinen
Bezirk rechts und links der Peniswurzel einbezieht. An der Hinterseite der Schenkel
zieht sich die Störung in einem schmalen Streifen bis zur Ferse herunter, von der Mitte
der Tibia ab die Außenseite und etwas von der Vorderseite der Unterschenkel und
weiterhin den ganzen Fuß bis auf einen schmalen Streifen am inneren Fußrand mit er¬
greifend. In diesem ganzen Gebiet wird Schmerz, Temperatur und Berührung nicht ge¬
fühlt, mit Ausnahme der rechten Wade, wo nur eine Unterempfindlichkeit für diese Quali¬
täten besteht und des Skrotums, das zwar temperaturunempfindlich, aber nicht anästhetisch
ist. Auf den Nates finden sich flächenförmige Hautnarben, wohl von Dekubitalgeschwüren
herrührend und zwei frische Ulcera, die durch unbemerkte Verbrennung mit einem Wärme¬
kissen entstanden sein sollen.
Beim Hin- und Herziehen des eingeführten Katheters hat Patient das Gefühl, als
müsse er Urin lassen. Einen Einlauf will er als angenehm warm empfunden haben.
Jedenfalls kann er aber bei rektaler Untersuchung nicht angeben, ob der Finger sich im
Mastdarm oder wieder draußen befindet. Der eingehende Finger hat im After den Wieder¬
stand eines gut kontrahierten Schließmuskels zu überwinden. Der Analreflex ist vorhanden
und deutlich.
Die Achillessehnen und Plantarreflexe sind vollkommen erloschen. Der Patellarreflex
ist rechts sehr lebhaft, links vergleichsweise träge. Kremaster und Bauchdeckenreflexe
sind prompt und beiderseits gleich. Die Bewegung der Füße und Zehen ist ganz auf¬
gehoben bis auf die Hebung des inneren Fußrandes, die rechts kraftloser ausfällt als
links. Nach einer Hebung fällt der Fuß durch eigene Schwere wieder zurück, dadurch
auf den ersten Blick Plantarreflexion vortäuschend. Entsprechend diesem Funktionsaus¬
fall zeigt sich die ganze Fußmuskulatur und ebenso die des Unterschenkels deutlich atrophisch.
Die Klein- und Großzehenseiten sind eben und eingesunken und der Fuß zeigt Plattfuß-
bildung, die allerdings schon vorher bestanden haben soll. Die Bewegung im Kniegelenk
'bigitized by Gck 'gle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Beitrag zu den Verletzungen des Konus medullaris und der Kauda equina.
297
erfolgt nach vorne gut, nach hinten mit deutlich herabgesetzter Kraft. Im Hüftgelenk
wird gut gebeugt, an- und abduziert und auswärts gerollt. Beim seitlichen Heben des
Beines fühlt man ganz deutlich den Wulst des. Glutäus medius. Das forcierte Strecken
dagegen ist schwach und offenbar nur von Flexoren und Aduktoren besorgt, denn vom
Glutäus maximus ist dabei nichts zu bemerken. Entsprechend ist von den sichtbaren
Veränderungen am auffallendsten eine weitgehende Atrophie der Gesäßmuskulatnr. Die
Haut der ehemaligen Nates ist schlaff und runzlich, zwischen Kreuzbeinende und Anus
findet sich eine tiefe Einsenkung und die Sitzbeinhöcker springen mit fast nackter Deut¬
lichkeit hervor.
Galvanisch ist in der gelähmten Fuß- und Unterschenkelmuskulatur träge Zuckung
zu erzielen, nur die Glutäi sind weder galvanisch noch faradisch zu einer Reaktion zu
bringen. Einmal wurde im Gebiet des linken Glutäus fibrilläres Muskelzucken beobachtet.
Ruhiges Freistehen ist dem Patienten unmöglich. Er stemmt sich mit den Knien
gegen eine Stuhlkante oder sucht sich mit den Händen festzuhalten. Der Gang er¬
scheint langsam und etwas wackelnd und trotzdem die Knie ausgiebig gehoben werden,
schleifen die äußeren Fußränder am Erdboden.
Die Betrachtung des Rückens läßt eine Deformität der Lendenwirbelsäule erkennen
derart, daß die Wirbelsäule eine Kyphose von etwa 4 Wirbeln Ausdehnung zu bilden
scheint, mit dem Scheitelepunkt im zweiten Lendenwirbel. Diese Lendenkyphose bleibt
auch bei stärkster allgemeinerLordosehaltung bestehen. Neben dem ersten Lendenwirbel
findet sich 1 1 / 2 cm nach links von der Mittellinie eine pfenniggroße knöcherne Resistenz,
anscheinend der abgewichene Dornfortsatz des ersten Lendenwirbels. Über der ent¬
sprechenden Stelle rechts läßt energisches Betasten ein Knastern oder Krepitieren in
der Tiefe erkennen. Eine Druckempfindlichkeit der Wirbelsäule besteht, nicht.
Im Röntgenbild zeigt sich der Körper des ersten Lendenwirbels zusammengedrückt
und keine Spur von seinem Dornfortsatz.
Epikrise: Ein 39jähriger Arbeiter fällt vom Baum auf den Rücken imd zeigt
nach vorübergehender Mitbeteiligung lumbaler Sensibilitätsbezirke folgende blei¬
benden Störungen: 1. Palpatorisch und röntgenologisch nachweisbare Zertrümmerung
des ersten Lendenwirbels. 2. Atrophische Lähmung der langen und kurzen Fu߬
muskeln mit Ausnahme des Tibialis antikus, der jedoch rechts schwächer ist als
links; Lähmung der Glutäi und Parese der Unterschenkelbeuger. 3. Hypästhesie
jn einem Teil von S 1 und S 2 links; dissoziierte Unterempfindlichkeit in einem Teil
von S3; im Bereich der übrigen Sakralsegmente totale Anästhesie. 4. Nach an¬
fänglicher totaler Retention Automatismus der Blase mit Verlust der willkürlichen
Beeinflußbarkeit ihrer Entleerung. Hypästhesie der Blasenschleimhaut. 5. Auto¬
matische Entleerung des Mastdarms in zweitägigem Abstand mit Inkontinenz für
dünne Stühle. Anästhesie der Mastdarmschleimhaut. 6. Erloschensein von Libido
Orgasmus und Ejakulation bei erhaltener Erektionsfähigkeit.
Auf unsere erste Frage nach dem Sitz der Rückenmarksverletzung scheint
uns die zirkumskripte Läsion des ersten Lendenwirbels eine rasche Antwort geben
zu können, hinter Welchem der Konus und die epikonialen Segmente gelegen sind.
Indessen darf nicht vergessen werden, daß in manchen früheren Fällen die Rücken¬
marksverletzung nicht genau am Ort der Wirbelbeschädigung gefunden worden
ist, und Fischler hat z. B. für Konusläsionen wahrscheinlich gemacht, daß durch
die gewaltsame Streckung des Rückenmarks beim Hinfallen der durch die Wurzeln
fixierte Konus gezerrt oder sogar abgerissen werden könne ohne Zusammenhang
mit gleichzeitiger Wirbelverletzung von vielleicht ganz anderem Sitz. Im vor¬
liegenden Fall besteht aber kein Grund, so mißtrauisch zu sein. In Höhe des
deutlich geschädigten Wirbels liegt das Sakralmark umgeben von den Lumbal-
Digitized by
Google
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
298
E. Wolff
wurzeln und es läßt sich zwanglos annehmen, daß unmittelbar nach dem Wirbel¬
trauma, als die Gefühlsstörung noch auf den Leib heraufreichte, die hinteren
Wurzeln mit beteiligt waren, ihrer derberen Natur wegen, sich aber schnell er¬
holen konnten, so daß nur die Schädigung des verletzlicheren Markes bestehen
blieb. Es wäre lediglich noch festzustellen, ob die Ausfallserscheinungen alle mit
diesem wahrscheinlichen Sitz der Läsion in Einklang stehen oder sich Unstimmig¬
keiten ergeben. Das soll weiter unten im Zusammenhang mit dem zweiten Fall
geschehen.
n.
Der 29 jährige Unteroffizier B. erhielt am 15. April 1917 zwei parallele Maschinen-
gewehrschttsse in die rechte Lendenmnsknlatnr etwas oberhalb des Dannbeinkammes bzw.
handbreit darunter. Er verspürte sogleich Schwäche and Gefühllosigkeit in beiden
Beinen, so daß er Bich nur kriechend am Boden fortziehen konnte. Nach einigen Tagen
vollständiger Harnverhaltung, die den Gebrauch des Katheters notwendig machte, trat
dauerndes unwillkürliches Harnträufeln ein, welches ebenso wie die einsetzende Stuhlver¬
stopfung bis heute geblieben ist. Nach etwa 14 Tagen war das rechte Bein wieder
normal, während Schwäche und Gefühllosigkeit links unverändert blieb. Patient ver¬
mochte einige Wochen darauf aufzustehen und herumzuhumpeln, nur das Sitzen war auf¬
fälligerweise noch im Juni des Jahres ganz unmöglich. Am 2. August 1917 wurden die
Steckgeschosse operativ entfernt. Das untere saß am linken Band des Sakralkanals
zwischen den Wurzeln in Höhe des zweiten Sakralknochens, das obere unterhalb des
vierten Lendenwirbels unter der Dura. Der fünfte Lendenwirbelbogen erwies sich als
frakturiert. Die Gefühlsstörungen wurden durch die Operation nicht beeinflußt; dagegen
besserte sich die Beweglichkeit der großen Zehe und die Fähigkeit, sitzen zu können,
nahm beträchtlich zu.
Zurzeit läuft der Urin in kleinen Portionen unwillkürlich und unbemerkt ab. Zu¬
gleich hält die Blase dauernd 5 bis 600 ccm zystitischen Bestharn. Urindrang wird nie
gespürt. Auch die Füllung des Bektums vermag der Patient nur mit dem Finger fest¬
zustellen. Er nimmt von Zeit zu Zeit ein Abführmittel und wartet über dem Stech¬
becken den Durchtritt der Fäzes ab, den er nicht empfindet, sondern durch Autopsie
feststellen muß. Die Geschlechtsfunktionen sind bis auf seltene Erektionen erloschen.
Die Sensibilitätsstörungen umgreifen das linke Gesäß und ziehen sich in bekannter
Weise streifenförmig an der Hinterseite des Beines nach unten und schraubenförmig nach
vorn, den Fuß bis auf ein schmales Gebiet am Innenrande mitergreifend. Perinäum,
Skrotum und obere Penishälfte sind auf der linken Seite gleichfalls ohne Gefühl. Der
Gefühlsausfall ist für alle Qualitäten absolut. Davon zeugen auch in Heilung begriffene
Geschwüre am Hacken und Fuß, die niemals Schmerzen gemacht haben sollen. Die
Achillessehnenreflexe sind beiderseits nicht zu erzielen, der Analreflex fehlt, der Patellar-
reflex ist links lebhafter als rechts. Die Muskulatur des linken Fußes und Unter¬
schenkels ist sehr deutlich astrophisch, desgleichen die der lateralen Flexoren am Ober¬
schenkel und ganz besonders die der Glutäi. Elektrisch ist die betroffene Muskulatur
bis auf den Tibialis anticus und extensor hallucis longus unerregbar. Entsprechend ist
die Beugung detf Unterschenkels paretisch, die Bewegung der Zehen und des Fußes bis
auf die Funktionen der genannten Muskeln gelähmt.
Epikrise: Ein 29jähriger Soldat also erhält zwei Haschinengewehrschüsse
in den Kücken, die bei der Operation unter der Dura des 5. Lendenwirbels bzw.
zwischen den linken Wurzeln in Höhe des 2. Sakralknochens gefunden werden.
Nach anfänglicher Mitbeteiligung des rechten Beines trägt er als dauernde Schä¬
digung davon: 1. Atrophische Lähmung der langen und kurzen Fußmuskeln links
mit Ausnahme des Tibialis anticus und Extensor hallucis longus; Lähmung des
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Beitrag zu den Verletzungen des Konus medullaris und der Kauda equina. 299
Glutäus und Biceps femoris links. 2. Anästhesie aller sakralen Bezirke links.
3. Erloschensein beider Achillessehnenreflexe und Ungleichheit der Patellarreflexe,
links größer als rechts. 4. Paralytisches Harnträufeln. 5. Fehlen des Analreflexes.
Anästhesie des Mastdarms und Inkontinenz für dünne Stühle. 6. Fehlen von
Libido, Orgasmus und Ejakulation bei seltenen Erektionen.
Der Fall charakterisiert sich durch die operative Autopsie einwandfrei als
Kaudaverletzung; höchstens könnte man im Zweifel sein, welche von beiden Kugeln
die Ausfallserscheinunger bewirkt hat. Die Antwort wird sich bei der Betrachtung
der einzelnen Ausfallserscheinungen nach ihrer Segmentzugehörigkeit von selbst
ergeben. *
Wir wenden uns zunächst den Reflexen zu, Achillessehnen- und Fußsohlen¬
reflex sind in beiden Fällen vollständig erloschen. Ihr. Rückenmarkszentrum wird
von den meisten Autoren in den ersten Sakralsegmenten gesucht, während Oppen¬
heim und Flatau auch das unterste Lumbalsegment mit heranziehen. Diese
letztere Annahme würde uns hier nur dann erlaubt scheinen, wenn sonst noch
Symptome für eine Ausdehnung der Affektion auf die Lumbalsegmente sprechen
würden, was indessen kaum der Fall ist. Denn es braucht keine etwa einseitige
Alteration des mitten im Lumbalmark gelegenen Zentrums für die Patellarreflexe
zu bedeuten, wenn sie in beiden Fällen deutlich ungleich gefunden wurden. Diese
Erscheinung beruht viel mehr auf der gesteigerten Erregbarkeit eines Reflex¬
zentrums, wie es häufig dann eintritt, wenn der nächst tiefere Reflex erloschen
ist. Der Zustand ist als „Dissoziation des Reflexes“ beschrieben worden und
findet sich in unseren beiden Fällen oberhalb der’stärker geschädigten Seite des
Sakralmarkes.. Er soll eigentlich besonders charakteristisch für Läsionen des
Markes sein; aber in unserem zweiten Fall findet er sich ganz ausgesprochen bei
einer einwandfreien Kaudaverletzung, bei der überdies eine andere Entstehungs¬
weise ausgeschlossen ist, da die obere Kugelverletzung in Höhe des 5. Lumbal¬
wirbels die Patellarreflexfasern nicht mehr betreffen konnte.
Der Analreflex ist bei der Kaudaverletzung erloschen, bei der Markläsion
dagegen erhalten und beweist die Unversehrtheit des letzten Sakralsegmentes.
Was die Mobilitätsstörungen angeht, so ist die Lähmung des Glutäus bei
teilweisem oder gänzlichem Freisein der Unterschenkelbeuger und unversehrtem
Tibialis anticus häufig beobachtet und mit der die Höhenanordnung der Muskeln
am Bein umkehrenden Kernordnung im Rückenmark erklärt worden. In unserem
ersten Fall ist die geringe Kraft des rechten Tibialis anticus bemerkenswert, die.
vielleicht doch dafür spricht, daß auf dieser Seite die Schädigung etwas ins
Lendenmark hineinreicht, in dessen 4. oder 5. Segment der betreffende Kern all¬
gemein angenommen wird. Lichtheim hat das häufige Freisein der Semi¬
muskeln bei befallenem Biceps femoris betont und daraus ist auf einen um ein
Segment höheren Ursprungs der Semimuskeln geschlossen worden, womit sie in
das 5. Lumbalsegment zu liegen kämen. In unserem Kaudafall ist dieses Ver-
Jialten von Bizeps und Semimuskeln ganz ausgesprochen vorhanden und durch die
Lähmung des Bizeps wird zugleich festgelegt, daß die untere Kugelverletzung
in Höhe des 2. Sakralknochens nicht allein die Zerstörungen angerichtet haben kann.
Die Sensibilitätsstörungen betreffen nach dem Goldscheid ersehen Schema
in beiden Fällen die sämtlichen Sakralsegmente, so daß sie den Verlauf der
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
300
E. Wolfif
Axiallinien an den unteren Extremitäten veranschaulichen. In dem 2., dem Kauda-
fall, folgt die Axiallinie der Sehne des Extensor hallucis longus und halbiert den
großen Zeh, genau wie es von Goldscheider 1 ) vermittels der Irradiationsmethode
angegeben worden ist. Ein Übergfeifen in Lumbalgebiete erfolgt nirgends. Im
ersten Fall ist die Störung in Teilen von S 2 nicht vollständig, in Teilen von S 3
dissoziert, woraus sich im Zusammenhang mit dem Erhaltensein des Analreflexes
ergibt, daß der Konus jedenfalls nicht im ganzen Umfang zerstört sein kann. Im
zweiten Fall ist ein S5 entsprechendes Gebiet auch auf der sonst unversehrten
rechten Seite anästhesisch, so daß vielleicht außer dem Fehlen des Achillessehnen¬
reflexes hier noch ein Zeugnis für die ursprünglich doppelseitige Natur der Läsionen
geblieben wäre.
Bei den Blasenstörungen ist in dem Fall von Konusverletzung die automatische,
dem Willen entzogene Tätigkeit von Blase und Mastdarm bemerkenswert.. Man
könnte denken, daß außer den bereits erwähnten noch andere und zwar gerade
die den beiden Organen vorstehenden Teile von der Markzerstörung verschont
geblieben und nur durch die Leitungsunterbrechung in den höheren Sakralsegmenten
von allen willkürlichen Impulsen aus dem Großhirn abgeschnitten worden wären.
Damit würde man die von Müller zuerst 1899 aufgestellte Theorie, daß die auto¬
matische Blasentätigkeit ihre Ganglien im Sympathikus besitze und unabhängig
vom Rückenmark sei, zunächst nicht nötig haben und sich auf den Standpunkt
von Lewandowski und Braun stellen, die in ihrem Handbuch für jede auch
rein reflektorische Tätigkeit in diesen Fällen das Spiel erhalten gebliebener spinaler
Zentren fordern. Dagegen ist zu sagen, daß es doch sehr merkwürdig wäre, wenn
bei übrigens so starken Markläsionen, wie sie in unserem Fall und bei sehr
vielen Fällen der Literatur vorliegen, ausgerechnet immer das anale und das
vesikale Zentrum verschont blieben; zumal die beiden nicht miteinander verbunden
sind, sondern wie aus Fällen mit gestörter Blasen- und erhaltener Mastdarm¬
funktion hervorgeht, an verschiedenen Stellen im Rückenmark lokalisiert sind.
Ferner sind die Sektionen von Kranken nicht zu übersehen, die im Leben Auto¬
matismus der Blase und des Mastdarms aufwiesen und bei denen dann die Gegend
der supponierten Zentren im Konus total zerstört gefunden wurde. Schließlich
hat der Krieg noch ein sehr schlagendes Experiment für die Unabhängigkeit der
Blasentätigkeit vom Rückenmark in dem von Oppenheim 1915 mitgeteilten Fall
geliefert. Ein Geschoß hatte die Cauda equina in Höhe des 4. Lumbalwirbels so
vollständig durchschlagen, daß bei der Operation an dieser Stelle ein gänzlich leerer
Wirbelkanal gefunden wurde, der offenbar durch Retraktion der durchschnittenen
Wurzelenden entstanden war. Selbstverständlich war der Mann gelähmt, aber
trotz der ebenso selbstverständlichen Ausschaltung aller medullären Bezüge für die
Blase hatte er eine fast normale Urinentleerung, bloß daß er etwas mehr drücken
mußte als vor der Verwundung. Angesichts dieser Tatsache darf man sich nicht
gegen die mit der Mehrzahl der Autoren auch von Oppenheim geteilte Annahme
sträuben, daß im Zerstörungsfalle die spinale Funktion der Blasen- und Mastdarm-
zentren bis zu einem gewissen Grade von untergeordneten sympathischen Zentren
übernommen werden kann. Ob es dann weiter möglich ist, mit Müller die
') Goldscheider, Tafeln der spinalen Sensibilitätsbezirke der Haut, Berlin 1918.
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Beitrag zu den Verletzungen des Konus medullaris und der Kauda equina. 301
Existenz der gefragten spinalen Zentren überhaupt zu leugnen, muß dahingestellt
bleiben.
Unsere beiden Fälle sind in der Verteilung der Lähmungen und den sonstigen
Ausfallerscheinungen so ähnlich, daß es auf den ersten Blick gewiß schwierig
fallen würde, in ihnen zwei Erkrankungen von ganz verschiedenem Sitz zu erkennen,
wenn wir auf den Anhalt verzichten müßten, den uns die deutlichen extra-medullären
Veränderungen zum Glück gewähren. Man hat im Laufe der Zeit eine Anzahl
von Zeichen herausgefunden, die die Differenzialdiagnose zwischen Konus und
Kaudaerkrankung auch der Beurteilung ermöglichen sollen, die sich rein auf die
Betrachtung der Ausfallserscheinungen angewiesen sieht. Diese differenzial-
diagnostischen Symptome werden von unserer Konus- und unserer Kaudaverletzung
nicht alle und nicht in eindeutiger Weise gebracht. Hier hat besonders Einseitig¬
keit oder Doppelseitigkeit der Ausfallserscheinungen Wichtigkeit. Zerstörungen
in dem so leicht verletzlichen Konus werden sich kaum je auf eine Hälfte be¬
schränken können, während die derben Wurzeln nur bei allerdirektester Einwirkung
verletzt werden. Dies trifft in unseren Fällen zu. Im zweiten saß die Kugel am
linken Rand des Sakralkanales und entsprechend ist das rechte Bein fast verschont
geblieben, während'im ersten Fall eine genaue symmetrische Verteilung der Er-
scheinungen zu finden war. Dann soll die Markverletzung fibrilläres Muskelzucken
machen — unser erster Fall zeigte im Glutäus solches Zucken, in welchem man
einen Ausdruck für die Erregung der degenerierenden Vorderhornganglienzellen
hat sehen wollen. Auch Dissoziation der Empfindungsstörung soll nur bei Mark¬
verletzungen Vorkommen, da sie auf die Tatsache zurückgeführt wird, daß Schmerz
und Temperaturleitung gleich nach dem Eintritt ins Rückenmark in die leicht ver¬
letzlichen Hinterhörner sich begeben, während die Berührungsempfindung erst noch
in der derberen weißen Substanz emporsteigt. Im ersten Fall war zweifellos
Dissoziation im Gebiet des 3. Sakralsegments vorhanden, während im zweiten Fall
jede Dissoziation fehlte. Dagegen war bei dem zweiten ein Kaudasymptom an¬
gedeutet, auf das Schlesinger zuerst aufmerksam gemacht hat, das nämlich die
kaudalädierten Patienten das Sitzen bei weitem am schlechtesten von allen Körper¬
lagen vertragen sollen. Schlesinger deutet das als Zerrungsschmerz der Wurzeln
analog dem Kernigschen Phänomen. Unser 2. Patient vermochte vor der Operation,
schon als er viele Stunden täglich aufstand, das Sitzen nur 2—3 Minuten hinter¬
einander auszuhalten und noch heute erträgt er es höchstens für eine Stunde, dann
zwingen ihn Schmerzen im Kreuz und ein fürchterliches Ermüdungsgefühl, seine
Lage zu wechseln.
Das wichtigste imd anscheinend konstanteste Symptom, daß zur Differenzial-
dignose der Kaudalläsionen angegeben worden ist — die ausstralilenden Schmerzen
— fehlt bei ihm wiederum ganz, ein Beispiel für die Unzuverlässigkeit der be¬
schriebenen Merkmale, wenn man nicht schließlich das Schlesingersche Zeichen
im gewissen Sinn auch hier anführen will. In letzter Zeit hat Boenheim auf
eine Erscheinung erneut aufmerksam gemacht, die fast nur bei Konuserkrankung
Vorkommen soll und eine Dissozierung der Potenzstörung darstellt in dem Sinn,
daß Ejakulation und Orgasmus unmöglich sind, die Erektionfähigkeit dagegen
erhalten bleibt. Dieser Zustand setze die Intaktheit des spinalen Zentrums der
Erektion in S 2 voraus bei Zerstörung des nächst tieferen Segmentes, in dem
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
302 E. Wolff, Beitrag zu den Verletzungen des KonnB mednllaris u. d. Rauda equina.
die Ejakulationsmuskeln ihren Sitz hätten. Boenheim verkennt nicht die Schwierig¬
keit, daß ein Zustandekommen der Erektion auf sympathischem Wege, das er im
Müllerschen Sinn , für möglich hält, die Lebendigkeit des in Wirklichkeit längst
zerstörten 2. Sakralsegmentes vortäuschen kann. Nur glaubt er, daß eine solche
Ersetzung einer superponierten spinalen Funktion durch einen sympathischen Reflex
in der ersten Zeit nach der Markbeschädigung noch nicht zu finden sein werde.
Unser erster Fall würde diesen letzteren Annahmen so ungefähr entsprechen, wenn
auch die Angabe, daß die jetzt häufigen Erektionen in den ersten Wochen der
Krankenhausbehandlung gänzlich gefehlt hätten, wegen des psychisch gestörten
Zustandes des Patienten nicht ganz zuverlässig sind. Das beiseite gelassen, würde
hier also von einer echten, für Markläsion sprechenden dissozierten Potenzstörung
nicht die Rede sein. Darüber hinaus finden wir aber auch Erektionen im zweiten,
dem Kaudafall, in dem sie nach der Theorie fehlen sollten und müssen nun ent¬
weder auch hier Sympathikustätigkeit oder das isolierte Erhaltensein gerade der
Erektionsfasern annehmen. Es ergibt sich somit, daß in unseren Fällen das Boen-
heimsche Symptom nicht erkennbar ist und seiner Anwendung in praxi jedenfalls
mancherlei Schwierigkeiten im Wege stehen.
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
C. Innere Krankheiten
XII.
Zur Begutachtung der Erwerbsfähigkeit bei der chronischen
Lungentuberkulose im Invalidenrentenverfahren.
Von
San.-Rat Dr. v. Golz,
Ärztl. Beirat der Landesveroicheningsanstalt Berlin,
z. Zt Chefarzt des Vereins-Laz. Beelitz.
Die Zunahme der Invalidenrentenanträge wegen Lungentuberkulose bei den
Landesversicherungsanstalten, eine naturgemäße Folge der durch Kriegsdienste
vermehrten Erkrankungen an Tuberkulose unter der versicherungspflichtigen Be¬
völkerung, lenkt die Aufmerksamkeit auch der nicht im militärischen Dienste
tätigen Gutachter aufs neue auf die Richtlinien, nach denen die Beurteilung der
Erwerbsfähigkeit Lungenkranker geschehen soll. Ein Blick in die allein während
der Kriegsjahre entstandene Literatur zeigt, daß die Beurteilung der Frage und
des Grades der Erwerbsfähigkeit keine leichte ist. Das Maß, mit welchem ge¬
messen werden soll, die gesetzliche Fassung des Begriffes Erwerbsunfähigkeit,
findet sich in § 1255 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung: „Als Invalide gilt,
wer nicht mehr imstande ist, durch eine Tätigkeit, die seinen Kräften und Fähig¬
keiten entspricht und ihm unter billiger Berücksichtigung seiner Ausbildung und
seines bisherigen Berufes zugemutet werden kann, ein Drittel dessen zu erwerben,
was körperlich und geistig gesunde Personen derselben Art mit ähnlicher Aus¬
bildung in derselben Gegend durch Arbeit zu verdienen pflegen.“
An dem Ausbau dieser Begriffsbestimmung ist seit dem Bestehen der Arbeiter¬
versicherungsgesetzgebung unablässig gearbeitet worden und wird noch weiter ge¬
arbeitet. Vor allem ist der höchste Gerichtshof, das Reichsversicherungsamt, hierzu
berufen gewesen. Überblickt man die Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts in
den nunmehr vollendeten ersten 30 Jahren seines Bestehens, so erkennt man, daß sie
in ihrer Art von jeder früheren Jurisdiktion abweichen mußte; Rechtsbegriffe und
juristische Denkweise sind mit wirtschaftlichen Anschauungen vereinigt und den
Verhältnissen des gewerblichen Lebens angepaßt. Sie ist erfüllt von jenem Geiste
des Wohlwollens gegen die Fürsorgebedürftigen und Fürsorgeberechtigten, den
man als sozialpolitisches Empfinden zu bezeichnen pflegt. Durch die Spruchtätig¬
keit des Reichsversicherungsamts, bei welcher stets das Bestreben darauf gerichtet
Digitized by
Go igle
y
Qriginal fro-m
UMIVERSITY OF MICHIGAN
304
y. Golz
ist, die sich darbietenden Verhältnisse des praktischen Lebens in ihrer Wesens¬
art zu erfassen, ist der Begriff „Erwerbsunfähigkeit“ von dem Begriffe „Arbeits¬
unfähigkeit“ und „Arbeitslosigkeit“ abgegrenzt worden.. Man hat dazu Stellung
genommen, das nach der gesetzlichen Begriffsbestimmung maßgebende Verdienst¬
drittel, die Verdienstgrenze, festzustellen; hat erläutert, was man unter Personen
derselben Art riiit ähnlicher Ausbildung zu verstehen habe; es sind die Merkmale
„Fähigkeit“ und „Arbeit“ dahin geklärt worden, daß Arbeit zum Erwerbe ver¬
wertbar sein müsse, daß die Fähigkeit zur Arbeit sich zwar aus der Tatsache,
daß die Arbeit verrichtet wird, ergeben könne, daß die Arbeit aber als gewinn¬
bringende Beschäftigung nicht berücksichtigt werden könne, wenn sie nur mit Ge¬
fährdung der Gesundheit ausgeführt werden könne.
Die viel umstrittene Frage, inwieweit die ärztlichen Gutachten für die
Feststellung des Maßes der Erwerbsunfähigkeit maßgebend sind, hat das Reichs¬
versicherungsamt namentlich in einem Rundschreiben vom 31. Dezember 1901
klargestellt. Danach findet die Aufgabe der ärztlichen Begutachtung im allge¬
meinen ihre Begrenzung in der Feststellung der physiologischen Folgen der eine
Invalidität begründenden Gebrechen. Dagegen bieten die sonstigen ärztlichen
Äußerungen, insbesondere darüber, welchen Einfluß der Befund auf die Erw r erbs-
fähigkeit des Rentenbew'erbers ausübt, den in ihrer Entscheidung selbständigen
Feststellungsinstanzen zwar wertvolle und bei inneren Krankheiten oft sogar un¬
entbehrliche, aber keineswegs bindende Unterlagen für die Urteilsfindung. Dem¬
gemäß würde es unzulässig sein, wenn die Feststellungsinstanzen einfach den von
einem Arzte angegebenen Prozentsatz der Erwerbsunfähigkeit ihrer Entscheidung
zugrunde legten, ohne die Frage nach dem Grade der Erwerbsunfähigkeit selbst
geprüft zu haben. Ein derartiges Verfahren, durch das eine der wichtigsten
Aufgaben der Feststellungsorgane zu einer mechanischen Wiederholung des Er¬
gebnisses der ärztlichen Gutachten herabgedrückt würde, entspricht, wie das
Reichsversicherungsamt ausdrücklich hervorhebt, nicht der Absicht des Gesetzes.
Für die Invalidenversicherung insbesondere ist unter Bezugnahme auf jenes Rund¬
schreiben hinzugefügt, wenn die ärztlichen Sachverständigen, wie es vielfach
Brauch sei, über die Fähigkeit des Rentenbew r erbers, den Mindestlohn zu ver¬
dienen, gehört würden, so seien die rechtsprechenden Stellen an derartige
Schätzungen keinesfalls gebunden. Der Brauch sei aber andererseits auch nicht
zu mißbilligen, denn solche Äußerungen könnten für die Urteilsfindung w r ertvplle
Grundlagen abgeben, wenn sie von Ärzten au^gingen, denen Lebenserfahrung
und sozialpolitische Schulung eigen sei. Deshalb werde es sogar erwünscht sein,
daß sich die ärztlichen Sachverständigen auch nach dieser Richtung hin aus¬
sprächen.
Aus dieser und allen übrigen Entscheidungen des höchsten Gerichtshofes
geht hervor, daß der Begriff der Erwerbsfähigkeit kein medizinischer, sondern
ein wirtschaftlicher ist, und daß der Arzt als Gutachter keine andere Stellung
einnimmt, als sie der gerichtliche Sachverständige vor den ordentlichen Gerichten
bekleidet. Wenn wir uns nach diesen Vorschriften, die teils vom Gesetzgeber
direkt gegeben sind, teils sich aus der auslegenden und erklärenden Judikatur
der richterlichen Instanzen ergeben und die uns als Führer dienen müssen, die
Frage vorlegen: Wie soll bei der Beurteilung der chronischen Lungentuberkulose
x
Digitized by
Google
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Zur Begutachtung der Erwerbsfäbigkeit bei der chronischen Lungentuberkulose usw. 305
das die Erwerbsunfähigkeit behandelnde ärztliche Gutachten aussehen? — so
muß die Lösung dieser Frage darin gipfeln, objektiv den körperlichen Zustand
des Lungenkranken zu schildern und denselben zu der Betätigung im Erwerbs¬
leben in Beziehungen zu bringen. Die Aufgabe des begutachtenden Arztes be¬
steht also darin, den Gesundheitszustand des Rentenbewerbers so zu analysieren,
daß der Versicherungsrichter Klarheit darüber gewinnen kann, inwieweit der
Kranke noch imstande ist, Arbeit zu verrichten, ob diese Arbeit zum Erwerbe
zu verwerten sei, darauf zu achten, ob er Arbeit auch nicht etwa auf Kosten
seiner Gesundheit auszuüben gezwungen werde und vre weit ihm unter Verzicht
auf seine bisherige Berufstätigkeit Arbeit in anderen Berufszweigen zugemutet
werden könne. Es ist also unter Berücksichtigung der beruflichen und allgemeinen
Erwerbsunfähigkeit des Tuberkulösen ein. Gesamturteil darüber abzugeben, um
wieviel seine Erwerbsfähigkeit Einbuße erlitten hat auf dem gesamten wirtschaft¬
lichen Arbeitsmarkt, der ihm nach Maßgabe seiner Geistes- und Körperkräfte
offen steht, ob die Erwerbsunfähigkeit mehr oder weniger als G6 4 / Ä Proz. beträgt,
ob also Invalidität eingetreten ist oder nicht.
Die chronische Lungentuberkulose entwickelt sich aus geringen Anfängen,
nimmt allmählich an Ausdehnung der örtlichen Erkrankung zu und führt erst in
verhältnismäßig später Zeit zu dauernder Bettlägerigkeit des Kranken. Mit der
besonderen Art aller, tuberkulösen Veränderungen hängt es zusammen, daß sie
der Anlaß für mannigfache sekundäre Vorgänge, für Giftwirkungen und Misch¬
infektionen werden, wodurch häufig auch in frühen Stadien recht bemerkenswerte
Einflüsse auf die Leistungsfähigkeit des Erkrankten ausgeübt werden.
Die Ansicht G’urschmanns, daß ein Lungenkranker von Anfang an und so¬
lange er an Lungentuberkulose leidet, gegenüber einer körperlich und geistig ge¬
sunden Person derselben Art mit ähnlicher Ausbildung in seiner Arbeitsfähigkeit
und damit auch in seiner Erwerbsfähigkeit mehr oder weniger geschädigt ist,
muß man unbedingt zustimmen. Andererseits gibt es Lungenkranke, die während
des ganzen Verlaufes ihres Leidens, solange sie nicht bettlägerig sind, eigentlich
nie absolut arbeitsunfähig sind, sondern auch in vorgerückten Stadien, in denen
sie vom rein ärztlichen Standpunkte ohne jede Bedenken als invalide bezeichnet
werden müßten, bei einer günstigen Konjunktur auf dem Arbeitsmarkt nicht nur
leichte Handreichungen, sondern auch schwere Arbeiten verrichten, und es ist
eine allgemein bekannte Tatsache, daß einzelne Tuberkulöse, denen auch der Laie
ihre Krankheit ansieht, jahre- und jahrzehntelang arbeiten, während andere, sich
einer kräftigen Konstitution Erfreuende in kurzer Frist dahinsiechen — daß es
arbeitsfähige und nicht arbeitsfähige Lungenkranke gibt.
Worin bestehen nun bei der chronischen Lungentuberkulose die objektiven
Faktoren, deren Nachweis zur Trennung dieser beiden Kategorien für die Ab¬
schätzung durch den Gutachter erforderlich ist? — Lassen sich hierfür allgemein
gültige Regeln aufstellen, die auch den Nichtmediziner, das heißt den Versicherungs¬
richter, in den Stand setzen, ein Urteil abzugeben?
Die früher sehr spärliche Literatur über die Erwerbsfähigkeit Lungenkranker
hat in den Kriegsjahren erheblich an Umfang zugenommen, teils in Original¬
arbeiten, häufiger in Vorträgen auf kriegsärztlichen Abenden an verschiedensten
Stellen. Neben diesen stehen die gebräuchlichen Lehrbücher, sowie die Dienst-
Zeitichr. f. phy.ik. u. diät. Therapie Bd. XXII. lieft 8 ». 20
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSETY OF MICHIGAN
anweisung zur Beurteilung der Militärdienstfähigkeit (D. A. Mdf.) und die vom
Kriegsministerium, Sanitätsdepartement, durch Erlaß vom 2. August 1917 bekannt-
gegebenen „Richtlinien für die militärärztliche Beurteilung der Lungentuberkulose"
zur Verfügung. Beziehen sich die in diesen Arbeiten niedergelegten Urteile in
der Hauptsache auch nur auf die Beurteilung der im Kriegsdienst stehenden oder
aus demselben zu entlassenden Personen, deren Erwerbsbeschränkung prozentual
abgeschätzt werden muß, so treffen doch die, durch Untersuchung und Beobachtung
unserer Kriegsbeschädigten gewonnenen Resultate auch für die Beurteilung von
Invalidenrentenbewerbern zu.
Die berühmte Naegelische Sektionsstatistik, in welcher nachgewiesen wurde,
daß 90 Proz. der Bevölkerung tuberkulös infiziert gewesen sind, hat in neuester
Zeit eine sehr bemerkenswerte Ergänzung durch eine Statistik von Reinhard
erfahren, die uns die ungeheure Durchseuchung der Menschen mit Tuberkulose
neuerdings deutlich vor Augen führt, andererseits aber die alte Erfahrung be¬
stätigt, daß sich der menschliche Organismus in der großen. Mehrzahl der Fälle
gegen den eingedrungenen Tuberkelbazillus erfolgreich zu wehren vermag. Diese
Statistik ist nach dem Lebensalter geordnet, und ihre wichtigsten Ergebnisse
sind folgende: Bei Neugeborenen fand sich nie Tuberkulose, bei Kindern bis zum
13. Lebensjahre, und zwar an Häufigkeit mit dem Alter zunehmend, 29,16 Proz.,
wobei sich feststellen ließ, daß die Tuberkulose mehr Neigung zu tödlichem Ver¬
laufe hat, je früher sie auftritt. Zur Zeit der Pubertät erfolgt dann ein ganz ge¬
waltiger Anstieg der Tuberkulosehäufigkeit, denn in der Altersklasse von 14 bis
17 Jahren fanden sich auf 100 Fälle 40 Proz., von 18 bis 20 schon 84,6 und von
20 bis 22 nicht weniger als 94,7 Proz. Während man auf Grund der Pirquetschen
Tnberkulinreaktion anzunehmen geneigt ist, daß schon bis zum Beginn der
Pubertät die tuberkulöse Durchseuchung der Jugend vollendet wird, geht doch
aus diesem Sektionsmaterial zweifellos hervor, daß tuberkulöse Erstinfektionen
auch noch im militärdie'nstpflichtigen Alter erfolgen. Unter den Erwachsenen er¬
wiesen sich 96,38 Proz. als tuberkulös infiziert, aber nur 22,2 Proz. waren dieser
Infektion erlegen, während bei den übrigen die Tuberkulose entweder als aller¬
dings noch aktive Nebenkrankheit oder (und zwar zunehmend mit dem Alter) als
abgeheilt zu betrachten war. Letztere Fälle machen nicht weniger als 66,2 Proz.
aller Tuberkulösen aus. Für den Gutachter ergibt sich aus diesen Zahlen die
Tatsache, daß unter 100 zu Untersuchenden über 90 schon eine tuberkulöse In¬
fektion gehabt haben, und es ist ihm die Aufgabe gestellt, festzustellen, ob die
Tuberkulose der Lungen noch im Fortschreiten begriffen ist; oder ob sie zum
Stillstand gekommen ist, oder ob sie im klinischen Sinne als geheilt angesehen
Averden kann.
Roepke vertritt die Ansicht, daß bei Lungentuberkulose, solange sie Krank¬
heitserscheinungen wie Fieber, Abmagerung, Nachtschweiße, Husten und bazillen¬
haltigen Auswurf oder gar Blutungen, unterhält, völlige Erwerbsunfähigkeit an-
ziuiehmen und solche mit 100 Proz. zu entschädigen sei. Hierbei kommt es nicht
so auf die räumliche Ausdehnung des tuberkulösen Lungenprozesses an, als viel¬
mehr auf seinen aktiven fortschreitenden Charakter, der durch die gesamten Er¬
scheinungen hinreichend erkennbar ist. Nun sind jedem Arzt Fälle bekannt, die
jahrelang an offener Tuberkulose leiden, ohne daß ihre Arbeitsfähigkeit nenneus-
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Zur Begutachtung der Erwerbsfähigkeit bei der chronischen Lungentuberkulose usw. 307
wert beeinträchtigt ist; jedem Arzt sind Fälle bekannt, die wochern und monate¬
lang Bazillen auswerfen, dann abazillär sich verhalten. Nun kann es keinem
Zweifel unterliegen, daß die Expektoration von Bazillen immer den Beweis liefert,
daß der tuberkulöse Prozeß in der Lunge in Bewegung begriffen und noch nicht
zum Abschluß gekommen ist, und daß die Gefahr einer Verschlimmerung durch die
Arbeit, welche den Wert der Arbeit im gesetzgeberischen Sinne zweifelhaft er¬
scheinen läßt, nicht auszuschließen ist. Grau gibt an, daß Leute mit dauerndem
Bazillenauswurf im Mittel als 50 Proz., solche, bei denen der Auswurf in kurzer
Zeit wieder bazillenfrei geworden, im Mittel als 33 l / ;t Proz. erwerbsbeschräukt zu
erachten seien, ein Beweis dafür, daß auch offene Tuberkulose immerhin noch
beträchtliche Arbeitsfähigkeit zulassen kann. In Übereinstimmung mit dieser Er¬
kenntnis steht das Bestreben, die Leute nach der Behandlung in den Heilstätten
ihrem alten Berufe wieder zuzuführen, die Einrichtung von Genesungsheimen mit
landwirtschaftlicher und gärtnerischer Beschäftigung, sowie mit Heil- und Ge-
wühnungswerkstätten, Womöglich auch mit Gelegenheit zu etwa nötiger Berufs¬
umbildung und Erlernung des neuen Berufes. Grenereil können wir also die
Differenzierung von offener und geschlossener Tuberkulose zur Beurteilung der
Erwerbsfähigkeit nicht verwenden.
Versuchen wir nun, unser Gutachten auf die Veränderungen in den Lungen
selbst zu stützen. Kann man die Turban-Gerhardtsche Einteilung hach Stadien
hierfür verwenden, daß man z. B. sagen könnte, alle Leute im II. oder HI. Stadium
seien erwerbsunfähig? Auch diese Frage muß mit nein beantwortet werden,
denn die Klassifizierung nach Stadien gibt uns zwar ein Urteil über die räumliche
Ausdehnung des Krankheitsprozesses, ob es sich aber hierbei um einen in der
Vorwärtsbewegung oder im Stillstehen begriffenen Zustand handelt, ob Bazillen¬
auswurf besteht oder nicht, das können wir generell nicht sagen. Es gibt eine
große Zahl von Tuberkulösen, die, nach der Ausdehnung des Prozesses zu ur¬
teilen, mit Stadium III bezeichnet werden müssen, welche jahrelang arbeiten.
Die Beurteilung lediglich nach der räumlichen Ausdehnung der Erkrankung kann
auf der einen Seite zur Überwertung ausgedehnter Befunde abgelaufener Er¬
krankungen führen, auf der anderen Seite dazu, daß Fälle mit wenig ausgedehntem
anatomischen Befunde auch als in jedem Falle wenig erwerbsbeschränkt be¬
trachtet werden. Wir sehen also hieraus, daß wir auch mit der Stadieneinteilung
generell nicht in die- Lage versetzt werden, danach die Erwerbsfähigkeit zu
beurteilen.
Grau hat den Satz ausgesprochen, daß die Begutachtung eines Tuberkulösen
ohne Röntgenuntersuchung unvollständig ist. Dem stimmen alle in neuerer Zeit
erschienenen Arbeiten zu, denn kein anderes Verfahren zeigt uns so genau die
Ausdehnung der tuberkulösen Erkrankung. In vielen Fällen ist sie größer als
wir nach dem Befunde der klinischen Untersuchung angenommen hatten. Häufig
liefert sie Bilder ausgedehnter, allerdings dann meist vorwiegend fibröser Ver¬
änderungen, sie zeigt vor allem in vorzüglicher Weise die Eigenart des anatomischen
Prozesses im einzelnen Falle. Büttner-Wobst faßt diese Erkenntnis in die
Worte zusammen: die Röntgenplatte übertrifft alle anderen klinischen Unter¬
suchungsmethoden bei der Beurteilung der Topographie einer tuberkulösen Lunge
an Objektivität und Schärfe.
20 *
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSETY OF MICHIGAN
308
v. Golz
Nun sind in letzter Zeit viel neue Einteilungsvorschläge entstanden, die sich
bemühen, klinische, röntgenologische und pathologisch-anatomische Erscheinungen
zur Grundlage zu machen. Es hat sich aus diesen Vorschlägen das Fränkel-
Albrechtsche Schema zur Einteilung der chronischen Lungentuberkulose heraus¬
kristallisiert, das nach Fränkels Vorschlag diese nicht nach der räumlichen
Ausbreitung, sondern nach der Art des anatomischen Vorganges einteilt. Frankel
unterscheidet die zirrhotische, die knotige und die pneumonische Form, die sich
nach wesentlich anamnestischen und klinischen Erscheinungen unterscheiden sollen.
Albrecht unterscheidet neben der miliaren die konglomerierenden, nodösen und
die konfluierenden Formen und trennt die letztere wieder in die zirrhotische und
die pneumonische. Für die physikalischen Kriterien der Hauptformen ergibt sich
folgende von Büttner-Wobst zusammengestellte Tabelle:
Erkrankungsform
Anamnese
Aspekt
Perkussion
Auskultation
Stimm-
fremitus
1. Zirrhotische Form . . .
Altes
Leiden
Einziehung
und Nach¬
schleppung
Schall-
verkQrzung
Verschärftes
Vcsikulär-
Atmen
abge¬
schwächt
•
Broncho-
2. Knotige Form ....
Subakuter
Beginn
Nach¬
schleppen
Dämpfung
vesikulär bei
Bronchial¬
verstärkt
atmen
3. Pneumonische Form . .
Akuter
Beginn
Nach-
sehleppen
Komplette
Dämpfung
großer
Bronchial¬
atmen
verstärkt
* Bezirke
Zwischen 1 und 2 stehen die knotig-zirrhotischen Formen, zwischen 2 und 3 die knotig¬
fortschreitenden und knotig-pneumonischen.
Bei allen drei Formen kommen Kavernen vor.
Zu dieser Einteilung äußert sich D. Gerhardt folgendermaßen: „So zweck¬
mäßig diese neuen Unterscheidungsweisen für die Beurteilung der einzelnen Krank¬
heitsherde sind, so haben sie doch den Nachteil, daß sie recht häufig Misch- und
Übergangsformen zulassen müssen. Wir finden eben bei fast allen chronischen
Fällen die vielfache Kombination von frischen und alten, von fortschreitenden und
vernarbenden Prozessen und finden diese beiden Hauptformen oft in verschiedenen
Stellen der Lunge auch verschieden überwiegend. So ist es ja gar nichts seltenes',
daß im Oberlappen vorwiegend Schrumpfung und Zirrhose, im Unterlappen vor¬
wiegend frische pneumonische und peribronchitische Herde bestehen, und für
den Kliniker kommt eine weitere Schwierigkeit hinzu: Wir können es weder
der Dämpfung noch dem scharfen vesikulären oder Bronchialatmen, noch den
Köntgenschatten anmerken, ob die Luftarmut des Lungenteiles mehr durch
frische Infiltrationen oder durch Bindegewebsvermehrung und Narbenbildung
bedingt ist.“
Zweifellos sind derartige Einteilungen geeignet, in die sonst kaum entwirr¬
baren Verhältnisse einige Klarheit zu bringen, wenngleich leider die Tatsache
Digitized fr
Google
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Zur Begutachtung der Erwerbsfähigkeit bei der chronischen Lungentuberkulose usw. 309
zutrifft, daß die theoretisch gut trennbaren Formen in Wirklichkeit stark inein¬
ander übergehen. Wir können auch unter Zugrundelegung dieses Schemas eine
generelle Definition über den Begriff der Erwerbsfähigkeit bei der chronischen
Lungentuberkulose nicht geben. Dasselbe muß man von der de la Camp’schen Ein¬
teilung, welche I. indurierende Prozesse mit oder ohne Einschmelzung (entsprechend
den zirrhotischen), II. disseminierende Prozesse, III. diffuse konfluierende Prozesse
annimmt und zugleich als Reaktionszustände 1. progrediente, 2. stationäre, 3. obso¬
lete Vorgänge annimmt, sagen.
Schon aus der Zusammenstellung dieser Klassifizierungsversuche, welche dem
inkonstanten und wechselnden Bild der Lungentuberkulose entsprechen, läßt sich
erkennen, daß eine generelle Definition über den Begriff der Erwerbsunfähigkeit
bei der chronischen Lungentuberkulose zu geben ganz unmöglich ist.
Im allgemeinen ist, klinisch betrachtet, die Prognose der Lungentuberkulose
um so günstiger, je langsamer die Krankheit verläuft, und man kann auch sagen,
daß die Dauer der Erwerbsfähigkeit uni so günstiger sich gestaltet, je chronischer
der Krankheitsverlauf ist. Bei dem vielseitigen Symptomenkomplex werden wir
auch im Einzelfall mit einem Wechsel der Verhältnisse rechnen müssen, und
häufiger eine vorübergehende Erwerbsunfähigkeit annehmen müssen, für welche
die sog. Krankenrente gewährt wird, bevor wir uns zu dem Urteil „Invalidität“
entschließen.
Was die Beurteilung des Einzelfalles anlangt, so ist hier die Hauptsache
die Voraussage darüber, ob wir es mit einem kranken Menschen, dem erwerbs¬
bringende Beschäftigung schaden kann, zu tun haben oder nicht. In all den
Fällen, in welchen hierüber Zweifel bestehen, ist nicht nur die Berücksichtigung
des Befundes, wie er sich durch eine unter Anwendung aller modernen
Hilfsmittel durchgeführte Untersuchung ergibt, ausreichend, sondern es wird
auch im Invalidenrentenverfahren unter Umständen eine Beobachtung nötig
sein, um die Hauptfrage entscheiden zu können, ob die Krankheit im Fortschreiten
oder im Stillstand begriffen ist.
Hierfür sind neben den lokalen Symptomen der Rasselgeräusche, der Menge
des Sputums, der Neigung zu Blutungen, der Reichlichkeit der Bazillen, in erster
Linie die Einwirkung .der Tuberkulose auf den Gesamtorganismus zu berücksich¬
tigen, Fieber, Ernährungszustand. Kräfteschwund, Schweiße, Pulszahl, Beteiligung
der anderen Organe, vor allem des Kehlkopfes und des Darmes, worauf Gerhardt
in der bereits zitierten Arbeit hinweist. A. Fränkel nennt sie die Aktivierungs¬
symptome und rechnet hierzu Fieber, Bluthusten, starken lokalen Katarrh, Abmage¬
rung. Unerläßlich sind hierbei die Beobachtungen über Körperwärme, Puls und
Atmung. Urteile hierüber können nur abgegeben werden, wenn in jeder dieser
Richtungen funktionelle Prüfungen vorgenommen werden, und es w r ird die Zeit nicht
fern sein, wo man auch bei der Lungentuberkulose zur Beurteilung der Erwerbs¬
fähigkeit Belastungsproben anstellen wird, wie man solche jetzt bei den Herz- und
Nierenkranken bereits in ausgiebiger Weise vornimmt. Für den Gutachter kommt es
ja nicht nur auf die Fixierung des klinischen Krankheitbildes an, wie es der Arzt
am Krankenbett feststellt, sondern wir sollen bei unserer Begutachtung die Tat¬
sache würdigen, daß der Untersuchte mit seinen Veränderungen imstande sein
muß, im Erwerbsleben arbeitend tätig zn sein. Wenn ich versuche, dies ins
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
310 v. Golz, Zur Begutachtung der Erwerbsfähigkeit bei der chron. Lungentuberkulose usw.
T 1 ' ’ ' ~- ~ ' " • -
Praktische zu übertragen, den gesetzgeberischen Ideen möglichst nahe zu kommen,
so handelt es sich um die Prüfung der Widerstandsfähigkeit des Körpers gegen
Einflüsse, welche die Betätigung im Erwerbsleben ausübt. Nach den Unter¬
suchungen von Tachau ist die Höhe der auftretenden Temperaturreaktion nicht
von wesentlicher Bedeutung, sondern die Schnelligkeit ihres Abfalls. Pathologische
Reaktion, verzögerter Abfall sollen öfter auch bei Fällen Vorkommen, die eine
normale Ruhetemperatur zeigen. Diese Tachau sehen Beobachtungen sind von
Grau bestätigt, und er ist der Ansicht, daß die Feststellung dieser Bewegungs¬
temperatur einen klareren Einblick in die Verhältnisse der Körperwärme gibt, und
eine latente Labilität aufdeckt. In den in der Lungenheilstätte zu Beelitz ge¬
machten Beobachtungen hat es sich speziell durch die Untersuchungen von
F. Salomon, die demnächst publiziert werden, bestätigt, daß der Temperatur¬
abfall bei den Lungenkranken sich nach Bewegungen oft erheblich verlangsamt.
Eicht unberücksichtigt und ebenfalls durch eine Beobachtung zu kontrollieren
sind die subjektiven Angaben der Kranken über persönliche Beschwerden, denn
die Akten der Versicherungsanstalten enthalten ein reichliches Material dafür,
daß man der Überschätzung der subjektiven Beschwerden eines Lungenkranken
seitens des Arztes nicht selten begegnet, In vielen Fällen ist das Gutachten auf
die Aussagen von Zeugen, z. B. des bisherigen Arbeitgebers oder Mitarbeiters
basiert, der über das Verhalten des Untersuchten während der vorausgegangenen
Arbeitsperioden vernommen worden ist, kurz auf Momente angewiesen, die sich
jeder ärztlichen objektiven Feststellung vollständig entziehen. Es ist also not¬
wendig, die subjektiven Beschwerden gegenüber dem objektiven Befunde vorsichtig
abzuwägen. Es ist manchmal erstaunlich, mit welcher Redegewandtheit und Sach¬
kenntnis Leute, vor allem frühere Heilstättenpfleglinge, noch vor der Untersuchung
alle die Symptome anführen, welche als Störungen des Allgemeinbefindens bei der
Tuberkulose bekannt sind. Je mehr die Symptome der Lungentuberkulose unter
den Versicherten bekannt werden, desto schwieriger wird die Kontrolle. Die Er¬
fahrungen, welche wir in der Versicherungspraxis gemacht haben, lehren uns, daß
hinsichtlich der Erwerbsfälligkeit bei der Lungentuberkulose nach beiden Richtungen
hin, nach dem zu viel und dem zu wenig, oft genug gefehlt wird. So falsch es
ist und so wenig es unseren Bekämpfungsbestrebungen entspricht, Lungenkranke
in bezug auf ihre Erwerbsfähigkeit zu überschätzen und ihnen die staatliche Für¬
sorge zu versagen, so verkehrt ist es, in nicht einwandfreien Fällen nur in dem
Bestreben, niemandem sein Recht auf Rente zu schmälern, ausnahmslos das Vor¬
liegen von Erwerbsunfähigkeit anzuerkennen. Durch solch übermäßig entwickeltes
Mitleid wird dem Versicherten häufig der nicht mehr ausrottbare Gedanke einge-
pflanzt, das er schwerkrank sei und der letzte Rest von Energie, den ihm viel¬
leicht schlechte Fortkominensverhältnisse noch gelassen haben, vollständig zerstört.
Zur Fernhaltung dieser subjektiven Beeinflussung des Gutachters wird ein Auf¬
enthalt zweifelhafter Fälle in Beobachtungsstationen nur förderlich sein und dem
Arzt und dem Versicherungsrichter, in deren Hände die Begutachtung der Erwerbs¬
fähigkeit eines chronisch Lungenkranken in Rentenverfahren der Versicherungs¬
anstalten gelegt wird, eine große verantwortliche Aufgabe erleichtert, dem Ver¬
sicherten alsdann mit der denkbar größten Gewissenhaftigkeit zu seinem Recht
verholfen werden.
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
E. Herzfeld, Über Puls- und Blutdruckunterauchungen bei Kriegsteilnehmern. 311
Literatur.
Büttner-Wobst, Die Fraenkel-AlBrechtscbe Einteilung der chronischen Lungentuberkulose
im Röntgenbild. Fortschr: a. d. Gebiete d. Röntgenstrahlen 1916. Heft 4. — Über das Fraenkel-
Albrechtsche Schema zur Einteilung der chron. Lungentuberkulose. M. m. W. 1916. Nr. 32.
Curschmann, Zur Beurteilung der Erwerbsfähigkeit bei der chronischen Lungentuber¬
kulose. Ztschr. z. KI. d. Tub. Bd. 18. S. 319.
Bockhorn, Die Arbeitsfähigkeit Lungenkranker und ihre Beurteilung. Ärztliche
Sachv.-Ztg. 1912. Nr. 8.
Fraenkel, Über Lungentuberkulose vom militärärztlichen Standpunkte aus. M. m. W.
1916. Nr. 31.
D. Gerhardt, Über Tuberkulose. M. m. W. 1918. Nr. 21.
H. Grau, Erfahrungen über die Begutachtung der Erwerbsfähigkeit bei Lungentuber¬
kulose. Ztschr. f. Tub. 1917. Bd. 27. S. 434.
Roepke, Tuberkulose und Krieg. Tuberkulose und Kriegsteilnehmer. Ztschr. f. Med.-
Beamte. Jahrg. 1915.
Horn, Zur Invalidenbegutachtung. Ärztl. Sachverst.-Ztg. 1917. Nr. 3.
Tachau, Temperaturmessung und Lungentuberkulose. M. m. W. 1916. Nr. 32.
XIII.
Ober Puls- und Blutdruckuntersuchungen bei Kriegsteilnehmern.
Von
Dr. Ernst llerzfeld (Berlin),
z. Zt. im Felde.
Die veränderten Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Kriegszeit sind natur¬
gemäß auch auf das Gefäßsystem nicht ohne Einwirkung geblieben. So hat
bereits in den ersten Kriegsmonaten das sogenannte Kriegsherz in der Literatur
einen weiten Raum eingenommen. Es handelt sich hier vornehmlich um die
leichten Herzverbreiterungen und Pulsbeschleunigungen, die häufig in kurzer Zeit,
durch Anpassung des Herzens an die veränderten Verhältnisse, zurückgehen.
Gerade im Verlaufe des letzten Jahres konnte man bei sonst normalem Ge¬
fäßsystem einige Beobachtungen, machen, die sicherlich wohl auch anderen auf-
gefallen, meines Wissens aber in der Literatur kaum oder so wenig erwähnt sind,
daß es im allgemeinen Literesse notwendig erscheint, hierauf hinzuweisen.
Bei den zahlreichen Blutdruckuntersuchungen mit dem Riva Rocci konnte
man immer wieder finden, daß das palpatorische Maximum auch bei Herzgesunden,
soweit sie im wehrpflichtigen Alter standen, gegenüber den Friedensbefunden
äußerst gering ist. Während der normale Blutdruck zwischen 110 und 125 bis
130 in der Regel schwankte und wir im Durchschnitt Werte zwischen 115 und
125 im Frieden fanden, sind jetzt Blutdruckwerte von 120 nur noch in seltenen
Fällen festzustellen. Als Durchschnitt aus sehr vielen Untersuchungen fand ich
Werte zwischen 98 und 112.
Ara häufigsten bewegten sich die Resultate um 105 herum. Die Durchschnitts¬
werte bei den oben bezeichneten erwachsenen Personen liegen etwa 15 mm Hg
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
312
£. Herzfeld
tiefer, als wir es aus früherer Zeit gewohnt sind. Es sei noch darauf hingewiesen,
daß die Untersuchungen sehr häufig wiederholt wurden und von Zufälligkeits¬
befunden nicht die Rede sein kann.
Auch für die Pathologie erscheinen diese Befunde nicht ganz unwesentlich.
Während man im allgemeinen — selbstverständlich nervöse Einflüsse ausgeschaltet
— einen Druck über 130 als pathologisch ansah, muß man jetzt eine Spannung,
die 120 überschreitet, sicherlich aber von 125 an, als erhöht betrachten. So fand
ich nicht selten bei alten Landsturmleuten, bei denen das klinische Bild eine
beginnende Arteriosklerose zeigte, Werte von 125, bei denen in früherer Zeit der
Druck mindestens 10 mm höher gewesen wäre.
In noch nicht veröffentlichten, in Gemeinschaft mit Dr. Mosler bereits vor dem
Kriege angestellten Untersuchungen, die an Kindern von 4 bis 14 Jahren gemacht
wurden, fanden wir bei den 11- bis 12jährigen Werte, die sich im wesentlichen
mit denjenigen decken, die wir heute bei Erwachsenen finden. Bei älteren Kindern
gingen die Werte vollkommen mit denen der Erwachsenen parallel
Von den Neurasthenikern abgesehen, fiel es mir schon im letzten Jahre im
Feldlazarett, w r o ich in ruhiger Zeit bei jedem Mann täglich den Puls in die
Fieberkurve eintragen ließ, auf, daß besonders oft bei jüngeren Leuten die Puls¬
frequenz wesentlich niedriger war, als wir es von Friedenszeiten her gew'ohnt sind.
Während wir bei Gesunden früher in der Regel eine Pulsfrequenz zwischen 65
und 78 fanden, waren hier Pulsschläge zwischen 50 und 65 sehr häufig. Diese
Leute hatten sowohl objektiv als auch subjektiv von seiten des Herzens keinerlei
Erscheinungen. Nach körperlichen Anstrengungen (Funktionsprüfung) fanden
keinerlei wesentliche Pulserhöhungen statt und waren dieselben fast stets schon
am Ende der ersten Minute zur Norm zurückgekehrt.
Noch deutlicher trat mir diese häufige Pulsverlangsamung bei der Unter¬
suchung junger Rekruten (19- bis 20jähriger) vor Augen. Ich habe daher eine
große Anzahl derselben systematisch untersucht. Da ich das ganze Material
hier nicht aufführen kann, so sei, da das Resultat sich stets wiederholt, in
nachfolgenden 4 Tabellen nur ein’kleiner Auszug gegeben.
Tabellen.
I.
♦
ii.
in.
IV.
Lfd.
Nr.
Pulszahl
Lfd.
Nr.
Pulszahl
Ldf.
r Nr.
Pulszahl
Lfd.
Nr.
Pulszahl
1
58
1
73
1
68
1
68
2
66
2
56
2
59
2
60
3
65
3
80
3
60 |
3
74
4
79
4
70
4
60
4
63
5
65
5
72
5
60
5
72
6
65
6
63
6
62
6
60
7
61
7
76
7
68
7
62
8
77
8
: 78
8
64
8
56
9
82
9
1 73
9
72
9
66
10
62
10
, 60
10
71
10
58
11
53
11
57
11
85
11
70
12
65
12
! 60
12
77
12
62
Digitized by
Google
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Über Puls- und Blutdruckuntersuchungen bei Kriegsteilnehmern.
313
Es handelt sich um Leute von Durchschnittsgröße, deren Gewicht im allge¬
meinen nicht allzuviel geringer war als wir es im Frieden bei dieser Altersklasse
gewohnt sind. Keineswegs verlief verhältnismäßig niedriges Körpergewicht
parallel mit niedriger Pulszahl. Ein Unterschied zwischen Stadt- und Land¬
bevölkerung war nicht festzustellen.
In folgender Tabelle sei als Beispiel eine prozentuale Berechnung der bei
einer Kompagnie angestellten Untersuchung gegeben, die sich mit den Befunden
bei den anderen Kompagnien deckt:
Prozentuale Berechnung der bei einer Kompagnie (194 Mann) untersuchten Leute.
Alter 19/20 Jahre.
Puls 50-60 61-65 66 -70 71-75 76 -80 80 u. mehr
Sa. 49 29 58 15 22 21
% 25 15 30 8 11 11
•
Die letzthin aufgeführte Tabelle zeigt, daß sich die Häufigkeit der Puls¬
zahlen zwischen 50 und 60 mit den in den ersten Tabellen aufgeführten Werten
im wesentlichen deckt. (25 °/ 0 gegenüber 27 %)> während bei der Kompagnie
im Gegensatz zu den ersten Tabellen die Pulszahlen zwischen 61 und 65 weniger
häufig Vorkommen, dafür aber häufige Pulsbefunde zwischen 66 und 70.
Diese Unstimmigkeit gleicht sich wieder aus, wenn man aus beiden Tabellen
die Pulszahlen zwischen 60 und 70 zusammenzieht.
Untersuchungen aus dem Felde haben gezeigt, daß bei jüngeren Leuten, die
herzgesund und körperlich leistungsfähig sind, auffallend häufig Pulsverlang¬
samungen gefunden werden, die nicht selten zwischen 50 und 60 Pulsschlägen in
der Minute schwanken.
Auch bei Blutdruckuntersuchungen sind die Durchschnittswerte — meine
Untersuchungen während des Krieges sind ausschließlich im Felde bei Leuten im
wehrpflichtigen Alter angestellt — tiefer als früher.
Blutdruckwerte von 125 an, vorausgesetzt, daß nervöse Einflüsse ausge¬
schaltet sind, müssen zurzeit schon als leicht erhöht gelten.
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
314
Hans Schirokauer
XIV.
Die klinische Bewertung der Plethysmographie
bei Herzkrankheiten.
Von
Dr. Hans Schirokauer, z. Z. ldstpfl. Arzt,
I. Assistent der Kgl. Universitäts-Poliklinik für innere Medizin.
Ich bin mir bewußt, daß ich mit dem obengenannten Thema ein klinisches
Neuland betrete. Wenn ich trotzdem im Rahmen dieser Festschrift über Erfah¬
rungen mit der Plethysmographie bei Herzkrankheiten berichten will, so geschieht
es, weil ich glaube, daß diese Untersuchungsmethode mehr als alle bisher an¬
gewandten Funktionsprüfungen des Herzens geeignet ist, unsere Erkenntnis auf
dem Gebiet klinischer Forschung zu fördern, auf dem gerade Goldscheider durch
die Ausarbeitung seiner Methode der Schwellenwertsperkussion für die Untersuchung
des Herzens eine exakte Grundlage für die Klinik geschaffen hat.
Auf den von der Redaktion unter dem Zwange der Kriegsverhältnisse ge¬
äußerten Wunsch Irin wird sowohl in den Ausführungen als auch in der Wiedergabe
von Kurven eine gewisse Kürze notwendig werden; ich behalte mir vor, später
über meine mit der Plethysmographie bei Herzkrankheiten gesammelten und noch
zu sammelnden Erfahrungen ausführlicher zu berichten.
Die physiologischen Grundlagen der Untersuchung mittelst der plethysmo¬
graphischen Arbeitskurve scheinen mir durch die jalirelangen Arbeiten Ernst
Webers („Der Einfluß psychischer Vorgänge auf 'den Körper, insbesondere auf
die Blutverteilung“. Berlin 1910} sichergestellt. Es handelt sich bei dieser Methode
um die Aufzeichnung des Armvolumens während der Ausführung einer kräftigen,
aber auf ein möglichst weit vom Arm entferntes Muskelgebiet beschränkten-Arbeit,
die in schnell aufeinander folgenden,' 10 bis 15 Sekunden dauernden Fußbewegungen
im Sinne der Plantar- und Dorsalflexion besteht. Dabei findet bei gesunden Men¬
schen während der Dauer der Fußarbeit eine Zunahme der arteriellen Blutfülle
aller äußeren muskulären Teile des Körpers mit Ausnahme derer des Kopfes statt.
’ Gleichzeitig nimmt die Blutfülle der Bauchgefäße durch Verengerung derselben ab,
die Blutzufuhr zum Gehirn nimmt zu. Nach Weber kommt dieser Vorgang durch
zwei Faktoren zustande, erstens infolge der aktiven Erweiterung sämtlicher äußeren
Blutgefäße bei gleichzeitiger Verengerung der Bauchgefäße unter dem Einfl uß von
Erregungen der Gefäßzentren im Gehirn von der motorischen Rindenzone aus, zum
zweiten durch die bei der Arbeit verstärkte Tätigkeit des Herzens, dessen Schlag¬
volumen vergrößert und der Peripherie zugeführt wird. Nach Beendigung der
Arbeit fließt die so vermehrte Blutmenge aus den äußeren Teilen schnell wieder ab.
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
mm
l>j*5 klinische lieivertting <H't Plethysmographie bei Herzkrankheiten
ln » v iio-v Kufvo ausged nickt stellt sieh der erwähnte Vergnüg.r'o 1 f?fut/ri*jtt 3 1W‘I»
sdgr (k A.bb> 1). Das Zrifebe.h < -*-) zeigt den Anfang. das /eiche» 1 - ) «bis jedes-
malige Kinie der Ftiimrhvi! an, Die um« ,-ru Kumt i.si immer di«- Atnmkurve. in
dieser Xonualkitrve, Ist die Arbeit ywceimal wiederholt., wie ja uberhanjH jvi.lv. Kurve
meim-ru Male weschriftheft werden muH. Man sieht dabei. düü die Kurve bej Beginn
-i. e Arbeit viiii d-r ih>riz«<ttn»k-n ziemlich seltnen an.steigt urtd.wtcb Kud« derselbe»
seluml.1 j'm-Ausgawg'Shoi'iünntiüeö xurttek keimt. Die «weite Kurve ist et «vis niedriger
intidge. einer in diesem KaUe z«ii'ätlig ••-- mit verminderter Kraft uusjreführten
Fmiarbeit, Bt*hle ‘ rstsp&ft niit Aiti> und Abstieg etwa ei» gleidisdifenk-
Ibhes Dreieck dar,
Abb. 1. Nonnalarbeitakurve (mit Afemknrve)
Wdfd'>.utd die. Kurve der Abbildung: ? in frischem ./»Stande der gesmulen
Vt»michsiK*iyt»ü sofort nneJt dem A üfsjte.heu aiifgenuininen wurde stellt' die folgende
Kurve ( 2 ) das Pletht äuiogramm Jers*'lbe» Versuchsperson. am gleichest Tag«« »;h )i
geWubnheiD'gf’nUUbU' tüisrvenge.uder l'ngearbeit dar., Auch diese Kurve ts«t.<üiiv
tiorrnale ansletgtgide. Ar'Ueit-.kurve. Die übliche. gmCidinte Tätigkeit ruft wuuir-
keim- VevandenuiL* der Arbeitskuvre hervor. liu allgemein eü Dt ex jedoch,
besonders in «weiMhftften 'Fallen, rat:-am die 1 morsneimng iii irischem'Zustande
der \ • rsueiisjiH sarj vorziinobme«.
Attf die Mctlualik dar tdrUbyshmgrajiiiiidieB Arbfeitskurve hei iferzkrankeu kan«
ich ans dem «bwi erwähnte« freunde in dieser VerntfenllichittiK nicht gemuier dugehe«.
Ich ve.r»'C}se ««f die grundlegende Arbeit K, Webers .(BolvarsitiU .HoHi») tZtsehr. *.
exper. Patlr. a. Ther. Bd. 18. Heft 2. 1910» ond. auf dir bestädgewjtjrD'iu'efsovhnngs-
ergebrifese L»Un(rers (Ztschr. f. Kdu. Mediziq. Kd sf->. U*:Tr Km* einige allgemeine
OesichtspitnhtB «lnö ich erwähnen, jeh kämt-, j^üf/äh*'.^oi^f^gea'.'deT. genannte«
Aatoreu vall «Sd gatiz Hftschlfeßeii, daß die SchwieiifriNtfrtf Aef M«vhod^-öi‘t uflter&ekiitat
wejräqrt. Sicht %ivra in. dem Sinne, daß dietMi darob sorgsam«
316
Hans Schirokauer
haltenen Kurven unterstützt worden. Erst nach vier- bis fünfmonatlicher intensiver
Beschäftigung mit der Methode glaube ich jetzt von einem Beherrschen derselben
sprechen zu dürfen.
Was die Stellung, in der der Patient untersucht wird, betrifft, so ist von Weber
die sitzende und liegende in gleichem Maße angewandt worden. Dünner scheint die
Untersuchung vorwiegend im Liegen mit einem besonders konstruierten Betttisch für den
Plethysmographen vorzunehmen. Auch ich habe beide Lagen angewandt; im ganzen
untersuche ich die Patienten zuerst immer im Sitzen — von an sich bettlägerigen ab¬
gesehen — und wiederhole nur bei körperlicher Unruhe die Untersuchung im Liegen.
Nach eigener Erfahrung bevorzuge ich dabei wie Weber die Lagerung des Apparates
mit geeigneter Polsterung auf dem Körper des Patienten selbst, wobei etwaige Er¬
schütterungen des letzteren vom Apparat gleichsinnig mitgemacht werden, und wähle
ein Lager, das auf der Seite des untersuchten Armes längs einer Zimmerwand steht,
um durch letztere einen gewissen Halt für den Plethysmographen im Verein mit der
Polsterung zu gewinnen. — Irgendeine Belästigung, selbst dyspnoischer, liegender
Patienten durch den Aufbau des Apparates wurde immer in Abrede gestellt. Im Gegensatz
zu Dünner und zu persönlichen Mitteilungen Webers, nach deren Ansicht die Unter¬
suchung bei Männern im allgemeinen leichter und schneller als bei Frauen sein soll, muß
ich sagen, daß ich irgendwelche Unterschiede bei beiden Geschlechtern in bezug auf die
Untersuchungsschwierigkeiten nicht gefunden habe. Auch habe ich es bevorzugt, um
jede störende Ablenkung des Untersuchten zu vermeiden, den Patienten meist ohne
beobachtende dritte Person zu untersuchen. Im allgemeinen läßt sich trotz der not- -
wendigen scharfen Beobachtung des Apparates der Patient auf die Befolgung der für
die Untersuchung erforderlichen Vorschriften hin hinlänglich kontrollieren, zumal der er¬
fahrene Untersucher sofort etwaige Fehler, die meist in kleinen Bewegungen, falschem
Atmen, steifem Sitzen, fehlerhafter Fußarbeit usw. bestehen, an der Kurve erkennt.
Statt der Fußarbeit mit Dorsal- und Plantarflexion lasse ich häufig, wie Weber
schon angegeben hat, nur dauernde Dorsalflexion ausführen. Bei vielen Patienten ist
der Arbeitseffekt ein größerer, und die Möglichkeit unerwünschter Mitbewegung anderer
Körperteile wird dabei oft herabgesetzt.
Auf die selbstverständliche Notwendigkeit der gleichzeitigen Registrierung der
Atmung ist von Weber gebührend hingewiesen worden. Infolge plötzlich vertiefter
Atemzüge kann ein Sinken der Kurve herbeigeführt werden durch Ansaugen des Blutes
von der Peripherie und damit auch des untersuchten Armes nach dem Brustraum hin.
Andererseits wird aber durch einen ganz tiefen Atemzug die Kurve zuweilen ruckartig
in die Höhe getrieben, indem der Schultergürtel verschoben und dadurch der Arm in den
Plethysmographen weiter hineingetrieben wird. Auch alle diese Fehler erkennt der
Geübte schon an der Art der Kurvenänderung. Endlich sei noch erwähnt, daß ein
ganz besonders wichtiges Kriterium für die Richtigkeit der Kurvenaufnahme ist, daß die
Kurve nach Beendigung der Probefußarbeit wieder zur Ausgangshorizontalen zurückkehrt.
Die meisten meiner Fälle wurden an verschiedenen Tagen untersucht, und immer wurde
der gleiche Kurventyp bzw. je nach Veränderung des subjektiven und objektiven Herz¬
zustandes eine entsprechende Kurvenform gefunden. Jede Untersuchung dauert etwa
eine Stunde.
Die oben dargestellte normale plethysmographische Arbeitskurve, bei deren
Zustandekommen, wie erwähnt, nach Webers Feststellungen zwei miteinander
wirkende Komponenten tätig sind, nämlich die von der motorischen Rindenzone
zu den Gefäßzentren weitergegebenen Erregungsimpulse und die gleichzeitige
Verstärkung der Herztätigkeit, muß eine Veränderung erleiden, je nachdem einer
der Kräftefaktoren in seiner Wirksamkeit gestört ist. So fand Weber bei allen
Menschen durch eine den ganzen Körper erschöpfende Muskelarbeit (große Märsche,
Schwimmen, Turnen) bei der plethysmographischen Arbeitskurve eine umgekehrte
Gefäßreaktion, die in Verengerung der sonst erweiterten Blutgefäße besteht. In
Digitized by
Gck igle
Original fro-rn
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die klinische Üewer0>ftg der MstJjysmögrapftie bei Hrtakfflskheitfeh.
Kurvenform bedeutet da? eine Senkung der Kurve unter die Horizontale während
der Probearbeit und nUinählielwn Anstieg Ins zur Ausgangslinie nuch Atifliömt der-,
seiimig wir erhalten die sogenannte negative Kurve. Diese umgekehrte rteiäi'*-
r.akttuii macht bei GeHutiden aber schon mich zweistündiger Ruhe der nernrale«
Reaktion wieder JE%rbt Weber erklärt den Aui^raug durch das Auftreten yon
EruiiidungsstoiTen int Blut infolge. von Muskelarbeit,' die ■.■■eine schädigende Wirkung
auf die Gefäflzenire» beryomifHu, Auch bei manchen Krankheiten oder Vergiftungen
('/.. B, schwerer f'hlorose. Diabetes 'mellitus. nach Infektionskrunklieiteu, Gehirn'
•srse.hütterung und hei Gnsv'ergiftnng; tritt die umgekehrte Getäßreukrion hier
dauernd ohne erschöpfende Muskelarbeit auf durch Veränderung der Funktions-
riclitung der Ge.fnßzentrexi im Gehirn, Die ausführliche Darstellung der Web eis
sehen Anschauung ist tu der wrwiihwv» Arbeit über seine neue Herzuntersuehungs-
■nietiM'de. Dft-iisohr. t'jiv expejm' PHtSiülogie und Therapie. Btt. Id, lieft.A. Ptirt
.•hachzuieseu. Es war nun tolgericlmg, wmiu Weber nach seinen Feststellungen
der Veränderung' der plethysiwograiduscht-n ArheUrkUrve durch Schädigung ' des
einen sie bedingenden 'Faktors, nämlich der .Hirnrinde und des («*fäikdB.tnuvi>.
auch dein Einfluß der krankhaften Veränderung der itndevgn' KoMj'roieafe, des.
Herzens, auf die Arbeitskurve nädtging. Weher fand nun hei der sjstwmuischeü
Untersuchung von Herzkranken drei verschiedene KurVermtleiv. I, die umgekehrte..'
i». die träge, K. die iiadurägücii-ansteigende Kurve,
Ich habe im Laufe der letzten ö los ß Monate die AVe berschen , Unter-.
sucbüngHi ttachgepriitt und milchte zunaclrtt. an der Hit ml meiner Ergebnisse, die
von Ayebpr angegebenen Kurvenfonnen erörtern.
Ich behandle zunächst die negative (umgekehrte) Kurve.
In Fällen von .schwerer Insüftiziemt des Herzmuskels fand ich in mehreren
Füllen- die genannte und schon oben erwähnte Kurvenform. Bet Beginn der
ProlHdußarbeit fiel die Kurve unter dte
Horizontale, um nach Aid hörnt der Arbeii-
mehr oder wenigef Anhntdl xrtr Ausgangs-
Kuie zmrwck/ukehrrn. Als Beispiel dieser
Kurt t idonn diene die Abbildung Ö, die
von einem PAfifenfeit buPFdttherZgewoihfen
wurde. Weber .sieh« in dieser Kurven- ;
form das Zeichen dafür, daß das Herz
nicht mehr zur genUgendei) 'i5tnit?rst.ofl-
versorgung*; des Blutet? hinmhltt Durck
die mangelhafte Arterialisierung und den
dadurch bedingten m,-lVrt.chuß «iMt -'M'k Nc^iiv, Kurve,
durdi andere schädliche BeittilsdiUHgen (r>fo'Ani»i.iipki.n« wurde an dee Klammer
des Blutes werde]» auch hier wie -durch ..arni tcchni3chc.n. driindoti defcrgesleltt.ii
die obong. tuHititeu BimmäTidcHingeü die
4 »cfabzentroh so geschädigt, daß .sie mit inngrkeUrier Reaktion antworte».;
Auf die l;Htrt-schcidungsmögfiehkeiteu dieser durch die mangelhaft.*--Funktion
des Herzmuskels vcmrsacliteu »CgaU.vtm. .Kurve von den durch die oben erwähnten
Ursachen bervorgevutetu-H gteicbaiiieeU Kurven hat \V-ebet‘- •'!. El und au.-ti
iMinner (j. g.) iUrsfüluiioh hingewiesnh, Kohtrierigkeiteii. könnten mir entMehcn.
«1
wenn einer <)f r nbeHggn.'UmtP« kriijiklmUen Xitstiuide e.ii.üiwl
i-iiifi t?>:?-z*«<• isk*■ li• f!f»>U1my
Während ilirn die negative Kurv«-, t’ii-* de« schb-ehfe;.?en vbifsand des 0§m&
Kl «■!'-!.ihi - ivr^jclmi't. oih- !(«■' «idirgkte F*•!<.*«* der uiigeiiiigeudrii iP rxPUigk'u
iiifVdg» der HiangrlluUl.en Aitenuh-irnojg des Blutes fcf, «••--••!! die jetzt ><« ’Jtj^
'l>r«u-iif]i<l«*u Kurve« die WivksyiViki'iVd»"K Hi-rzfakiM-s unWiifielbei neben decAfi.mi-
kimijemrute *-;rk tili um }. Diese K um-« hnt. Weher 1. r||o tragt 1 warf ä. die
imm n<‘iul•• geiiami?.. Trutz des mb M die-m- Vorhesjinjeltmtg nb»Mi-
gfi'i4i««Mi Theinas eviggcsii‘«'kl.e« ItsjliiiMMi« tultjl if-t» lif'i diesen Knrvvömie« etwas
hinget- vsrvi^vji^n,' w*>i( grradhAdb jofr tMtitMt &‘t.ß>t.Ab
IlmknifT ixiii' die in jedem AHgerddick Vv.ritniii’i'fif' s {njftgsfäbigReit des Herz-
itiu-'n--!' n «geholt /il küllin-ll >••■>■ iMilHl.
1 r|i komme 7.uV'7>i 7.11t :i*r**i« Kim'.i;*- WnhmHl. wie- bhpii
•lurge-tnllt wurde. iwi der mirntübbt Kurv» 4 s*»fmt nach Duhmcn 'Irr Arbeit Mi.*
Kum 1 . svitiier abfülit und der älbalkmde beheiikel etvbidie jii^u jJ«*h äiUSdeigrikhui
hat, kann bei (irr jetzt. hrliiUnli-ltiii KiinderAbiwUsehenkel dir -J- bis
'•fadik Länge »ins ai?t>fniirninit‘ii yrhidieu, .Das.Absteigen der Kurve wml mm
* vwiesenvriMubeu dm-tdi ddA- Zurik-kstronien des Blutes xtuij Merzen ausgebrückr.
das während der Arbeit dmbh die Zentralbedingt« •i^tefiiimvuiterun^ o'iid die vftr-
iiHhrte lierzurb«-« zur- Jvripherie in veriudn-rr Mengm gotm-ben worden xw.
Wider hui gezeigt, daB dieses Zvirid-kstrnnsen ohne akmV Tätigkeit rW'Dwfsükv
sondern lediglich durch die Herztätigkeit (inid den föztndersMmn itrin k im Brüst¬
en uni) stattfiudet.,
Ist die Autiiabuieläiiiirkdt des Herzens für diesen BliUiibeiswhuli henthgesmzt.
so tmiLi eine langsam aMallende Knrve zustande kflnimpn, it-li UiVbe. iittd did t#äg;e
Kurve bei vrtwhi'^lenfeu krankhaften Herzzu^tnuden gefuwdmi. Am nuJwdie?tm<sfen
wäre ja dieser Befund bei Veränderungen der rechten Herzhöhle. #mn Beispiel
kennte ich bei l,ungenemplty:-ein. vv<<
-I • •-
nii
Al)b. 4v ittägi?- Knr?e.
Hueli. mit
einei geringe liildtäitndt des recht».’« Veu-
tnkpls: gef und eii witrd^ die gen.umte
Ktifvrmirt feststelleir Aber auch bpi
«llgeiiieider Hvh Wfieiinug dee ifezeJis.
Wi den nnrer tltni kriegs-»-ipti«ssep hiiu-
tigeti sfigetiHiinteti icniiudiuigsiiefzen,
die anbei- einer ei tiebiieluMi Steigerung-
der Herztätigkeit häutig keinen mit
andeveii Metlmden i IVrknsM*»», Rentgeumiursu- bmig; miet.'.veisbaren kraukliuttvii
Befund i vvebi i:, fand ii'l. die träe, Kurve. ^ die iu der Abbildung -t »H; Ibfr-
steltting gebrächf i>f ;
Hndii'-U timtet man diese KurmdVirm des .prtejvu b<-j Adipösen, bei den-n
duveii kein andere- kliin-ehes Hüfsmiriel eine [BrziunktiunsstPrafigsdvyriesen
v. i i den keim, ideale bei Fdf-debtigeu befiridi.m wir ine- >d! in bezug auf die lie-
iivttdjting der Heizkian in Verleg,.]iie-ir, nm- duicb die plHliVsinugratdiiseiie Kurve
xVil'ri in Vielen Fä)(eü eiue Slaumig evkamit. *h d;t!> vni in ihr ein ir -.imn is feutes
knterim)i fiii eine uh 'ii ii e-eniiK'- ilerzniij.sk etveräfideriing-^ zu besitzen scheinen.
Die klinische Bewertung: der PlethysinogMjjbie bei Hmkrankheiten.
m>‘ ^iüruiig dev Ibnzfunktbiii, bei dei es zu einer! trägen
besitzt 'film iiüenbur ein*. j»r«Üe. Hndte. . Wie fhierseits.— wie «■!
■fee ihm bet gönz lemilTen >taiUlfignw i'iil -vvub,'•«.-» Kreislauf -tiesf k
Hin. die na eh W'ctiei s Angaben dureh geringe tbeviijieotisehe- J
fterz-.oder besser üüütluiKissätrv. in eine ifoiiualt- Kurve duveli f
'■>?-ttiiipür s'Hf'Uv verwandelt werden kann. sb gibt es träge Kurve«.
ihger l^peiiinentelier. Krmhdune' de}' Versnelisjiersoj! — vu-.n |
1 l.ij' 1*4 Minuten ili;i!ei Ildes Anitstiilii'ii — in ei«/ 1 negativ»-.. Km
ffiel; fftidil ein‘ti di>- jsresrlHviirhie J:trrziimkti*.».n hiebt mehr zur
■"srttnu'-tutfV'M'Surgtllig des ■ ' -k ' ' ■■■' - ..-k/Je
JÄ1W tmd bestiuders' tiefe
vierälizi-ntiduis uns. ;
Bvi glehdizeitigeritv-
I »ertruglifo des I ihken Ile#,-.
veitlHkels tiVwl ieb n'iif W-te
l»et\ wie auch IMunter be¬
st ütigte,, in «1 en a Üenm-is?eh
Füllen die von Web-ef ,j*ö
heze-iehflerä ..naddräglieh-
« ns teilende" K urve i Abb. bi.
Das ciiarakteristifeciie
Merkhiäl dieser Kurve ist,
Mali sie nach dem Aufl,ihren
der Pridiefuüurbeit riii'jil zur Hurizuntiilen
weniger langen wtdieren Aa&tfeg" v *fthi daun
Ausgangslinie/ xurüekxukehren. Weber ehcwiekel
dieser Kurve eine .sehr, ansprechend»! Theorie.
l>er hypertrhi>bis»dH} Hake Ventrikeln dessen I
gleich iKarrektimu einer fnsiifßzienz des Be#
anatnmisebeii Onmdbige, entwickelt hat, arbeitet
Kummer nach dein ’ jKhde; der BidbefaiiarbeB ttdbb
'.eh seht er Weise, aber iuimt>riiiu starker «ls - um Bt
Abb. 5. KaehtrÄglieb ansteigende Kurve
.bei Mvottlegcueriitia eordts arteriöskJerotiea).
320
Hans Schirokauer
Wenn es auch nicht gleich ersichtlich ist, wieso bei korrigierter Herzfunktion
— denn das ist ja der Zweck der Hypertrophie des linken Ventrikels — noch
weiter Reize • zu umgekehrter Gefäßreaktion entstehen als Zeichen einer gewissen
mangelhaften O-Versorgung der Zentralorgane, so w'erden andererseits weitere
Kurven dieser Gruppe zeigen, daß nur durch das Wechselspiel beider Komponenten
sow r ohl der Hirnrinde mit dem untergeordneten Gefäßzentrum als auch des hier
hypertrophischen Herzmuskels, die weiter unten zu beschreibenden Kurven zu¬
stande kommen können. Gerade hierdurch gewinnen wir einen tieferen Einblick
in die Feinheiten des Herzmechanismus. Ich kann deshalb auch Dünner nicht
zustimmen, wenn er für die Deutung der nachträglich-ansteigenden Kurve den
hypertrophischen linken Ventrikel allein heranzieht. Die bei der Probefußarbeit
stärker arbeitende Kammer wird mehr Blut,in die Peripherie w r erfen, die Kurve
wird ansteigen, sogar eventuell steil ansteigen, sie w'ird aber nach Aufhören
der Fußarbeit nicht weiter nachträglich ansteigen, weil die Ventrikeltätig¬
keit sofort schwächer und somit die Kurve langsam zurück zur Horizontalen
führen wird.
Es wird sich bei der von Dünner entwickelten Anschauung eher eine träge
Kurve ergeben. Und in der Tat kommt es, wie Weber auch festgestellt hat, bei
Besserung der die Hypertrophie verursachenden Insuffizienz des Herzens durch
den Wegfall des Reizes der Gefäßzentren mit ihrer daraus resultierenden Reaktion
zur Gefäß Verengerung, in der angeführten Weise zu einer trägen Kurve. Diese
läßt sich aber wohl von der trägen Kurve bei Stauung unterscheiden. Bei geringer
Stauung wird diese träge Kurve durch Herzmassage oft in eine normale, bei
schlechterem Herzen durch eine experimentelle Anstrengung (Armstoßen) in eine
negative Kurve verwandelt w'erden können, während eine träge Kurve bei links¬
seitiger Herzhypertrophie als Zeichen einer verhältnismäßig vollkommenen Herz-
muskelleistungsfähigkeit durch den Reiz der Herzmassage auf den hypertrophischen
Herzmuskel in eine .nachträglich-ansteigende übergeführt werden kann. Auch
sprechen wohl eigene, noch nicht abgeschlossene Untersuchungen bei sog. Sport¬
herzen, die nach Dünners Anschauungen eine nachträglich-ansteigende Kurve
darbieten müßten, gegen dessen Ansicht über die alleinige Wirkung des hyper¬
trophischen linken Ventrikels. Im übrigen erkennt Dünner bei den Abarten
(s. u.) dieser Kurvenform durchaus das Wechselspiel der beiden genannten Kräfte¬
faktoren an.
Der in Kurve 6 dargestellte Fall bezieht sich auf einen mir zur Begut¬
achtung überwiesenen Patienten, der eine alte Herzerkrankung zeigte. Klinisch
stellte sich das Krankheitsbild dar als eine arteriosklerotische Herzmuskelerkran¬
kung mit Dilatation nach rechts und links bei gleichzeitig leichter Leberschw'el-
lung. Gemeinhin wäre auf Grund unserer üblichen klinischen Untersuchungs¬
methoden der Herzmuskel in seiner Funktion als ganz schlecht zu beurteilen
gewesen. Ich erwartete bei der pletlysmographischen Untersuchung eine negative
Kurve. Es fand sich aber 'die obige nachträglich-ansteigende Kurve in mehr¬
fachen Sitzungen. Bei der letzten Untersuchung, der Kurve G entstammt, waren
15 Minuten vorher sogar 30 Kniebeugen gemacht werden, die ich ohne Kenntnis
der Herzmuskelkraft aus den früheren Kurven nach dem sonstigen klinischen
Befund dem Patienten nicht zuzumuten gewagt hätte.
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
i>ie Ufinis^hö B^ertuofj der PJeth}’«mi»^phve bei HeiikraaklifiifB
Die AbbUjungfm ü:
tahigkelt ?lfe
Ötsrztnttskeis bei einem Falle einerlange tob mir beobachtet.»:-!]
jfölteRmsitftizieiiK (Frb Meta P.) wieder. --. Ine Kune K-:«*igt die rimdttrö glich-
ansteigende Kurve mit subjeküy stark eoipfuiidvnem Herzklopfen. und H/Tzättndie.
Kurve T stellt di« un- ._ _ __ _____________
H ergUtt fgkejr: bei sub¬
jektive« starke» dyx-
piniisehen Beschwer-
dun null objek¬
tiv iestgfstell- flj
tetr: J&weite- ■
rttiig; auch der gls
rechten Her?- |H
kammer in Öe- B
stalt einer ne-
g-Htiven Kurve plj
als Zeichen *]i
eduer starken Hj
Iiisnötzien? des
Herzmuskels. Abt
Auch in
einemFabvetS
Mitralstenose mit klinisch gu-
i er Kbütpeiisatioft bei Hypdr-
trojdiie und DUatation des
linken Fent rikels erhielt ich
eine immer wiederkehrende
tragF Knrye. während ein
anderes : Mal bei experimen¬
teller. Ermüdung der Pa¬
tientin eine tnichfräglirli-
ansteigende Kurve unftrat.
weil dann die bis dahin
latente Henervekraft des bypettropUiiadieii ..Muskete herangezogen werden. - nt Hilf tu
Interessant war bei dieser Patientin die Tatsache, dati bei 'WiedeHmlang der
.piethysmcgrapliiM hevi Aufnahme üi tiefer Hypnos»-, t»ci der nur lebhaft» jfewegiihgs-
vtirsteilüngeu «trweekl mtrden bei absoluter lluheiage und Er^Klafluug des in-
Zfii*.a.r. f. ■». ,iat. TW»!» 1 * n,i. x.\H. !«•-.»> « -t
Abb. f». Kaohträgbch »ittateigoade Kurv»; tni AortCDinsuffizienz.
' (Meta 1’)
Träge Kurve in oinem besseren Stadium derselben Aortcjiinsuftizien?..
’. (Meta I\} ’ :s.'T v '.; V
Abb. 8. Negative Kurve in einem schlechteren Stadium
- deisellien Aorteninsufluicnz. »Meta. F.)
•322 H. Schirokauer, Die klinische Bewertung der Plethysmographie bei Herzkrankheiten.
sprünglich die Probearbeit leistenden Fußes, genau eine gleiche träge Kurve
erhalten wurde. Darnach scheint eine gewisse Selbständigkeit der Wirkung auch des
kranken Herzmuskels erwiesen. Weber (1. c. pag. 327) hat schon gezeigt, daß in der
Hypnose bei Gesunden durch Erweckung von Bewegungsvorstellungen die normale
Kurve zustande kommt und dadurch den Beweis ftir die zentral bedingte Blut¬
verschiebung erbracht.
Dünner (1. c.) hat nun außer den erwähnten Kurventypen noch eine sog.
nachträglich-abfallende Kurve als besonderen Typ aufgeführt. Ich möchte aber
in Übereinstimmung mit Weber diese Kurvenform zu der Gruppe von Kurven
rechnen, die als Abarten der nachträglich-ansteigenden aufzufassen sind durch die
jeweils wechselnden Stärke Verhältnisse der beiden letztere Kurvenform bedingen¬
den Komponenten.
Ist die Insuffizienz des Herzmuskels etwas größer (als bei der regulären
nachträglich-ansteigenden Kurve), so tritt bei Arbeitsbeginn gleich eine kleine
negative Senkung auf, dann gewinnt der hypertrophische Ventrikel das Über¬
gewicht, die Kurve steigt an. Nach Ende der Fußarbeit tritt jetzt durch Über¬
wiegen der Gefäßverengung über den nun schwächer arbeitenden linken Ventrikel
eine mehr oder weniger schnelle Senkung zur Horizontalen und unter dieselbe als
negative Phase und abermalige Erhebunng zur Ausgangslinie zurück. — Ist endlich
die Insuffizienz noch stärker — schließlich wird auch hier natürlich eine rein negative
Kurve auftreten —, so sieht man zuerst bei Arbeitsbeginn eine starke Senkung und
nur allmählich kommt es durch den hypertrophischen Ventrikel zum Anstieg über
die Horizontale; nach Aufhören der Arbeit fällt die Kurve dann zur Ausgangs¬
linie ab.
Ich glaube mit meinen Ausführungen ein Bild von der klinischen Brauch¬
barkeit der plethysmographischen Unfersuchungsmethode bei Herzkrankheiten ge¬
geben zu haben. Da mit dieser Methode lediglich die Herzkraft gegenüber zu
leistender Arbeit bestimmt wird, so stellt sie eine alle bisherigen Methoden über¬
ragende Herzfunktionsprüfungsmethode dar. Man ist daher nach Weber, Dünner,
F. Meyer (Arch. f. Anat. und Physiolog. 1915) in der Lage, organische Herz¬
veränderungen von Herzneurosen sicher zu trennen, insofern als bei ersteren eine
der angeführten pathologischen Kurven auftreten wird, während nach den ge¬
nannten Autoren bei Herzneurosen — auch nach einer leichten experimentellen
Ermüdung — stets eine normale Kurve vorhanden sein soll. Bei dieser allgemeinen
Fassung des Begriffes „Herzneurose“ kann ich mich jedoch dieser Ansicht nicht
anschließen. Ich glaube, daß lediglich Fälle von sog. Herzneurasthenie, d. h. Herz¬
beschwerden (Herzklopfen, Angstgefühle, Druck in der Herzgegend usw.) bei all¬
gemeiner Neurasthenie unter obigem Begriff der funktioneilen Störungen des
Herzens verstanden werden können, die eine normale Kurve geben. Schon die
oft rein funktionelle Extrasystolie kann, wie ich gefunden habe, eine pathologische
Kurvenform — hier eine träge — geben, *als Zeichen einer Stauung durch Vor¬
hofspfropfung bei Kammerextrasystolie. Zweifellos geben eben alle funktionellen
Herzstörungen nur solange eine normale Kurve als nicht die geringste Kreislauf¬
störung (Stauung) oder Herzmuskelveränderung vorhanden ist, welch letztere sich
auch aus einer zunächst nur funktionellen (nervösen) Störung herleiten kann. Das
ist ja gerade das Entscheidende: die pathologische Kurve zeigt uns eine Funk-
Digitizeo by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
P. Schrumpf, Die Syphilis des Herzens und der Gefäße usw.
323
tionsstörung des Herzmuskels, gleichgültig, oh ihr anatomische oder nervöse Ur¬
sachen zugrunde liegen; finden wir eine normale Kurve, so schließen wir nach
den gemachten Erfahrungen mit der Plethysmographie, daß der Herzmuskel intakt
ist, und daß die betreffenden vorhergenannten Beschwerden auf „nervöser“ Basis
entstanden sind, ohne die Leistungsfähigkeit des Herzmuskels zu beeinträchtigen. —
Es darf nicht imerwähnt bleiben, daß die sog. Herzneurastheniker gerade beson¬
dere Schwierigkeiten für die Untersuchung darbieten wegen der allgemeinen Un¬
ruhe und des häufig • beobachteten Tremors — von Basedow-Herzen gilt oft das¬
selbe — des im Apparat befindlichen Armes und der Hand. Bei der zweiten oder
dritten Untersuchung gelingt es fast stets ein sicheres Bild von der Kurve zu
erhalten. Nur ein Bruchteil der Fälle scheidet für diese Methode ganz aus.
Wer somit mit der Kritik des geübten Untersuchers, der die notwendige
Mülie und die erforderliche Zeit der plethysmographischen Methode gewidmet hat,
an diese herangeht, der wird mit ihr, die zweifelsohne in mancher Hinsicht noch
weiter ausgebaut werden kann, — ich denke dabei an die Untersuchungen bei
Diabetes mellitus, Nephritis, Thyreotoxikosen, mit denen ich beschäftigt bin —
seine klinische Erkenntnis auf dem Gebiet der Herzkrankheiten mehr als mit jeder
anderen bisher geübten Untersuchungsmethode fördern können. -
XV.
Die Syphilis des Herzens und der Gefäfie.
(Häufigkeit, Diagnose und Behandlung.)
Aus dem medizinisch-poliklinischen Institute der Universität Berlin.
(Direktor: Geh. Med.-Hat Prof. Dr. Goldscheider.)
Von
Dr. P. Schrumpf.
Wir haben im Verlauf des vergangenen Jahres auf der Männerabteilung unserer
Poliklinik mit größtmöglichlicher Sorgfalt auf mit Lues direkt oder indirekt in
Verbindung stehende Krankheitsformen gefahndet, und hierbei zunächst danach
getrachtet, die Diagnose auf sichere oder vermutliche luetische Erkrankung nur
nach dem objektiven klinischen Befund und einer systematisch durchgeführten Er¬
forschung der Anamnese zu stellen. Als komplementäre Untersuchung haben wir
in allen irgendwie zweifelhaften Fällen, d. h. in etwa der Hälfte der 4280 Fälle,
über die unsere Statistik sich erstreckt, die Wa. R. ausgeführt. Letztere in jedem
Fall durchzuführen, war bei dem jetzigen Mangel an Meerschweinchen nicht
möglich.
21 *
Digitized by
Go igle
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
P. Schrumpf
324
Die Resultate dieser Statistik, die wir an anderer Stelle eingehender be¬
sprechen, sind in folgender Tabelle kurz zusammengefaßt:
Tabelle 1.
Behandelte L. i. d. Anamn.317 = 7,46 %
„ „ „ „ „ mit klinisch luetischen inneren Krankheiten 239 5,58 %
r r> n n n Ohne „ n » i> *8 == 1,82 ®/q
Keine „ „ „ * mit „ „ B 175 = 4,08 %
Gesamtzahl der klinisch luetischen inn. Krankheiten 414 = 9,07 %
Von 239 klin. luet. inn, Krankheiten mit L. i. d. Anamn. hatten pos. Wa. R. 113 = 47,28 °/ 0
n 175 ti d n , ohne „ , „ „ „ „ . 135 = 64,58 "/„
Ton 414 klinisch luetischen inn. Krankheiten hatten eine posit. Wa. R. 248 = 59,90 %
Wir fanden also ini ganzen unter 4280 Patienten bei rund 10 % derselben
luetische Erkrankungen innerer Organe. Diese Zahl ist etwas höher, als die, an
dem Material der Ro mb er gschen Klinik in München von Hubert 1915 gefundene,
welche 8,8 °/ 0 betrug.
Recht häufig kamen Kombinationen von luetischen Erkrankungen verschiedener
Organe bei demselben Patienten vor; in diesen Fällen wurde der im Vordergrund
stehende Symptomkomplex als Hauptdiagnose rubriziert.
Die Zusammensetzung unseres luetischen Materials ergibt sich, kurz zusammen¬
gefaßt, aus folgender Tabelle:
Tabelle 2.
% von 414
% von 4280
Herz und Gefäße.
235
56,76
5,49
Nervensystem.
97
23,43
2,27
Leber .
35
8,45
0,82
Lunge .
13
3,14
0,30
Nicht lokalisierbar (L. latens) . . .
12
2,90
0,28
Blut.
6
1,45
0,14
Gummata der Knochen und Muskeln
5
1,21
0,12
Chron. Arthritiden.
3
0,72
0,07
L. hered. tarda.
3
0,72
0,07
Nieren (Nephrose).
2
0,48
0,05
Diversa.
3
0,72
0,07
Aus derselben ersieht man, daß die Mehrzahl der Fälle von Syphilis der
inneren Organe den Zirkulationsapparat betrifft. Es erscheint uns daher angebracht,
an der Hand unserer Statistik hier die Lues der Zirkulationsorgane näher zu
besprechen.
Aus Tabelle 2 geht hervor, daß 5(5, TG % unserer 414 Fälle von interner Lues
Herz und Gefäße betrafen; in unserer nun folgenden Besprechung müssen wir
außer diesen noch diejenigen Fälle in unsere Statistik hineinbeziehen, die neben
einer, das Krankheitsbild beherrschenden luetischen Erkrankung anderer Organe,
(z. B. Tabes, Lebercirrhose) noch außerdem deutliche luetische Veränderungen des
Zirkulationsapparates aufwiesen.
Die Zusammensetzung unseres luetischen Herz- und Gefäßmaterials ergibt sich
aus Tabelle 3.
■v
Difitized
by Google
Original fro-m
UNIVERSETY OF MICHIGAN
Die Syphilis des Herzens und der Gefäße (Häufigkeit, Diagnose u. Behandlung). 325
Tabelle 3.
'
L. i. d.
Anamn.
W. B.
pos.
W.R.
neg.
Keine
L. i.d.A.
IW. R.
pos.
W. R.
neg.
Aortitis luetica.
89
59
31
28
30
28
2
Aneurysma aorta.. .
97
41 • j
23
18
56
39
17
Periphere Sklerose ..........
19
9
2
7
10
5
5
(mit geringer Beteiligung des Herzens
*»
i
und der großen Gefäße)
Chron. Myokarditis.
25
21
21
4
4
(mit vorwiegend zentraler Arterioskl.)
Chron. Myokarditis.. .
14
9
2
7
5
5
(ohne Gefäßerkrankung)
Endokard. Klappenfehler u. Aortitis luetica
8
€
5
1
2
2
252
145
63
82
107
83
24
83
2t
146
106
Da die Gesamtzahl der Erkrankungen der Zirkulationsorgane 992 = 32,17 °/ 0
von 4280 untersuchten Patienten ausmachte, so stellen die luetischen Erkrankungen
des Herzens und der Gefäße 25,3 °/ 0 von diesen 992 dar. Also war l / 4 unseres
gesamten Herz- und Gefäßmaterials luetischer Natur.
Bei 145 = 57,5 °/ 0 dieser Fälle war Lues in der Anamnese vorhanden, bei
03 dieser 145 Fälle = 43,4 % war die Wa. R. positiv.
Bei 107 = 42,5 °/ 0 unserer Fälle fehlte Lues in der Anamnese, bei 83 = 78 °/ 0
dieser 107 Fälle war die Wa. R. positiv, also etwa doppelt so häutig als in den
Fällen, wo eine behandelte Lues in der Vorgeschichte vorlag.
Insgesamt war die Wa. R. in 14G von 252 = in 58 % der Fälle von Lues
der Zirkulationsorgane positiv.
Sehr häufig war die Verbindung von luetischen Veränderungen des Herzens
und der Gefäße mit luetischen und paraluetischen Läsionen anderer Organe, so mit
Tabes, mit Leberlues usw., wodurch die Diagnose gesichert werden konnte. Ferner
ist immer zu achten auf ein ev. Leukoderm, auf Drüsen, auf Zungendrüsenatrophie,
auf leichte tabische Frühsymptome usw. Oft wird eine Wahrscheinlichkeitsdiagnose
auf Lues eines inneren Organes erst durch den Erfolg der spezifischen Therapie
zur Sicherheitsdiagnose.
Von großem Wert ist nun ohne’Zweifel für die Diagnose der Lues der
Zirkulationsorgane die Wa. R. Ihr stark positiver Ausfall kann wohl mit Sicherheit
als für Lues beweisend angesehen werden, während ihr negativer Ausfall nicht gegen
Lues spricht und den Kliniker nicht irreführen darf. Anscheinend spricht die
Positivität der Wa. R. für einen floriden, im Fortschreiten begriffenen luetischen
Prozeß, während derselbe Prozeß, wenn auch nicht geheilt, so doch zu einem
Stillstand gekommen, keine positive Wa. R. mehr hervorzurufen braucht. Einen
solchen Stillstand ohne tatsächliche Heilung können wir z. B. im Anschluß an
eine spezifische Kur wahmehmen, nach der die vorher positive Wa. R. negativ
wird, obwohl wir klinisch zwar von einer Besserung, nicht aber von einer Heilung
resp. sicheren „Vernarbung“ sprechen können.
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
326
P. Schrumpf
Ein ähnlicher Vorgang kann sich zweifelsohne, auch spontan, ohne Behand¬
lung im Organismus abspielen; wir haben wiederholt bei tertiären Luetikern, und
speziell hei Aortenkranken und Tabikern, bei denen eine spezifische Behandlung
nicht durchgeführt werden konnte, beobachtet, wie eine anfänglich positive Wa. R.
nach und nach negativ wurde und umgekehrt. Die Lues ist eben wie jede
Trypanosomiase eine zyklische, schubweise verlaufende Krankheit, mit, besonders
bei wenig virulenten, abgeschwächten Spirillen, relativer Spontanheilung, oft sehr
langen Remissionen zwischen akuten Schüben, während denen die Parasiten viel¬
leicht im Blute kreisen und die positive Wa. Iji. hervorrufen. Solche akuten Schübe
dürften bei gewissen Luetikern, auch Vorkommen, ohne daß sich irgendwo im Or¬
ganismus lokale anatomische Veränderungen bilden (Lues latens): Eine Aus¬
streuung von Spirillen, die durch die Schutzkräfte des Organismus verhindert
werden, sich irgendwo festzusetzen, Selbstverteidigung des Organismus durch Anti¬
körper, bis die Erreger sich wieder in ihre Schlupfwinkel (Samenblase?) zurück¬
gezogen haben. Doch sind wir der Ansicht, daß man mit der Diagnose der Lues
latens sehr vorsichtig sein muß und daß es sich in solchen Fällen, wie wir weiter
unten zeigen werden, oft um beginnende Aortitis, seltener um beginnende Tabes
handelt. So fanden wir unter 414 Fällen von Lues innerer Organe bloß 7 Fälle
von latenter, nicht lokalisierbarer Lues mit einwandfreier stark positver Wa. It.,
während bei seiner Statistik Hubert (Rombergsche Klinik in München) in fast
der Hälfte seiner Fälle eine solche annahm.
Aus diesen Frwägungen heraus muß man sich nun klar werden, daß unter
Umständen bei der Beurteilung eines klinischen Falles ein positiver Ausfall der
Wa. R. uns stark irreführen kann. Denn ein Luetiker mit stark positiver Wa. R.
mit versteckter, nicht nachweisbarer oder überhaupt nicht lokalisierter Lues
kann wie jeder Nichtluetiker jede mögliche Krankheit bekommen, die dann irr¬
tümlicherweise auf Gnind der positiven Wa. R. als luetischer Natur aufgefaßt
werden könnte. Entscheiden tut eben vor allen Dingen der klinische Befund;
auch 'bleibt nach wie vor der alte Grundsatz bestehen, daß der
sicherste Bbweis für die luetische Natur einer Krankheit der Erfolg
der spezifischen Behandlung ist.
Es ist selbstverständlich, daß falls eine mit größter Sorgfalt ausgeführte
Wa. R. nicht mit dem klinischen Befund übereinstimmt, dieselbe öfters wiederholt
werden muß.
Wir wollen nun der Reihe nach an der Hand unseres Materials, die ver¬
schiedenen Formen der luetischen Erkrankungen des Herzens und der Gefäße,
und besonders ihre Diagnose hier kurz besprechen.
Wir können die luetischen Erkrankungen der Zirkulationsorgane praktisch
in zwei Gruppen einteilen; die erste umfaßt diejenigen Veränderungen, deren
Symptomatologie und physikalischen Merkmale sich mit denjenigen entsprechender
nicht luetischer Erkrankung der betreffenden Gewebe decken, deren luetische
Natur infolgedessen nur indirekt und nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit
angenommen werden kann. Zu dieser ersten Gruppe gehören die luetischen
Myokardveränderungen sowie die periphere luetische Arteritis und luetische
Phlebitis.
Zur zweiten Gruppe gehören die luetische Aortitis und ihre Folgeerscheinungen.
Digitized by Gck >gle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die Syphilis des Herzens und der Gefäße (Häufigkeit, Diagnose u. Behandlung). 327
deren Symptomatologie in vielen Fällen so charakteristisch ist, daß ihre Diagnose
mit einer gewissen und oft absoluten Sicherheit gestellt werden kann.
Die Symptomathologie der zuerst von Yirchow 1859 beschriebenen syphy-
litischen Myokarditis bietet nichts charakteristisches; sie ist dieselbe wie
diejenige einer jeden chronischen My<fkarditis; meist handelt es sich um Inseln
kleiner Gummata mit starker lokalisierter Beteiligung der Gefäße, selten um
größere solitäre Gummata. In beiden Fällen ist der plötzliche Tod durch Herz¬
ruptur möglich. Die Diagnose der luetischen Myokarditis ist wohl kaum je mit
Sicherheit zu stellen; man muß an sie denken, wenn bei einem Luetiker in relativ
frühem Lebensalter Erscheinungen von einer Myokarderkrankung sich einstellen.
Nicht ganz selten ist die Lues des Myokards Schuld an Störung im Rhythmus
der Schlagfolge des Herzens. Für die Entstehung von Reizleitungsstörungen ist
dies schon länger bekannt. So ist ein vollständiger Block häufig hervorgerufen
durch einen gummösen Prozeß in der Gegend des Hisschen Bündels. Aber auch
hochgradige Extrasystolie, vollkommene Unregelmäßigkeit des Herzens (A. totalis,
Vorhofflimmern und Flattern) sowie dauernde oder paroxysmale Tachykardien sind
nach unserer Erfahrung manchmal luetischen Prozessen innerhalb der Herzmuskeln,
die vorwiegend und eventuell elektiv den intrakardialen Nervenapparat betreffen,
zuzuschreiben und einer spezifischen Behandlung zugängig.
Von den 80 chronischen Myokarditiden unseres Materials waren 14 = 16 % als
Inetisch zn bezeichnen; bei der Hälfte derselben war die Wa. R. positiv; 9 derselben
= 63% hatten Lues in der Anamnese.
Die periphere syphilitische Arteritis kommt häufiger vor als man
glaubt, und zwar in zwei Formen, einer obliterierenden und einer ektasierenden
Form. Die erstere führt zum Verschluß, die zweite zum Aneurysma der Arterie.
Betroffen werden können sämtliche peripheren Arterien und Artenden, haupt¬
sächlich die des Gehirns und des Rückenmarks, der Bauchorgane und der
Extremitäten. Sehr selten ist, zum Unterschied von der gewöhnlichen Arteriosklerose,
die luetische Arteritis diffus, das gesamte periphere Arteriennetz befallend. Sie
ist vielmehr meistens auf ein relativ kleines Gebiet lokalisiert; die Arterie ist
nicht in ihrem gesamten Verlauf, sondern meist segmentär befallen; oft ist es
nur ein kleines Stückchen Arterie, welches erkrankt und entweder obliteriert
oder ektasiert. Betroffen sind meistens mittlere Arterien seltener Endarteriolen.
Die obliterierende Form der Arteritis luetica führt zu schweren lokalen Störungen
der Blutversorgung, so z. B. an den Extremiten zur Gangrän. Die ektasierende
Form kann relativ symptomlos verlaufen, so lange das sich bildende Aneurysma
nicht platzt.
Aus dem Gesagten ergibt sich die Möglichkeit der Diagnose der syphilitischen
Arteritis. Lokalisierte Arterienveränderungen bei relativ jungen Individuen sind
immer verdächtig auf Lues.
Wenn auch die luetische Arteritis im allgemeinen selten vor dem 4. bis 5. Jahre
nach der Infektion und meist später auftritt, so sind docli Fälle bekannt, wo be¬
reits ein Jahr und früher nacli dem Primäraffekt luetische Veränderungen der
Hirnarterien festgestellt wurden; sie gehören dann der sekundären Periode der
Syphilis an.
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
P. Schrumpf
328
Die 106 Fälle von peripherer Sklerose unseres Gesamtmaterials verteilten sich
folgendermaßen:
Vorwiegend Extremitäten: 25, davon luetisch 5; vorwiegend Gehirn: 30, davon
luetisch 19; vorwiegend Baucharterien: 12, davon luetisch 2; mit stärkerer Beteiligung
der Nierengefäße: 39, davon luetisch 2. — Von unseren 19 luetischen peripheren
Arteritiden (18 °/ 0 von 106) hatten 7 — 39 °/ 0 eine positive Wa. R., 9 = 45°/ 0 hatten
Lues in der Anamnese.
Zu erwähnen w r äre noch die syphilitische Phlebitis, die zuerst 1894 durch
Mendel beschrieben wurde. Während die syphilitischen Arterienerkrankungen
eher der tertiären Periode der Syphilis angehören und nur ausnahmsweise
vor dem 5. Jahre nach erfolgter Infektion sich einstellen, ist die spezifische
Phlebitis eine bedeutend frühere luetische Manifestation. Sie wird bereits wenige
Monate nach dem Primäraffekt beobachtet, ja wenige Wochen danach, ja sie kann
vor der Roseola und den Plaques maqueuses erscheinen. Sie. verläuft meist ohne
Fieber, betrifft am häufigsten die V. saphena int., seltener die Saphena ext.,
basilica und cephalica. Auch sie ist häufig segmentär. Ausnahmsweise ist sie
multipel, dann meist symetrisch.* Sie neigt zur Rezidive, heilt relativ rasch unter
spezifischer Behandlung. Sie unterscheidet sich von den anderen Phlebitiden vor
allen Dingen dadurch, daß sie nie Anlaß zu Embolien gibt.
Die Aortitis luetica.
Unter den luetischen Erkrankungen der Zirkulationsorgane nimmt die Lues
der Aorta die wichtigste Stellung ein; 72°/ 0 unserer 252 Fälle von Herz- und
Gefäßsyphilis betrafen die Aorta, und zwar vorzugsweise den Brustteil derselben.
Pathologisch-anatomisch begründet wurde die syphilitische Aortenerkrankung
durch-Heiberg, Heller, Döhle; den zunächst die mittleren und äußeren Schichten
der Aorta betreffenden, und nur sekundär die Intima in Mitleidenschaft ziehenden
Entzündungsprozeß bezeichnete zweckmäßig Chiari als Mesaortitis productiva,
seinen Folgezustand nannte Benda „narbige Sklerose der Aorta“. Obern¬
dorfer zeigte, daß die syphilitische Aortitis von den Vasa vasorum der Adventitia
ausgeht, also von außen nach innen, während die Atherosklerose bekanntlich von
der Intima aus von innen nach außen geht.
Von deutschen Autoren war Goldscheider einer der ersten, der die kli¬
nische Manifestation der luetischen Aortitis beschrieb und auf die große prak¬
tische Wichtigkeit der Frühdiagnose dieser so häufigen Erkrankung hinwies. So
sagte er in seinem 1912 gehaltenen Vortrag „Über die syphilitische Erkrankung
der Aorta“: Es ist meine Überzeugung, daß die Diagnose dieser Er¬
krankung noch viel zu selten gestellt wird und namentlich viel zu
selten frühzeitig gestellt wird.
Die syphilitische Aortitis ist ebenso wie die syphilitische Arteritis selten
diffus, d. h. der luetische Prozeß befällt selten gleichmäßig die gesamte Aorta;
meistens ist er vielmehr auf gewisse Stellen derselben, wenigstens in seinem An¬
fangsstadium, beschränkt und da auch oft, ähnlich wie bei der peripheren Arteritis,
gewissermaßen segmentär. So ist es möglich, mehrere Formen der syphilitischen
Aortitis voneinander zu trennen, die, wenn sie auch manche gemeinsame Symptome
besitzen, dennoch, besonders in ihren Anfangsstadien, sich diagnostisch unter-
x
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die Syphilis des Herzens und der Gefäße (Häufigkeit, Diagnose u. Behandlung). 329
einander wohl differenzieren lassen. So können wir unterscheiden zwischen folgen-,
den Formen von luetischer Aortitis, aufgezählt nach der Häufigkeit ihres Vor¬
kommens:
1. Aortitis luetica supra-sigmoidea.
2. Syphilis des orificium aortae mit Insuffizienz der Aortenklappen.
3. Diffuse Aortitis der Brustaorta mit Bildung großer Aneurysmen.
4. Aortitis der Aorta descendens mit Bildung eines Aneurysmas mit Rekurrens¬
lähmung.
ö. Diffuse Aortitis mit Bildung kleiner multipler Aneurysmen.
<>. Luetische Koronaritis, entweder obliterierend oder mit Bildung miliarer
Aneurysmen der Koronararterien.
7. Aortitis der Bauchaorta.
Schon aus dieser Einteilung ist ersichtlich, daß die Syphilis der Aortenwand
meistens die Ektasie derselben, die Bildung eines Aneurysmas zur Folge hat, und
wir können heute als mit großer Wahrscheinlichkeit, wenn nicht mit Sicherheit
als erwiesen ansehen, daß die überwiegende Mehrzahl der richtigen Aneurysmen,
d. h. der ausgesprochenen lokalen Ektasien der Aorten- und Arterienwand auf die
Syphilis derselben zurückzuführen ist. Es gibt ja ohne Zweifel, wenn auch selten,
nicht syphilitische akute uud chronische Entzündungen der Aorta, im Verlaufe von
Infektionskrankheiten, besonders von Typhus, Gelenkrheumatismus, Tuberkulose,
Pocken, Scharlach, Malaria, aber dieselben spielen wohl in der Ätiologie des
Aneurysmas, ebenso wie die früher oft beschuldigten traumatischen Läsionen der
Aortenwand, eine ganz untergeordnete Rolle. Denn die akute schwere infektiöse
Aortitis verläuft fast immer in kurzer Zeit tödlich, die leichteren chronischen
Formen aber, die zum Unterschied von der luetischen Aortitis die Aortenwand,
und zwar zunächst ihre Intima, diffus befallen, gehen später in richtige Arterio¬
sklerose, in Atheromatose, event. mit diffuser, nicht eigentlich aneurysmatischer
Dilatation der Aorta über. Dasselbe gilt von der primären, degenerativen Arterio¬
sklerose. Besonders empfänglich für infektiöse, nicht luetische aortische Prozesse
scheint die Aorta zu sein, die bereits atheromatös degeneriert ist.
Die Ektasie der luetisch erkrankten Aortenwand, kann bereits sehr frühzeitig
nach Beginn der Erkrankung sich einstellen; sie kann verzögert oder verhindert
werden durch frühzeitige spontane oder durch spezifische Therapie bedingte narbige
Sklerosierung der Aortenwand, ferner durch einen, dem luetischen mesaortitischen
Prozeß sich zugesellenden, von der Intima ausgehenden atheromatösen, arterio¬
sklerotischen Prozeß, was besonders bei älteren Individuen der Fall ist. Daher
sind jüngere Individuen mit luetischer Aortitis der Bildung eines Aneurysma eher
ausgesetzt nie ältere.
Der häufigste Angriffspunkt der Syphilis auf die Aorta scheint der untere
'Peil der Aorta ascendens, oberhalb des Abgangs der Koronararterien, zu sein.
Diese Aortitis supra-sigmoidea ist meist zirkulär, segmentär. Ihre frühzeitige
Erkennung ist von sehr großer Wichtigkeit, denn diese Prädilektionsstelle der
beginnenden luetischen Aortitis, von der aus sie sich nach und nach sowohl nach
rückwärts, d. h. nach der Aortenklappe und den Koronararterien, sie auch strom¬
abwärts, nach dem Arcus aortae zu verbreiten die Neigung hat, ist zugleich auch
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UMIVERSITY OF MICHIGAN
330
P. Schrumpf
derjenige Teil der Aorta, der relativ der Ektasierung am meisten Widerstand
leistet; es bietet daher die Frühbehandlung gerade dieser Form von Aortitis die
größten Chancen für eine relative praktische Heilung.
Das Hauptsymptom der Aortitis supra-sigmoidea, welches leider selten erkannt
und richtig gedeutet wird, ist dasjenige des Retrosternalschmerzes, des Angor
pectoris. Dieser kann leicht und schwer, vorübergehend oder anhaltend, manch¬
mal nur in äußerst quälenden Anfällen auftreten, mit Erstickungsgefühl und Be¬
klemmung, mit einem Punctum maximum am oberen Sternum, welches auf Druck
empfindlich sein kann; Ausstrahlung des Schmerzes nach dem Hals und dem linken
Arm kann Vorkommen, ist aber nicht die Regel.
Dieser auf Reizung des Plexus cardiacus zurückzuführende Schmerz tritt zum
Unterschied von demjenigen der richtigen Angina pectoris nicht etwa vorwiegend
nach körperlicher Anstrengung auf, sondern auch ganz spontan, auch bei voll¬
ständiger körperlicher Ruhe. Differentialdiagnostisch kommen weiter in Betracht
auf Nikotin, Tabes, Gicht, wohl auch auf Hysterie zurückführende Neuralgien des
Plexus cardiacus; die jedoch an sich selten Vorkommen und nicht die Intensität
des aortitischen Schmerzes erreichen.
Vor diesem Hauptsympton des Angor pectoris treten die physikalischen
Phänomene der Aortitis supra-sigmoidea stark in den Hintergrund. Die Aus¬
kultation über der Aorta und speziell der Aortenklappe ergibt meistens nichts
Abnormes. Höchstens klingt der erste Aortenton manchmal etwas dumpf und leise;
der zweite Aortenton ist in reinen Fällen, d. h. solchen, wo die Klappen nicht be¬
troffen sind, unverändert. Der Anfangsteil der Aorta ist im Beginn der Er¬
krankung auch nicht nachweislich dilatiert. Das einzige, was bei der Durch¬
leuchtung auffällt, ist ein verstärktes Pulsieren, ein vermehrtes systolisches
Auseinandergehen desselben. Dieses drückt sich auch durch eine gewisse Schnellig¬
keit des Pulses aus, ein Phänomen, welches wir als pulsatorische Plethora
bereits an anderer Stelle 1 ) eingehend besprochen haben. Wenn nämlich die
Aortenwand durch entzündliche Prozesse einen Teil ihrer Elastizität eingebüßt
hat, so weicht sie leichter dem Innendruck aus, ohne ihm den normalen Wider¬
stand zu bieten. Es erhält dadurch der Puls, bei intakten und voll schlußfähigen
Aortenklappen, ähnliche Qualitäten wie die des Aorteninsuffizienzpulses, er wird
„celer“ und „altus“. Graphisch läßt sich diese Qualität des Pulses imabhängig
von jeder Subjektivität mittels des Christenschen Energometers nachweiseu.
Da wir auf diese komplizierten physikalischen Verhältnisse hier nicht eingehen
können, so verweisen wir auf unsere früheren diesbezüglichen Mitteilungen. Das
Phänomen der pulsatorischen Plethora bei intakten Aortenklappen ist nicht spe¬
zifisch für die syphilitische Erkrankung der Aortenwand, sondern wir finden es
ebenfalls bei beginnender Sklerose der Aorta, bevor deren Wand steif geworden
ist. Es ist jedoch bei luetischer Aortitis besonders ausgesprochen.
Da nach unserer Erfahrung bei der Aortitis supra-sigmoidea die Wa. R.
meist stark positiv ist, so glauben wir sagen zu können, daß das Symptom des
Retrosternalschmerzes, verbunden mit einer pulsatorischen Plethora
und einer positiven Wa. R. zur Sicherstellung der Diagnose genügen.
') Ztschr. f. klin. Med. Bd. 85 u. M. m. W. 1918. S. 348.
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die Syphilis des Herzens und der Gefäße (Häufigkeit, Diagnose u. Behandlung). 331
"Wir sind auch der Ansicht, daß sehr viele Fälle von sog. Lues latens mit positiver
"Wa. R. auf diese Form der Aortenlues, die als solche nicht angenommen wird,
zurückzuführen ist.
Es bleibt nun die Syphilis der Aorta selten auf die Regio supra-sigmoidea
beschränkt, sondern sie hat eine ausgesprochene Neigung, auf das Oriflcium aortae
und die Aortenklappen überzugehen. So entsteht die luetische Aorteninsuffi¬
zienz. Bevor jedoch dieselbe sich eingestellt hat, d. h. bevor die Aortenklappen
funktionell insuffizient geworden sind, stellen sich als Zeichen der beginnenden
luetischen Infiltration derselben sehr charakteristische Veränderungen im Klang
des zweiten Aortentones ein, welche noch lange, ehe die Klappen schlußunfähig
geworden sind, für den Geübten die sichere Diagnose auf luetische Artitis ge¬
statten. Sobald nämlich die Aortenklappen beginnen, ihre normale Elastizität zu
verlieren, gesellt sich zu dem oben skizzierten klinischen Bilde der Aortitis supra-
sigmoidea ein eigentümliches und sehr charakteristisches Klingen des zweiten
Aortentones hinzu; derselbe ist nicht wie bei der gewöhnlichen beginnenden
Sklerose der Klappen bloß verstärkt und klappend, nicht wie bei der mit Hyper¬
tonie verbundenen Nephritis, laut paukend, sondern er klingt musikalisch, metallisch,
oft ähnlich wie beim Anschlägen eines Gongs.
Der Blutdruck ist bei der beginnenden Aortitis meist normal.
Das Bild der luetischen Aortitis supra-sigmoidea mit beginnender
Infiltration der Klappen mit dem Syndrom des Angor pectoris, dem
metallisch klingenden zweiten Aortenton und dem charakteristischen
schnellen und hebenden Puls ist das häufigste, welches der Patient
bietet, wenn er wegen seiner Beschwerden zuerst den Arzt aufsucht,
und es ist so charakteristisch, daß es in den meisten Fällen die richtige
Diagnosenstellung erlaubt, auch schon, bevor dieselbe durch die fast
immer positiv ausfallende Wa. R. gesichert wird.
Der bloßen Infiltration der Aortenklappen folgt, bald schneller, bald lang¬
samer, eine Störung ihrer Funktion im Sinne einer Insuffizienz, seltener einer
Insuffizienz und Stenose, ganz selten einer reinen Stenose. Der klingende zweite
Aortenton wird unrein, dann allmählich zu einem zunächst sehr leisen, später
lauten, bis zur Herzspitze und zum Processus xiphoides sich fprtpflanzenden diasto¬
lischen Geräusch; der erste Aortenton verliert oft auch seine Reinheit und ver¬
wandelt sich in ein systolisches Geräusch. Zugleich hypertrophiert der linke Ven¬
trikel und steigt der Blutdruck, der systolisch zwischen 160 und 200 mm Hg.
liegt, während der diastolische Druck niedriger wird, wodurch eine Zunahme der
Amplitude stattfindet. Bei starker Insuffizienz der Aortenklappen wird der diasto¬
lische Druck gleich Null. Der Puls ist ganz ausgesprochen celer und altus, meist
•wesentlich ausgesprochener als es bei der endokarditischen Aorteninsuffizienz der
Fall ist. Zugleich stellt sich oft ein Kapillarpuls ein. Dem vermehrten Druck
ausweichend ektasiert oft die Aorta ascendens, in manchen Fällen mehr diffus, in
anderen ausgesprochen aneurysmatisch, in diesen Fällen besonders nach außen.
Das Bild der luetischen Aorteninsuffizienz mit oder ohne Aneurysma ist vollendet.
In diesem Stadium scheint der aktive luetische Prozeß oft von selbst durch eine
gewisse spontane Heilung und Sklerosierung Halt zu machen, was sich durch das
Auf hören des Symptomes des Schmerzes und durch ein Negativwerden der Wa. R.
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
s
332
P. Schrumpf
ausdrückt. In seltenen Fällen, wo der oben geschilderte Verlauf durch eine gleich¬
zeitige luetische Koronatitis kompliziert wurde, eine Form der syphilitischen Aorten¬
erkrankung, auf die wir weiter unten näher eingehen werden, ist das Bild der
Aorteninsuffizienz kompliziert durch das Auftreten von Anfällen klassischer Angina
pectoris.
Zum Unterschied von der endokarditischen Aorteninsuffizienz ist die luetische
Aorteninsuffizienz so gut wie nie mit luetischen Veränderungen der Mitralklappe
verbunden. Eine scheinbare Ausnahme machen die nicht ganz seltenen Fälle, auf
die M. Herz aufmerksam gemacht hat, wo ein kombiniertes endokarditisches Mitral¬
und Aortenvitium sekundär durch einen luetischen Prozeß der Aortenklappen kom¬
pliziert wird. Wir haben dieses Vorkommnis unter 189 Fällen von chronischen
Klappenfehlern 8mal angetroffen; in allen Fällen war die Wa. R. positiv.
Bei der Untersuchung einer Aorteninsuffizienz wird man bei der luetischen
Form derselben anamnestisch, das der endokarditischen Aorteninsuffizienz immer
fehlende Symptom des Brustschmerzes wohl kaum vermissen.
Wie häufig die luetische Aorteninsuffizienz vorkommt, zeigen folgende Zahlen:
Von 140 Fällen von Aorteninsuffizienz waren 36 endokarditiacher Natur; 17 der¬
selben waren rein oder anscheinend rein, 19 dagegen mit Mitralvitien kombiniert.
96 weitere Fälle von Aorteninsnffizienz waren luetischer Natur, davon 40 ohne Aneurysma,
9 ohne Aneurysma aber mit Koronaritis und 47 mit Aneurysma. Die letzten 8 Fälle
waren Kombinationen von alten endokarditischen und frischeren luetischen Klappenprozessen.
Von 66 klinisch reinen Aorteninsuffizienzen ohne Aneurysma und Beteiligung der
Mitralklappen waren 49 luetisch = 74,3 °/ 0 .
Von 140 klinischen Aorteninsnffizienzen (Aneurysmen nnd kombinierte Klappen¬
fehler inbegriffen) waren 104 luetisch = 74,3%.
Die mehr diffuse Aortitis der Brustaorta, die zur Bildung großer
Aneurysmen führt, sowie die disseminierte gummöse Aortitis, deren Folge
zahlreiche kleine Aneurysmen sind, braucht hier nur kurz besprochen zu
werden; in ihren Anfangsstadien ist sie schwer zu erkennen und erst der Nach¬
weis des aus ihr entstehenden Aneurysmas gestattet oft ihre Diagnose. Auch hier
ist der Schmerz ein Frühsymptom, welches nicht übersehen oder unrichtig gedeutet
werden darf. Zum Unterschied von der Aortitis supra-sigmoidea ist hier seltener
der Plexus cardiavus betroffen, dagegen häufiger die Plexi cervico-brachialis; dann
ist der Schmerz ein anderer, wie der des eigentlichen Angor pectoris; er strahlt
eher nach dem Hals und den Armen aus; auch er tritt spontan auf, mit Vorliebe
Nachts, ohne, daß zu seiner Auslösung körperliche Anstrengung nötig sei. Somit
ist es ratsam, in allen Fällen von „Neuralgien“ der Brust, des Halses und der
Arme an die Möglichkeit der Lues der Aorta zu denken und die Wa. R. an¬
zustellen. Neben dem Schmerzsymptom ist dasjenige der oben beschriebenen
„Pulsatorischen Plethora“, deren Feststellung die Energometrie mit Leichtigkeit
gestattet, ein oft vorkommender diagnostischer Wink. Ist sie stark ausgesprochen,
so bemerkt man manchmal schon, bevor ein Aneurysma sich gebildet hat, ein
deutliches Pulsieren der vorderen oberen Brustwand, dessen Erkennung bei seit¬
licher Betrachtung von größter Wichtigkeit ist. Man kann dieses Pulsieren auch
dadurch nachweisen, daß man in Rückenlage das Stethoskop mit dem breiten
Teil auf die betreffende Stelle frei auflegt; in Atemstillstand sieht man dann das
rhythmische Schlagen des freien Endes des Hörrohres.
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die Syphilis des Herzens nud der Gefäße (Häufigkeit, Diagnose n. Behandlung). 333
Leichter ist die Frühdiagnose der Aortitis derjenigen Stelle der Aorta des-
cendens, welche von dem linken N. recurrens umschlungen wird, weil da durch
Heizung desselben bereits vor der Entstehung eines Aneurysmas charakteristische
Phänomene beobachtet werden können, nämlich schmerzhafte Dysphagie, Pharynx¬
spasmen, Ösophagusspasmen, Glottisspasmen, Heiserkeit durch Stimmbandlähmung.
All diese Symptome können bereits vor der Entstehung des Aneurysmas bestehen; ihre
richtige Deutung ist deshalb besonders wichtig, weil dadurch die Bildung dieses
besonders gefährlichen „Aneurysma recurrens“ verhindert werden kann, welches,
wenn es auch keine größeren Dimensionen erreicht, nicht allein durch Druck
empfindlich stört, sondern auch erfahrungsgemäß die Neigung besitzt, frühzeitig in
die Speiseröhre, die Bronchen oder die Brusthöhle durchzubrechen.
Die syphilitische Erkrankung der Koronararterien haben wir bereits
gestreift. Sie ist eine nicht seltene Komplikation der luetischen Aorteninsuffizienz /
und der Aortitis supra-sigmoidea mit oder Aneurysma. Sie ruft schwere Anfälle
von Stenokardie, von Angina pectoris hervor. Sehr selten scheint sie auch rein,
oder relativ rein aufzutreten; drei unserer Fälle sprachen dafür. In einem dieser
Fälle traten gehäufte schwerste stenokarditische Anfälle, unheimlich quälend und
schmerzhaft, zirka J / 4 Stunde anhaltend, bis IG mal in 24 Stunden auf, bei der
leichtesten Bewegung oder Erregung, auch ganz spontan, besonders Nachts auf.
Trotz energischster spezifischer Behandlung starb die-38jährige Patientin, die keine
Lues in der Anamnese hatte (Wa. R. stark positiv) innerhalb 3 Wochen. Das
lyrankheitsbild war bei ihr im Laufe von 3 Monaten langsam entstanden und ihre
Beschwerden waren als nervöser Natur angesehen worden. Daher Vorsicht bei
der Beurteilung sogenannter pseudoanginöser Beschwerden!
Die Lues der Bauchaorta dürfte relativ selten Vorkommen. Ihr Früh¬
symptom ist ebenfalls dasjenige des Schmerzes, der, weil innerhalb des Abdomens
auftretend, wohl nur sehr selten richtig gedeutet werden dürfte. Daher wird
meist die Diagnose erst durch die Feststellung des sekundären Aneurysmas
ermöglicht.
Die Röntgenuntersuchung läßt uns in den meisten Fällen beginnender luetiscner
Aortitis, wenn noch keine deutliche Ektasie der Aortenwand sich ausgebildet hat,
im Stich. Zu Trugschlüssen verleitet oft die Durchleuchtung oder Photographie
aus der Nähe, da sie keine richtige Beurteilung der tatsächlichen Größenverhältnisse
des Herzens und der Aorta gestattet. Einwandfrei ist nur die Durchleuchtung in
verschiedenen Durchmessern in einem Abstand, der mindestens 2 m, besser
noch 2,50 m von der Röhre. Von Frontalaufnahmen, die uns keinen Aufschluß über
etw'aige Dilatationen der Aorta nach hinten geben, sind nur Tele-Aufnahmen zu
verwenden. Wie schon erwähnt, ist im Röntgenschirm bei luetischer Aortitis ein
besonders starkes Pulsieren des betroffenen Teiles der Aortenwand, der systolisch
stark nach außen getrieben wird, oft zu erkennen und diagnostisch zu verwerten.
Bei Durchleuchtung in der Nähe erscheint bei Patienten mit stark gewölbtem
Thorax die Brustaorta im Verhältnis zum Herzen oft unnatürlich breit; entfernt
man den Patienten auf 2 m von der Röhre, wodurch die Herzsilhouette die der
Wirklichkeit entsprechende Form annimmt, so merkt man erst, wie sehr die Durch¬
leuchtung aus der Nähe einen hätte irreführen können.
Fassen wir mm unser gesamtes Material von luetischer Aortitis sowie von
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
/
334
P. Schrumpf
den aus derselben hervorgehenden Aneurysmen zusammen, so geben darüber fol¬
gende Zahlen ein Übersichtsbild:
Von 89 Fällen von luetischer Aortitis ohne Aneurysmenbildung waren 49 = 55°/^
auf den unteren Teil der Aorta ascendens und die Aortenklappen beschränkt (davon
9 mal stärkere Koronaritis), 37 Fälle = 43°/ 0 betrafen vorwiegend die Brustaorta ohne
Beteiligung der Aortenklappen und in 3 Fällen waren vorwiegend die Koronararterien
betroffen.
Von 97 Fällen von luetischen Aortenaneurysmen betrafen 47 = 49°/ 0 die Aorta,
ascendens mit Beteiligung der Klappen (davon 12 mal Koronaritis), 6 die Aorta ascendens
ohne Beteiligung der Klappen (3 mal Koronaritis), 9 den Arcus aortae, 24 — 25 °/ 0 die
Aorta descendens (davon 7 mal mit Rekurrenslähmung); 9 mal handelte es sinh um große
diffuse Aneurysmen der ganzen Brustaorta (2 mal mit Rekurrenslähmung) und 2 mal um
Aneurysmen der Bauchaorta.
In 62 von 97 Fällen = 54°,' 0 war die Wa. R. positiv.
Das Alter der an luetischer Aortitis Erkrankten hängt im allgemeinen von
der Zeit der Infektion ab. Zirka 10 Jahre nach derselben scheint die Aorta am
häufigsten betroffen zu sein. Doch kann dies auch früher der Fall sein, in einem
unserer Fälle bereits 4 Jahre nach dem Primäraffekt, in anderen Fällen viel später,
d. h. 25 Jahre und darüber nach erfolgter Ansteckung. Im allgemeinen stehen
die an luetischer Aortitis erkrankten Patienten am häufigsten in mittleren Jahren,
zwischen 32 und 50 Jahren. '
Neuerdings haben wir einen Fall beobachtet, der in obiger Statistik nicht
einbegriffen ist, wo sogar eine luetische Aortitis mit beginnender Aneurysmenbildung
als Manifestation einer hereditären Lues aufgefaßt werden mußte. Es handelte
sich um einen 23jährigen Soldaten, der außer einer luetischen Aortitis noch ein
Gumma im rechten Unterlappen, eine schwere Keratitis und eine im 12. Jahr
entstandene Labyrintherkrankung aufwies. Anhaltspunkte für eine extragenitale
Infektion waren nicht vorhanden. Trotz der manifesten multiplen luetischen Er¬
scheinungen war die Wa. R. bei ihm dauernd negativ.
Im allgemeinen scheint uns der Verlauf der Aortitis luetica um so stürmischer
zu sein, je näher die Infektion zurückliegt und je jünger der Patient ist, sowie
in den Fällen, wo eine Lues gar nicht oder ungenügend behandelt wurde, ferner
wo die Aortenlues die einzige luetische Organerkrankung darstellt.
Wie alle luetischen Prozesse ist der Verlauf der Syphilis der Aorta kein
kontinuierlich fortschreitender, sondern er wird unterbrochen durch Perioden des
Stillstandes und der spontanen Regression. In manchen Fällen entwickelt sich
eine Aorteninsuffizienz oder ein Aneurysma in wenigen Monaten, in andern sind
Jahre dazu notwendig, letzteres ist besonders der Fall bei älteren, bereits in dem
Alter der Arteriosklerose stehenden Individuen. Es besteht ja auch die relative
Heilung resp. Vernarbung der Gefäßsyphilis, die sog. „narbige Sklerose“, eigentlich
nur in der Entstehung einer sekundären Atheromatose, einer richtigen Verkalkung.
Gerade die leichteren Fälle von Mesaortitis endigen in frühzeitiger Arterio¬
sklerose. Und es ist anzunehmen, daß eine nicht unbeträchtliche Zahl der Fälle
von Myodegeneratio cordis mit zentraler Sklerose, Atheromatose und Sklerose der
Aorta auf dem Boden einer leichten luetischen Aortitis entstanden sind. Je mehr
der atehromatöse Prozeß den mesaortitischen überwiegt, resp. überdeckt, desto
geringer wird die Chance der Entstehung eines richtigen Aneurysmas; in solchen
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die Syphilis des Herzens und der Gefäße (Häufigkeit, Diagnose u. Behandlung). 335
Fällen entwickelt sich nur, wie bei der gewöhnlichen reinen Atheromatose, diffuse
mäßige Erweiterung der Aorta.
Einen solchen Zusammenhang von stärkerer Atheromatose mit einem luetischen
Prozeß der Aorta haben wir in 25 von 193 Fällen von Sklerose des Herzens nnd der
Aorta sicher feststellen können. 21 derselben hatten eine Lues in der Anamnese; die
meisten hatten andere sichere Inetische Manifestationen (14 mal Tabes, 3 mal Leber¬
syphilis, 2 mal Lnes cerebri). Die 5 anderen hatten eine positive Wa. R., die nnr anf
die Aorta bezogen werden konnte. In 13 dieser Fälle war hauptsächlich die Brustaorta
verkalkt, in 7 betraf der Prozeß außerdem noch die Aorten und Miralklappen, in 3
hauptsächlich die Koronararterien und in 3 war die Bauchaorta stärker mitbeteiligt. In
allen Fällen war das Myokard stark in Mitleidenschaft gezogen.
Im allgemeinen scheinen uns die syphilitischen Veränderungen der Aorta in
den Fällen den relativ am günstigsten Verlauf zu nehmen, w r o neben ihnen oder
vielmehr meistens vor ihnen eine syphilitische Erkrankung anderer Organe sich
entwickelt haben, z. B. der Leber oder des Zentralnervensystems. Gerade bezüg¬
lich der Verbindung von einer Tabes mit Aortenprozessen ist dies sehr deutlich.
Zunächst ist da auffällig, daß meistens zuerst die Tabes und dann erst später
die Aortenveränderungen auftreten, die meist sehr langsam und relativ gutartig
verlaufen. Andererseits scheinen Patienten mit schwerer luetischer Aortitis sehr
selten noch eine Tabes zu bekommen. Merkwürdig ist auch, daß in der Tabes
fast ausschließlich die Aorta und fast nie die peripheren Arterien und besonders
die Gehirnarterien, die doch ein Lieblingssitz der Syphilis sind, befallen werden.
Auch fällt auf, daß in der Tabes die Aortenveränderungen nur sehr selten mit
dem für die primäre Aortitis charakteristischen Brustschmerzen einhergehen. Es
sind dies Beobachtungen, die dafür sprechen, daß, wenn die Lues sich gleich¬
zeitig oder hintereinander in verschiedenen Organbezirken manifestiert, sie in
jedem derselben zu einer gewissen Gutartigkeit neigt.
Obige Statistik betrifft, wie erwähnt, nur Männer; nach unserer Erfahrung
dürfte die Syphilis der Aorta bei Frauen um ein geringes seltener Vorkommen als
bei Männern, doch ist der Unterschied kein wesentlicher. Bei Frauen ist die Zahl
der Fälle von nichtbehandelter, ganz besonders zu luetischen Aortenveränderungen
neigender Lues größer als bei Männern.
Zum Schluß kämen wir noch zur Besprechung der Behandlung der Syphilis
der Kreislauforgane und speziell derjenigen der luetischen Aortitis. Wie schon
Goldscheider ausdrücklichst bemerkt, muß dieselbe eine möglichst energische
uund möglichst frühzeitig einsetzende sein, um Aussicht auf Erfolg zu haben.
Es darf jedoch nicht vergessen werden, daß es sich nicht allein um die Behand¬
lung einer Syphilis, sondern auch um die einer Herzkrankheit handelt. Es ist
daher doch die Behandlung der luetischen Aortitis, wie überhaupt auch der Syphilis
anderer innerer Organe, Sache des Internisten, und nicht des meist vorwiegend
dermathologisch ausgebildeten Syphiliologen.
Was zunächst die medikamentöse Behandlung der luetischen Aortitis an¬
belangt, so muß mit Nachdruck betont werden, daß eine einfache Jodtherapie,
auch in hohen Dosen, völlig ungenügend ist. Es ist vielmehr eine spezifische
kombinierte Jod-Quecksilber-Salvarsankur am Platze. Dieselbe wird um so energi¬
scher sein müssen, je aktiver der Aortenprozeß ist, wofür die Stärke der Positivität
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
336
P. Schrumpf
der Wa. R. einen wertvollen Anhalt gibt. Aber auch in den Fällen, wo die Wa. R.
negativ ist, genügt die einfache Jodtherapie nicht, sondern auch da muß zu einer
kombinierten Kur gegriffen werden.
Da, wo gleichzeitig eine Herzinsuffizienz vorliegt, was meistens nur bei vor¬
geschrittenen Fällen, und besonders bei großen Aneurysmen der Fall ist, muß die¬
selbe zunächst durch Digitalis und Diuretin bekämpft werden. Doch ist mäßige
Herzinsuffizienz, zumal, wenn gleichzeitig Digitalis verabreicht wird, keine Kontra¬
indikation für eine spezifische Behandlung, speziell auch nicht für die Anwendung
von Salvarsan.
Für gewöhnlich geben wir unseren Patienten durch sechs Wochen hindurch
3 g Jodnatrium pro Tag und einmal wöchentlich Neosalvarsan intravenös in
3—4 ccm Wasser aufgelöst, beginnend mit Dosis 2, darnach fünfmal Dosis 3.
Quecksilber ordinieren wir in Form von Schmierkur, oder Injektionen eines löslichen
Salzes oder per os. In. letztem Falle wird es zweckmäßig in folgender Form, mit
Jod zusammen, ordiniert:
Rp. Hydrarg. oxyd. rubr. 0,3
solve in
Sol. Na. jod. 20 : 300
d. s. 3 X tägl. einen Teelöffel nach dem Essen.
Dieselbe Kur wird nach 2 Monaten wiederholt. Es ist von großer Wichtig¬
keit., bei der Behandlung der syphilitischen Aortenerkrankung nicht locker zu
lassen, bis man nicht allein ein dauerndes Negativwerden der Wa. R., sondern
auch einen sicheren Stillstand und in vielen Fällen auch Rückgang des Leidens
klinisch feststellen kann. Von großem Wert ist in der Behandlung der Aortenlues
das Neosalvarsan, von dem wir bisher in keinem Fall unangenehme Nebenerschei¬
nungen erlebt haben. Bei schwereren Herzinsuffizienzen mag es angebracht sein,
mit dem Salvarsan vorsichtig zu sein, doch glauben wir, daß auch dann ein Ver¬
such mit Dosis 2 angebracht ist.
Kontraindiziert ist die kombinierte spezifische Behandlung in den Fällen, wo
gleichzeitig schwere Nierenstörungen vorliegen. In solchen Fällen, die prognostisch
sehr ungünstig sind, muß man sich mit Jod behelfen. Die gewöhnliche Schrumpf¬
niere, ohne Niereninsuffizienz ist keine Kontraindikation für eine schonende kom¬
binierte Therapie, auch nicht für Neosalvarsan in den genannten Dosen.
Nitroglyzerin und Nitrite sind zu verordnen in den Fällen, wo Stenokardie
vorliegt. Gerade in diesen Fällen, wo es darauf ankommt, rasch zu handeln,
möchten wir das Salvarsan nicht vermissen.
Das den Aortitiker, besonders im Beginn seines Leidens, am meisten quälende
Symptom ist dasjenige des Schmerzes. Dasselbe verliert er sehr bald nach Ein¬
setzen der kombinierten Behandlung. Leichtere, beginnende Ektasien der Aorten¬
wand können zurückgehen. Größere Aneurysmen, können oft deutlich kleiner
werden, die durch sie bedingten Kompressionserscheinungen können dadurch ganz
oder teilweise verschwinden. Zum Stillstand, d. h. zun Sklerosierung gebrachte
Läsionen der Aortenklappen können den, von seinen Schmerzen befreiten Patienten
oft auffällig wenig stören. Dasselbe gilt auch für kleinere oder sogar große
Aneurysmen. Bei den luetischen Läsionen der Aorta und der Aortenklappen ist
eben das Myokard, zum Unterschied von den infektiösen Klappenfehlern, meist
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die Syphilis de9 Herzens und der Gefäße (Häufigkeit, Diagnose u. Behandlung). 337
intakt und dem Plus an Arbeit leicht anpassungsfällig. Und von dem Zustand
des Herzmuskels hängt schließlich die Prognose eines jeden Klappenfehlers ab.
Der Aortitiker soll wenig essen, wenig trinken, Alkohol, Tabak und alle
Gifte meiden, die erfahrungsgemäß die Gefäße schädigen können. Die Diät muß
eine mehr lakto-vegetabische sein. Es ist angebracht, für Zufuhr von Kalkium
zu sorgen; speziell während der Prozeß noch als aktiv zu betrachten ist, ist Kalk
zur Unterstützung des Skleroseprozesses zu verordnen (Goldscheider).
Sehr wichtig ist, besonders in beginnenden Fällen, die körperliche Schonung
des Patienten. Körperliche Anstrengung begünstigt die Bildung von Aneurysmen
im höchsten Maß. Den verderblichen Einfluß der körperlichen Anstrengung auf
beginnende, bei der Einstellung nicht erkannte luetische Aortitiden haben wir
des häufigei’en bei Soldaten beobachten können, worauf auch neuerdings A. Hoff-
roann aufmerksam gemacht hat. So sind u. E. Fälle von sogenannter Lues latens
mit positiver Wa. R., aber ohne anscheinend objektiv nachweisbare organische
Veränderungen, bei denen es sich nach unserer Erfahrung sehr häufig um be¬
ginnende Aortaprozesse, seltener um beginnende Tabes handelt, unbedingt von
einem körperlich anstrengenden Militärdienst (Ausbildung!) auszuschließen.
Kohlensäurebäder, sind bei Aortitikern nicht angebracht; es sind überhaupt
alle, das Herz zu sehr tonisierende, die Ektasie der Aortenwand und die RuptUF
eines eventuellen Aneurysmas begünstigenden Prozeduren zu vermeiden. Daher
auch kein Digitalis, wenn es nicht unbedingt notwendig ist. Je höher sein Blut¬
druck ist, desto mehr ist der Aortitiker gefährdet.
Patienten, die einen luetischen Aortenprozeß durchgemacht haben, sind auch,
wenn derselbe über das aktive Stadium hinaus ist, dauernd unter ärztlicher Auf¬
sicht zu halten. Die Wa. R. ist in regelmäßigen Abständen immer zu wiederholen;
auch wenn sie negativ bleibt und der Patient sich wohl fühlt, ist dennoch ab
und zu eine leichte Kur zu verordnen. Gerade in diesen Fällen empfehlen wir
die kombinierte Jod-Hg-Therapie nach obiger Formel.
Die Behandlung der luetischen Aortitis ist, falls nach den skizzierten Prin¬
zipien durchgeführt, dankbar, viel dankbarer als man im allgemeinen annimmt,
am dankbarsten, wenn sie möglichst frühzeitig einsetzt. Man kann sagen, daß
die Prognose der Aortitis luetica zum guten Teil von ihrer frühen Diagnose ab¬
hängt. Aber auch . in später zur Behandlung kommenden Fällen erlebt man oft
ganz unerwartet günstige Resultate. *
Die Grundsätze bei der spezifischen Behandlung der übrigen luetischen Er¬
krankungen des Zirkulationsapparats sind dieselben, wie diejenigen bei der Aortitis.
Zeir*chr. f. phv*ik. u. diät. Therapie Bd. XXII. Heft 8/1*
0 -)
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSETY OF MICHIGAN
D. Verdauungs-, Stoffwechsel- und Konstitutions¬
krankheiten.
XVI.
Die Heilung der habituellen Stuhlträgheit
durch Trinkkuren in Kurorten.
Von
Dr. M. Ehrenreich
in Bad Kissingen.
Über die Möglichkeit einer Heilung der habituellen Obstipation durch den
Gebrauch von Trinkkuren in Kurorten äußern sich die Autoren fast durchwegs
sehr absprechend. Als Kronzeugen, dessen Urteil sich die späteren Bearbeiter
dieses Themas im großen und ganzen anschlossen, zitiere ich hier Nothnagel,
der sich folgendermaßen ausläßt: „Bezüglich der Trinkkuren in Kurorten (Marien¬
bad, Karlsbad, Homburg, Kissingen u. v. a.), sei es an den Quellen selbst, sei et
unter häuslichen Verhältnissen, ist vor allem ein weit verbreiteter Irrtum richtig¬
zustellen. Dieselben wirken nämlich nur nach Art eines gewöhnlichen Abführ¬
mittels; der Brunnen, jeden Morgen in der entsprechenden Becherzahl getrunken,
produziert für jeden Tag die Stuhlentleerung, aber weiter geht seine Wirkung
nicht; er entspricht nur einer symptomatischen Indikation, von einem Heilerfolg,
einer Beeinflussung des GrunÜzustandes ist keine Rede.“ Und weiterhin: „Die
Tatsache, daß Patienten mit habitueller Obstipation wälirend ihres Aufenthaltes
in Kurorten sich wohl fühlen, ist freilich sicher und auch aus. mehreren bekannten
Gründen erklärlich; und deshalb suchen sie jahrelang ununterbrochen ihren ge¬
wohnten Kurort auf. Aber ebenso sicher, wie wir alljährlich an zahlreichsten
Fällen beobachten können, ist, daß nach beendeter Kur der alte Zustand wieder
da ist; „„in X. Y. hatte ich täglich regelmässigen Stuhl, vor vier Tagen bin ich
von dort abgereist, seit zw r ei Tagen habe ich schon wieder keinen Stuhl““, so
lautet ein nicht seltener Bericht“.
Trotz diesen ungünstigen Beobachtungen Nothnagels und anderer behaupte
ich auf Grund ausgedehnter, in Kissingen gewonnener Erfahrung, daß die Heilung
der habituellen Obstipation durch Trinkkuren nicht nur möglich ist, sondern sogar
in der weitaus größeren Zahl der Fälle mit Sicherheit herbeigeführt werden kann.
Der Widerspruch, in dem diese meine Erfahrung zu den Beobachtungen
vieler erfahrener Spezialisten steht, findet seine Erklärung darin, daß die Art, wie
ich die Kur gebrauchen lasse, von der herkömmlichen durchaus verschieden ist.
Di^itized by Gck >gle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die Heilung der habituellen Stuhlträgheit durch Trinkkuren in Kurorten. 339
Die übliche Behandlung der habituellen Obstipation in Kurorten besteht
darin, daß dem Verstopften auf gegeben wird, morgens nüchtern zwei, drei und
mehr Becher des Brunnens, oft noch verstärkt durch Zusatz von Bitterwasser oder
Salz, zu trinken und außerdem eine „Obstipationsdiät“ einzuhalten, d. h. eine
möglichst schlackenreiche, den Darm mechanisch und chemisch reizende Kost mit
grobem.Brot, Honig, Marmelade, viel Gemüse, Salat und rohem Obst, saurer Milch,
Kefir usw.
Es kann nicht fehlen, daß bei diesem Regime der Patient häufige und reich¬
liche Entleerungen hat und demgemäß ob seiner „vorzüglichen Verdauung“ hoch¬
befriedigt ist, obwohl dabei gerade die Verdauung, das heißt die Aufschließung
und Aufsaugung der zugeführten Nahrung, eine besonders schlechte ist. Es kann
aber auch nicht ausbleiben, daß er nach beendeter Kur, wenn dem Darm die
gewohnten Anregungs- und Abführmittel der Obstipationsdiät und des Mineral¬
wassers entzogen sind, wieder ebenso verstopft ist oder gar noch mehr als vor
Gebrauch der Kur.
Nachdem ich diese Erfahrung in den ersten Jahren meiner Kissinger Tätig¬
keit des öfteren gemacht hatte, verließ ich diese Behandlungsweise vollständig
zugunsten der weiter unten zu schildernden, zu der ich auf Grund von Erwägungen
gelangte, die hier kurz dargelegt seien.
Bei nahezu sämtlichen Fällen von habitueller Obstipation, d. h. von nicht
durch handgreifliche anatomische Veränderungen (wie Kazinom, Narbenstriktur,
Verwachsungen, Gebärmutterverlagerungen u. dgl.), oder durch chronische Intoxi¬
kation oder Nerven- und Geisteskrankheiten verursachter eingewurzelter Stuhl¬
trägheit, kann man durch genaue Ermittelung der Vorgeschichte sich überzeugen,
daß hauptsächlich zwei Momente die Ursache für ihre Entstehung abgaben, und
zwar erstens die wiederholte willkürliche Unterdrückung des natürlichen Stuhl¬
dranges und zweitens die mangelnde Erziehung des Darmes zur Ausstoßung seines
Inhaltes zu eiilbr bestimmten Zeit. Das erstere Moment tritt oft schon in der
frühesten Jugend durch Verschulden von Eltern und Erziehern ein, die aus Un¬
kenntnis oder Gleichgültigkeit die Kinder in diesem Punkte falsch erziehen. Häufiger
kommt es mit dem Eintritt in Schule und Berufsleben zur Geltung und ist dann
oftmals ganz unvermeidlich. Veränderungen der gewohnten Lebensweise, vorüber¬
gehende Krankheiten, Reisen u. dgl. sind Umstände, die sein Eintreten nicht selten
unterstützen. Je häufiger nun der natürliche Stuhldrang unterdrückt wird, desto
größer wird die Gefahr, daß der Darm seine vergeblichen Mahnungen überhaupt
für längere Zeit einstellt und damit die Etablierung der chronischen Stuhl¬
verstopfung einleitet, die dann um so tiefere Wurzeln schlägt, je länger sie besteht,
und je mehr der Darm durch den gedankenlosen Gebrauch von Abführmitteln davon
entwöhnt wird, aus eigenem Antrieb seine ausstoßenden Funktionen zu erfüllen.
Eine auf diese Weise entstandene habituelle Obstipation kann man recht eigentlich
als eine Kulturkrankheit bezeichnen, denn es liegt in unseren Kulturverhältnissen
begründet, daß wir es uns oft versagen müssen, den zu unpassender Zeit auf¬
tretenden Drang, zu Stuhl zu gehen, sofort zu befriedigen. Daraus folgt jedoch
durchaus nicht, daß sie ein notwendiges Kulturübel sei. Sie wäre, im Gegenteil,
durchaus vermeidlich, wenn allen Kulturmenschen die physiologische Tatsache
bekannt wäre, daß man seinen Darm dazu erziehen kann, seinen Inhalt täglich
22 *
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
340
M. Ebrenreich
zu einem bestimmten Zeitpunkt, den man sich durchaus beliebig wählen kann,
abzugeben. Diese Erziehbarkeit des Dickdarms macht den, der sie kennt, in
weitestem Umfang unabhängig von der sofortigen Befriedigung auftretenden Stuhl¬
drangs. Wer sie jedoch nicht kennt, ist nicht in der Lage, dessen oft unvermeid¬
liche Unterdrückung durch entsprechende Erziehung seines Darmes auszugleichen
und dadurch der Entstehung einer habituellen Obstipation vorzubeugen. •
Ist die Stuhlträgheit erst einmal eingewurzelt, so kann sie verschiedene
Formen annehmen und auch durch die Verfassung anderer Organe in ungünstigem
Sinne beeinflußt werden. Die Einteilung in atonische und spastische Formen, die
Fl ein er zuerst angegeben hat, hat sich in der Praxis am besten bewährt und
muß bei der Behandlung stets berücksichtigt werden. Weitgehende Berücksichtigung
erfordern ferner auch Veränderungen anderer Organe, insbesondere Störungen
der Magensekretion und Motilität, wobei es bezüglich des Effektes ganz gleich¬
gültig bleibt, ob man diese Störungen als primär oder sekundär auffaßt. Am
wenigsten darf man bei der Behandlung die psychischen Veränderungen ausser
acht lassen, die bei länger dauernden Stuhlverstopfungen nie fehlen, und sich
hauptsächlich in der Art äußern, daß sich bei dem damit Behafteten die Vor¬
stellung, er könne ohne die Hilfe von Abführmitteln überhaupt nicht mehr zu
Stuhle gehen, in krankhafter Weise festsetzt.
Geht man von den eben dargelegten Gesichtspunkten aus, so muß das Ziel
einer rationellen Behandlung der habituellen Obstipation sein, zunächst den Dann
wieder für die physiologischen Entleerungsimpulse empfänglich zu machen und ihn
hernach zu geregelter Entleerung zu erziehen. Es ist klar, daß durch Ver¬
abreichung von Abführmitteln ein solcher Erfolg nicht zu erreichen ist, denn das
Abführmittel setzt einen Reiz, der von einer Erschlaffung gefolgt wird, wodurch
der träge Darm noch träger gemacht wird, so daß man für die Folge zu immer
stärkeren Reizen greifen muß, sei es durch Vergrößerung der Dosis, sei es durch
Anwendung stärker wirkender Mittel. Wenn man daher im Badeort einen bisher
mit Abführmitteln mißhandelten Darm mit großen Dosen des Mineralwassers und
außerdem durch eine, den Darm mechanisch und chemisch reizende Kost zur Tätig¬
keit „anregt“, so bedeutet dies nichts anderes als eine geradlinige Fortsetzung
der bisherigen Behandlung durch Steigerung der den Darm reizenden Mittel und
der Enderfolg kann daher auch kein anderer sein, als der durch diese Mittel
erzielbare. Will man den Darm der inadäquaten Reize entwöhnen und wieder für
adäquate empfänglich machen, so muß man also anders Vorgehen. Man muß ihm
zunächst Ruhe lassen, damit er sich wieder auf sich selbst besinnen kann, und
die notwendige Entleerung mit einem Minimum des Mineralwassers herbeizuführen
suchen.
Diese Erwägungen erheben keinen Anspruch darauf, neu zu sein, sind viel¬
mehr in anderen Zusammenhängen in der Literatur oft erörtert worden. Ins¬
besondere hat Ehrmann aus Goldscheiders Klinik vielfach ähnliche und aus¬
führlich begründete Ansichten zu diesem Thema in dieser Zeitschrift mitgeteilt,
und auch eine vom Kurorte unabhängige Behandlungsmethode mitgeteilt, der ich
mehrere Anregungen beim Ausbau meines Kurverfahrens entnommen habe,
f* Im einzelnen gestaltete sich mir dieses im Laufe der Jahre bei unkompli¬
zierten Fällen habitueller Verstopfung folgendermaßen:
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die Heilung der habituellen Stuhlträgheit durch Trinkkuren in Kurorten.
341
■ Dem Patienten wird aufgegeben, morgens nüchtern die notwendige Menge
Rakoczy zu trinken. Nur in den allerseltensten Fällen überschreite ich die Dosis
von 600 Gramm, ziehe es vielmehr vor, bei ungenügender Wirkung für den Anfang
kleine Mengen Bitterwassers, höchstens 50 bis 100 Gramm, dem Brunnen zusetzen
zu lassen, die jedoch möglichst bald wieder allmählich fortgelassen werden. In
dieser kleinen Dosis und so stark verdünnt wirkt das Bitterwasser nicht reizend.
Unter bewußtem Verzicht auf die peristaltikanregende Wirkung der Kälte und
der Kohlensäure, empfehle ich in den meisten Fällen, das Wasser warm und ent¬
gast zu trinken. Ob es unter Spazierengehen am Brunnen oder im Bett getrunken
wird, ist nach meiner Erfahrung durchaus gleichgültig, sofern es nur morgens
frisch vom Brunnen geholt wird. Bei Atomkern und Enteroptotikern ist das
Trinken im Bett entschieden angezeigt. Die althergebrachte Verordnung, das
Wasser langsam und in kleinen Schlücken zu trinken, ist wohl berechtigt, weil
dadurch seine Verweilzeit im Magen abgekürzt wird.
Ich versäume es nicht, intelligente Patienten dahin zu unterweisen, daß es
darauf ankomme, das Mindestquantum an Mineralwasser herauszufinden, das bei
dem Betreffenden eine einmalige Stuhlentleerung herbeiführt, und daß dazu seine
Mitwirkung erwünscht sei, daß er sich jedoch keinerlei Gedanken darüber zu
machen brauche, ob ihm die Entleerung nach Form und Menge genügend erscheine.
Der zweite und wichtigere Teil der Kurverordnung ist die Regelung der
Diät. Sie ist bei meiner Verordnung das Gegenteil einer „Obstipationsdiät“. Ent¬
sprechend den oben dargelegten Gesichtspunkten erlaube ich nur gekochte, leicht
verdauliche und breiweiche Speisen, und verbiete alle jene, welche den Darm
mechanisch oder chemisch stärker reizen. Das Schema für unkomplizierte Fälle
ist ungefähr folgendes: Morgens: Tee oder Kaffee mit Milch, Weißbrot oder Zwie¬
back, Butter, weiche Eier. Mittags: Legierte Suppe oder Fleischbrühe ohne
Gemüseeinlagen. Zartes Fleisch und Fisch, gekocht oder gebraten, weichen Reis,
Grieß, Sago, Kartoffelbrei. Gemüse und Konipot wenig und nur in Püreeform
oder so weich, daß es auf dem Teller zu Brei zerdrückt werden kann. Ferner
weiche Käsearten. Als Nachspeisen: Bisquittorten imd Aufläufe von Reis, Grieß usw.
Als Getränke: Leichten Weißwein mit Wasser oder ein geeignetes Tischwasser.
Das Schema gilt, wie gesagt, nur für ganz unkomplizierte Fälle. Hat man,
wie dies in Badeorten nicht selten ist, außer der Stuhlträgheit noch andere Er¬
krankungen mitzubehandeln, so müssen diese natürlich bei der Regelung der Diät
mitberücksichtigt werden. Es macht keine Schwierigkeiten, im Rahmen dieses
Schemas die erforderlichen Modifikationen für Entfettungs- oder Mastkuren, Mit¬
behandlung von Adernverkalkung, Gicht, Magenkrankheiten usw. eintreten zu
lassen. Hier ist eben der Punkt, wo die individualisierende ärztliche Behandlung
einzusetzen hat, nur daß dabei der leitende Gesichtspunkt bleiben muß, daß nur
leichtverdauliche Speisen in weichster Form zu gestatten sind.
Bei Verordnung dieser Diät äußern die Patienten nicht selten ilu - Erstaunen,
daß sie so ganz entgegengesetzt den Vorschriften sei, die sie von früher be¬
handelnden Ärzten und berühmten Spezialisten erhalten hätten. Eine ent¬
sprechende Aufklärung, daß die angeordnete Änderung eine vorübergehende und
durch die besonderen Erfordernisse der Trinkkur bedingte sei, ist hier am Platze.
Auch empfiehlt es sich, sie darauf vorzubereiten, daß sie bei diesem Regime weder
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
342 Ehrenreich, Die Heilung der habituellen Stuhlträgheit durch Trinkkuren in Kurorten.
besonders häufige, noch reichliche Entleerungen haben werden, und daß dies im
Plane der Kur gelegen sei.
Ich belasse es bei dieser Kurvorschrift je nach der zur Verfügung stehenden
Zeit 2 bis 3 Wochen. Alsdann lasse ich eine einschneidende Änderung vornehmen.
Die Trinkkur wird jäh unterbrochen; dies hat sich mir besser bewährt als ein
allmähliches Herabgehen mit der Dosis. Eine ebenso gründliche Umänderung
erfährt die Diät. Nunmehr kommt die von Boas herrührende „Obstipationsdiät“
zu ihrem Rechte, die jetzt an Stelle der bisherigen Schonungsdiät für einige Zeit
verordnet wird. Damit ist die Kur an ihrem kritischen Punkt angelangt. Der
Patient muß zunächst die Gewißheit erhalten, daß sein Da^m nunmehr so weit
wieder hergestellt ist, daß er keiner Abführmittel mehr bedarf, jedoch kann zu
diesem Zeitpunkt meist noch nicht ganz auf einige Hilfsmaßnahmen verzichtet
werden, die gleichzeitig mit dem Aussetzen der Trinkkur oder schon einige Tage
vorher Platz zu greifen haben. Sie sind verschieden, je nach Art der vorliegenden
Komplikation der Verstopfung. Bei Atonie ist es Massage des Dickdarms, bei
Spasmen die Verordnung von Belladonna mit dem ausdrücklichen Hinweis, daß es
sich hierbei nicht um ein Abführmittel handle, bei Übersäuerung des Magens wird
man morgens etwas Alkali nehmen lassen, bei schlaffen Bauchdecken wird man
zu gymnastischen Übungen greifen u. s. f., vor allem aber darf man eine ent¬
sprechende psychische Beeinflussung nicht vergessen.
Der Erfolg ist fast immer ein prompter. Meist nach 1 bis 2 bis 3 Tagen
kommt der Patient seinen Erfolg zu melden. Mehrmals sah ich Frauen, die seit
Jahrzehnten nicht mehr ohne Abführmittel leben zu können vermeinten, vor Rührung
ob der gelungenen Kur Tränen vergießen.
Ist man erst bis zu diesem Punkte gelangt, so hat man gewonnenes Spiel,
wenn auch die Behandlung damit noch lange nicht abgeschlossen ist. Es kommt
vielmehr jetzt noch darauf an, den Patienten wieder von der „Obstipationsdiät“,
die jetzt ihre Schuldigkeit getan hat, und den, während der Übergangszeit be¬
nützten, oben erwähnten Hilfsmaßnahmen, insbesondere der Belladonna, zu ent¬
wöhnen, was, wenn es allmählich geschieht, keine Schwierigkeiten macht, und
schließlich muß er noch lernen, wie er seinen Darm auf eine bestimmte Entleerungs¬
zeit zu dressieren hat. Dabei wäre es fehlerhaft, ihm hierfür die Zeit morgens nach
dem Auf stehen zu empfehlen, weil der Darm der meisten Menschen morgens ruht,
und sie außerdem nach dem Aufstehen sich oft nicht die genügende Zeit nehmen
können. Die günstigste Zeit ist nach einer der Hauptmahlzeiten, und zwar nach
derjenigen, nach welcher der Betreffende genügende Muße für diesen wichtigen
Akt hat. Der Kurarzt kann für die Nachbehandlung, die mehrere Wochen in
Anspruch nimmt, meist nur allgemeine Direktiven geben und muß das übrige dem
Hausarzt überlassen. Aber nie entlasse ich einen derartigen Patienten ohne die
Mahnung: „Nehmen Sie nie wieder ein Abführmittel ein! Bei jedem Menschen
kann es einmal zu vorübergehenden Störungen der Darmentleerung kommen.
Greifen Sie in einem solchen Falle lieber einmal vorübergehend zu einem Einlauf,
und sehen Sie zu, daß Ihr Darm am folgenden Tag wieder von selbst seine
Schuldigkeit tut!“
Seit 10 Jahren übe ich diese Methode der Behandlung der eingewurzelten
Stuhlträgheit und bin gut mit ihr gefahren. Mißerfolge kommen natürlich
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
R. Ehrtnann, Über Akromegaloidismus und zur Theorie der inneren Sekretion. 343
gelegentlich auch vor, besonders bei schwerer Hysterie. Im allgemeinen sind sie
jedoch so außerordentlich selten, daß in jedem Falle, bei dem diese Kur versagt,
der Verdacht gerechtfertigt ist, zu dem nach Boas sonst erst das Versagen der
stärksten Abführmittel berechtigt, daß es sich nämlich dann nicht um eine
habituelle, sondern um eine, durch anatomische Hindernisse verursachte chronische
Verstopfung handle. Nicht wenige der Patienten blieben dauernd geheilt, manche
wurden nach Monaten oder Jahren rückfällig, und kamen dann die Kur zu wieder¬
holen. Nach der Ursache ihrer Rückfälligkeit befragt, gaben sie meist selbst an,
daß diese einzig in ihrer wieder eingerissenen Nachlässigkeit gelegen sei. „Ich
dachte, in 1 bis 2 Monaten komme ich ja ohnehin wieder nach Kissingen, und
da kommt es jetzt nicht mehr so genau darauf an“, lautet die scherzhafte Erklärung,
die man von solchen Patienten nicht ganz selten hört.
XVIL
Ober Akromegaloidismus und zur Theorie der inneren Sekretion.
Von
Professor Dr. R. Ehrmann,
Direktor der inneren Abteilung deB städtischen Krankenhauses Neukölln.
Nachdem das Krankheitsbild der Akromegalie und seine Beziehung zur Hypo¬
physe von Pierre Marie entdeckt worden w T ar, ist durch die Untersuchungen von
v. Hansemann, Benda, B. Fischer und anderen mikroskopisch eine Steigerung
der spezifischen Sekretion des Vorderlappens nachgewiesen w r orden, die ihren Grund
in adenomatösen Wucherungen dieses Teils der Hypophyse hat. Wir haben nun
eine Reihe von Patienten beobachtet, bei denen die der Akromegalie eigen¬
tümlichen Veränderungen in geringem Maße oder angedeutet vorhanden w r aren. Im
Gegensatz zur Akromegalie, die mit der Bildung der genannten Adenome sich bei
den Patienten eines Tages entwickelt, sind die Abweichungen bei unseren Pa¬
tienten von vornherein vorhanden gewesen und ihnen nicht zum Bewußtsein ge¬
kommen. Aus den beigefügten Photographien, sowie den Röntgenogrammen der
Hände und der Sella turcica ergibt sich, daß hier Änderungen vorliegen, die für eine
vermehrte Sekretion der Hypophyse sprechen, und nach den Aufnahmen der
Schädel scheint bei einem Teil unserer Patienten auch eine geringe Vergrößerung
der in der Sella turcica liegenden Hypophyse vorhanden zu sein. Ein sicherer Nach¬
weis durch die Obduktion W'ar allerdings bisher noch nicht möglich. Trotzdem
möchte ich annehmen, daß eine vermehrte sekretorische Tätigkeit des Vorderlappens
der Hypophyse hier vorliegt. Bei einem Teil der Patienten haben w’ir rheumatoide Be¬
schwerden wahrgenommen, bei anderen bestanden neben der eigenartigen Veränderung
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Eliritifuu:, (lief Akr>*»ii(-i'aJiii«J.iü!i)Vf5 und zur Theorie der inneren Svkrehu
(i^r gi'jdelüden Teile des Kot
, vliji , dev müssen leider wegen 4bb °
'Raummangels wegbMbeiu
iiiiüg mul 4 sind von einem Fall vdn echte»' Akromegalie zum Aei-gleich.>
Im mm hieran- itnii ltft» i»,-h noch einige Wort« über die innere Sekretion
v pnplivse '-igeü. dieach am h auf andereihüsen um innerer Sekretien be-
auf die Mebeitüiwu beziehen. Ks ist anitaHend, daß man sowohl bei der
AM>. .'i. M'isrhieden aurgefalH. zumal sin Al»h 4.
v !uuh‘
iehKVste:
H M V -o
m■> keinerlei -f
§sM
r A'Uwt
ichungei
i, wo daß Hittn f§p»ffi|
?.V-- - -
iS _
■E;
jtehTtf'ei!
iden nur als
mm
ÖF ; WM. .ci'iiün
Higrn ..Tyjj" fjf8|[|
H. Gerhartz, über die Beziehungen zwischen Wasser- und Kochsalzretention usw. 345
auch ihrer Herkunft nach ganz verschieden zu bewerten sind. Trotzdem glaube
ich, daß der Gegensatz zwischen Vorder- und Hinterlappen bei der Hypophyse und
zwischen Rinde und Mark bei den Nebennieren sich erklären und vor allem auch gut
mit der großen Bedeutung der Pathologie des Vorderlappens bzw. der Rinde in Ein¬
klang bringen läßt. Es ist gar nicht so auffüllig, wenn man wirksame Substanzen
aus Vorderlappen bzw. Rinde nicht gewinnen kann, und trotzdem hier, wofür auch
das mikroskopische Bild spricht, den eigentlichen Ort der Bildung der hochwirk¬
samen Substanzen annimmt, die man aus Hinterlappen bzw. Mark extrahieren kann.
Denn es ist höchst wahrscheinlich, daß an ersteren Orten so starke fermentative
Kräfte am Werke sind, oder daß bei der Produktion so stark wirksame Neben¬
produkte entstehen, die eine schnelle Zerstörung der wirksamen Substanzen am
Orte ihrer Bildung vornehmen würden. Aus diesem Grunde ist es sehr wahr¬
scheinlich, daß das produzierte Sekret, um nicht zerstört zu werden, sofort in
den benachbarten Hinterlappen bzw. in das benachbarte Mark abfließen muß, wo
es sich speichern kann. Hier ist es offenbar vor den Schäden einer weiteren
Einwirkung gesichert und es ist daher nicht wunderbar, wenn man aus diesen
Teilen, quasi wie aus einem Speicher, durch Extraktion das wirksame innere
Sekret gewinnen kann, dessen Herstellung nach den mikroskopischen Befunden
wohl im Vorderlappen und in der Rinde gesucht werden muß.
XVIII.
Ober die Beziehungen zwischen Wasser- und Kochsalzretention.
Zur Theorie der Ödembildung durch Salzzufuhr.
Von
Prof. Dr. med. et phil. H. Gerhartz
in Bonn (Mediz. Klinik).
Der ursächliche Zusammenhang zwischen Wasseranreicherung und Ödem¬
bildung einerseits und der Zurückhaltung von Natriumverbindungen, hauptsächlich
Kochsalz, andererseits, ist seit den Arbeiten von H. Strauß, Widal und Javal,
Achard (1902 bis 1903) nicht mehr aus der Diskussion über die Entstehung der
Ödeme geschwunden. Während die Beobachtungen der genannten und anderer
Autoren unzweifelhaft den nach den osmotischen Gesetzen zu erwartenden Parallel-
ismus zwischen Kochsalzretention und Wasserbindung bzw. Ödementstehung für
gewisse Fälle von Nierenentzündung dargetan haben, sind auch Mitteilungen
erschienen, die über Kranke berichten, bei denen eine konstante parallele Beziehung
zwischen Kochsalzzurückhaltung und Ansammlung von Wasser im Unterhautzell¬
gewebe vermißt wurde. 1 ) Es wurde dafür vermutet, daß eine Divergenz im Aus-
') L. Mohr, Über das Ausscheidungsvermögen der kranken Niere. Ztschr, f. kl. Med.,
Bd. 51, S. 331—348. 1904. — R. Claus, M. Plaut, F. Reach, Studien zur Path. u. Ther. der
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
34G
H. Gerhartz
scheidungsvermögen für Kochsalz und Wasser in der Niere bestehe 1 ). Überhaupt
wurden, da das Augenmerk nur auf Nephritiker gerichtet war, die noch unklaren
Verhältnisse mit dem kranken Zustande der Niere in ursächlichen Zusammenhang
gebracht. Ferner wurde, um die Wirkung des angereicherten Kochsalzes zu
erklären, noch auf toxische Einflüsse,*Gefäßschädigungen zurückgegriffen 2 ). Blum 3 )
fand dann aber, was ich selbst bei einem einjährigen Kind bestätigt gefunden
habe, daß auch bei Abwesenheit irgendwelcher Zeichen einer Erkrankung der
Nieren Natrium bicarbonicum bei Zuckererkrankung imstande ist, Ödembildung
zu bewirken.
Aus Versuchen von T ach au 4 ) an gesunden Mäusen ergab sich weiter, daß
es nicht angängig ist, Ödembildung und Wasseranreicherung im Körper für diese
Betrachtungen zu identifizieren, da Ödembildung ohne Änderung des Wasserbestandes
des Organismus Vorkommen kann; ferner aber, daß bei Tieren, die große Mengen
Kochsalz erhalten haben, der Wassergehalt des gesamten Körpers gegenüber
Normaltieren nicht vergrößert zu sein braucht.
«Es dürfte für das Verständnis der Parallelität vön Wasser- und Natrium¬
kation-Retention am wertvollsten sein, wenn nachgewiesen werden kann, daß ein
Kausalkonnex der beiden Stoffe unter physiologischen Bedingungen bereits
besteht, und daß dieser mit einer Erkrankung der Nieren, der Gefäße oder anderer
Gewebe an und für sich nichts zu tun hat.
Ein 12 kg schwerer, 2 Jahre alter, weiblicher Pudel 5 ) wurde zur Unter¬
suchung der unter der Einwirkung von Muskelarbeit zu erwartenden Änderungen
im Wassergehalt des Körpers angehalten, täglich 6000 Touren (1 Tour = Weg
von 65 cm) auf einer 28,52 % zur Ebene geneigten Tretbahn, d. i. 3920 m Hori¬
zontalweg und 11,19 m Steigung, zu leisten. Harn und Kot wurden täglich genau
gemessen und ’die Aschenbestandteile aus Harn und Kot der ganzen Periode
untersucht.
Zur Bestimmung der Alkalien wurden zunächst Schwefelsäure, Magnesia.
Phosphorsäure und die Erdmetallphosphate durch Barytwasser (unter Zusatz von
Eisenchlorid) entfernt, die Reste der Salze der Alkalierden mit Ammonium¬
karbonat beseitigt. Es wurde dann die Lösung der Kalium- und Natriumchloride
mehrmals abgedampft und von den Ammonsalzen befreit. Das Kalium wurde als
Kaliumplatinchlorid aus dem gewogenen Chloridgemisch abgeschieden und gewogen.
Nephritis, Med. Klin., Jg. 1, S. 646— 649. 1905. — I. W. Biooker, Über den Einfluß der Koch¬
salzzufuhr auf die nephritischen Ödeme. Arch. f. klin. Med., Bd. 96, S. 80—104. 1909. — Ferner
Richter, Magnus, Heineke u. A.
*) Mari schier, Über den Einfluß des Chloraatrium auf die Ausscheidung der kranken
Niere. Arch. f. Verd., Bd. 7, H. 332. 1901.
a ) Schlayer, Hedinger und Takayasu, Über nephritisches ödem. D. Arch. f. kl. Med.,
Bd. 91. 1907. — A. Bittorf, Zur Pathologie des Wasser- und Salzstoffwecbsels. D. Arch. f.
kl. Med., Bd. 94, S. 84—109. 1908.
3 ) L. Blum, Über die Rolle von Salzen bei Entstehung von Ödemen. Verh. des 26. Kongr.
f. inn. Med. 1909. S. 122-126.
4 ) P. Tachau, Versuche über einseitige Ernährung. 2. Wasserverteilung und Ödembildung
bei Salzzufuhr. Bioch. Z., Bd. 67, S. 338—349. 1914.
5 ) P. v. Monakow, Untersuchungen über die Funktion der Niere unter gesunden und
krankhaften Verhältnissen. D. Arch. f. klin. Med., Bd. 123, S. 30 ff. 1917.
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Über die Beziehungen zwischen Wasser- und Kochsalzretention usw.
347
Es wurde in der 15 tägigen Arbeitsperiode im Mittel pro Tag erhalten:
Ausfuhr: im Harn 0,53 g Na. 2 0
» Kot 0,02 „ „
Insgesamt 0,55 g Na 2 0
In einer folgenden 10 tägigen Ruheperiode wurde erhalten:
mittlere tägliche Ausfuhr: im Harn 0,47 g Na 2 0
„ Kot 0,02 „ „
Zusammen 0,49 g Na 2 0
Es wurde also vom arbeitenden Tier 0,55 g Na 2 0 (Arbeit)
0,49 „ Na 2 Q (Ruhe)
0,06 g Na 2 0 mehr verloren, ferner
aber auch pro Tag 116 g Wasser mehr abgegeben. Hierbei kann es sich nur um
eine Abgabe von Wasser in den zirkulierenden Flüssigkeiten handeln, da die noch
in Betracht kommende Muskulatur nachweislich zunahm. Daraus geht also hervor,
daß bereits unter physiologischen Verhältnissen Natrium und Wasser sich parallel
verschieben, und zwar deshalb, weil sie in den natriumhaltigen zirkulierenden
Körperflüssigkeiten, in Blut und Lymphe, zusammen retiniert oder verloren werden.
Ist dem aber so, so kann es nicht zweifelhaft sein, daß eine Behinderung der
Ausscheidung von Kochsalz zur Wasserretention führen, eine verminderte Wasser¬
abgabe zur Kochsalzzurückhaltung Anlaß geben wird; d. h. eine enge und direkte
Beziehung zwischen der Aufnahme von Na CI und Wasser und der Abgabe von
Kochsalz und Wasser, die von einigen Autoren in Zweifel gezogen wird, ist sicher.
Ich kann daher die Angabe von Magnus, daß nur nach Ausschaltung der Nieren,
und deshalb nur auf dem Umwege über eine Schädigung der Gefäße, nicht beim
gesunden Tier, enge Beziehungen zwischen Kochsalz- und Wasseransammlung sich
einstellten, nicht als beweiskräftigen Einwand gegen die Lehre von den „Kochsalz¬
ödemen“ ansehen. Wenn der klinische Streit dahin geht, ob bei renalen Ödemen
die renale Kochsalzretention das Primäre ist (Widal, Strauß u. A.) oder die
Ödeme die Kochsalzansammlung zur Folge haben, so muß man sagen, daß beides
möglich ist und zur Erklärung genügen kann und zwar auch ohne Zuhilfenahme
pathologischer Faktoren. Nicht entschieden ist damit, was klinisch das Vorliegende
bei den renalen Ödemen ist.
Daß bei einer Reihe von Nierenkranken eine primäre Behinderung der Koch¬
salzausfuhr vorliegt, scheint mir nach den Beobachtungen v. Monakows 1 ) äußerst
wahrscheinlich.
') H. Gerhartz, Untersuchungen Uber den Einfluß der Muskelarbeit auf die Organe des
tierischen Organismus, insbesondere ihren Wassergehalt. Pflüg. Arch., Bd. 133, S. 413. 1910.
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
348
Emst Steinitz
XIX.
Ober den Einfluß therapeutischer Maßnahmen auf den
Harnsäuregehalt des Blutes und die Verwertung der
Beobachtungen für die Gichttherapie.
Aus dem poliklinischen Institut für innere Medizin der Universität Berlin.
(Geheimrat Prof. Goldscheider.)
Von
Dr. Ernst Steinitz,
Assistent des Instituts, z. Z. Stabsarzt d. Res.
Der Erfolg einer Gichttherapie ist, soweit es sich nicht um die Behandlung
des akuten Anfalles handelt, schwer zu beurteilen. — Aufschluß über die Wirkung
allein in der Beobachtung der Harnsäureausscheidung durch den Urin zu suchen,
muß als ziemlich aussichtslos gelten; denn selbst, wo eine starke Harnsäureflut
sich einstellt, kann vermehrte Produktion die Ursache sein, wie dies z. B. für die
Harnsäureflut nach Atophan von manchen Seiten vermutet worden ist.
Mehr Aufschluß verspricht die Untersuchung des Blutes. Von jeher richtete
die Gichttherapie ja ihr Bestreben darauf, den Organismus nach Möglichkeit von
Harnsäure zu befreien, und als bester erreichbarer Indikator dafür muß der Harn¬
säuregehalt des Blutes gelten. . Es hat daher seine Berechtigung, in ihm einen
Gradmesser auch für den therapeutischen Erfolg zu suchen, und es ist von Interesse,
sein Verhalten unter den verschiedenen therapeutischen Maßnahmen zu verfolgen.
Der wirkliche Wert auch dieses Anhaltspunktes wird sich freilich erst nach
umfassenderen Erfahrungen darüber ergeben, mit welcher Regelmäßigkeit
Senkung des Blutharnsäurespiegels und Besserung des Leidens Hand in Hand gehen.
Untersuchungen über die Blutharnsäure mit zuverlässigen Ergebnissen und
in größerem Umfange sind erst möglich geworden durch neuere Methoden, die
kurz vor dem Kriege Eingang gefunden haben.
Die kolorimetrische Methode von Folin und Denis ist mit einigen Verbesserungen
ziemlich gleichzeitig in der Friedrichschen Klinik in Mönchen nnd in der unseren
angewandt worden und hat in beiden Untersuchungsreihen gut übereinstimmende Re¬
sultate ergeben. Leider int durch den Krieg die Fortführung der Untersuchungen bei
uns unterbrochen worden. Die Methode ist aber auch später von Landmann und Höst
mit gutem Erfolg und den früheren entsprechenden Resultaten verwendet worden. —
Wichtig an der neuen Methode ist die Möglichkeit, den Harnsäuregehalt mit geringen
Blutmengen (10 ccm) zu bestimmen. Das erst hat häufige Untersuchungen bei ein und
derselben Person ermöglicht. Wir haben bis zu drei an einem Tage und innerhalb
einiger Monate bis weit über zehn an einem Patienten vorgenommen.
X
Digitizeü by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
übei- den Einfluß therapeutischer Maßnahmen auf den Harosäuregebalt des Blutes usw. 349
Unsere Beobachtungen über die Einwirkung therapeutischer Maßnahmen sind
durchaus noch nicht abgeschlossen und bedürfen noch sehr der weiteren Ergänzung
und Sicherung der Ergebnisse. Die Unterbrechung, die der Krieg für absehbare
Zeit in unsere Arbeit gebracht hat, läßt aber eine vorläufige Zusammenstellung
und Verwertung der Resultate erlaubt erscheinen.
Als Grundlage der Gichtbehandlung dürfen die diätetischen Maßnahmen
gelten. Wir sahen bei reiner Milchdiät erhebliche Senkung des Blutharnsäure¬
spiegels in kurzer Zeit. Für längere Zeit wird man sich aber zu solcher Diät
wegen der Schädigung der Ernährung nicht leicht entschließen. — Nach purinfreier
Diät war innerhalb kürzerer Zeit stets nur eine mäßige Wirkung, manchmal gar
keine festzustellen. 1 ) Dem entsprechen auch Erfahrungen an Gesunden, bei denen
die Unterschiede des Blutharnsäuregehalts bei purinfreier und bei beliebiger Diät
zw’ar meist deutlich, aber nicht so erheblich sind, wie man nach früheren Vor¬
stellungen erwartete. Bei einigen Kranken, die purinfreie Diät monatelang ge¬
wissenhaft fortsetzten, sank der Harnsäuregehalt aber doch mit der Zeit deutlich
ab (Tabelle l) 2 ). Das Befinden w r ar dabei durchschnittlich gut, Anfälle traten nicht
auf. Wichtig für die Einschätzung derartiger Erfolge ist es, sich gegenwärtig zu
halten, daß zur Erzielung eines wesentlichen Heilerfolges unter Umständen schon
eine mäßige Herabsetzung des Harnsäurespiegels ausreichen kann, wenn sie den¬
selben gerade unter das für den betr. Patienten gefährliche Niveau senkt. Solche
Versuche mit monatelang eingehaltener Diät w r aren natürlich nur ausnahmsweise
durchführbar 3 ). — Sehr interessant wäre es, den Einfluß der Kriegsernährung mit
ihrer erzwungenermaßen knappen und fleischarmen Kost an Kranken und Gesunden
festzustellen. Leider war mir dieses durch dauernde Abwesenheit von meiner
Arbeitsstätte i^nöglich 4 ).
Tabelle I.
21. Gicht, Paral. agitans. Therapie: Diät.
mg Harnsäure
in 100 g Blut
Purinfrei seit 4 Tagen . . ,. 4,9
» . - 12 „ .^ . 5,7
, ,40. 5,9
„ ,3 Monaten. 5,5
- ,6 3,5
Bemerkenswert ist ein unbeabsichtigtes Experiment eines Patienten, bei dem
unter Diät und Radium Harnsäuregehalt und Befinden sich gebessert hatten, der
aber plötzlich die Diät aufgab und sich mehrfach starke alkoholische Exzesse
') Kleine Schwankungen kommen beim Gichtiker auch ohne ersichtliche Ursache vor.
*) Leider mußten die der Arbeit beigegebenen Kurven, die ein übersichtliches Bild gaben,
mit Rücksicht auf die Kriegsverhältnisse durch Tabellen ersetzt werden.
s ) Tabelle 1 stammt von einem Patienten, der auf Fletsch keinen Werte legte und auch für
die anderen diätetischen Einschränkungen gutes Verständnis hatte.
4 ) Die Kriegsernäbrung kann zwar nicht ohne weiteres als Gichtdiät gelten, da die purin¬
haltigen Gemüse, z. B. Spinat und Hfllsenfrüchte, eine große Rolle in ihr spielen, aber doch
wäre die Kenntnis ihrer Wirkung, wegen der eine lange Zeit fortgesetzten eingeschränkten Diät
von großem Interesse.
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
350
Ernst Steinitz
erlaubte: nach einem Monat war die Blutharnsäure weit über das zu Beginn der
Beobachtung vorhandene Maß gestiegen und eine Woche nach dieser Feststellung
bekam er einen Gichtanfall. Auf diese Verwarnung hin ließ der Patient wieder vom
Alkohol und die Harnsäure sank innerhalb einiger Wochen auf den vorherigen
Wert (s. zweite Hälfte der Tabelle 7).
Tabelle II.
17. Gicht. Therapie: Diät, Durchspülung.
mg Harnsäure
in 100 g Blut
Purinfrei seit 3 Tagen. 4,8
i , 5 •> 4,0
„ ,14 „ 4,0
, ,9 Wochen, tägl. 1 Flasche Namedy-Sprudel seit 7 Wochen 3.4
„ , 14 „ „ 1 „ , 12 2,7
n l 15 0 9
Tabelle III.
117. Atypische Gicht. Therapie: Alkaligaben.
mg Harnsäure
in 100 g Blut
Purinfrei 5 Tage. 3,1
Tägl. 3 gestr. Teelöffel Alkali seit 2 Wochen 3,2 j Vor jeder
„ 3 „ . , , 3 „ 3,2 i Blutuntersuchung
„ 6 „ * „ , 6 3,3 ) 2 Tage purinfrei.
Deutlicher wurde der Einfluß der Behandlung, wenn zur Diät reichliche
Durchspülung hinzugefügt wurde (Tabelle 2). In der DurchspüJ«mg scheint uns
ein Hauptfaktor der Wirksamkeit von Brunnenkuren zu liegen. Den Einfluß der
in den Gichtwässern enthaltenen Alkalien versuchten wir durch Darreichung von
Alkali ohne viel Flüssigkeit festzustellen, sahen aber davon 1 ) keinerlei Effekt
(Tabelle 3). — In ähnlicher Weise wie die Durchspülung mit Mineralwässern schien
dagegen in einigen begonnenen Versuchen Diuretin den Harnsäuregehalt herab¬
zusetzen. — Nach Bädern, Duschen und Massage sahen wir in einer vereinzelten
Beobachtung leichte Senkung des Harnsäurespiegels.
Die regelmäßige rasche und starke Wirkung des Atophans auf den Blut¬
harnsäurespiegel im Sinne einer Herabsetzung wurde schon in einer früheren Arbeit
an einigen Kurven dargetan. Weitere zahlreiche Versuche bestätigten diese Er¬
fahrungen. Die Wirkung verschwindet rasch nach dem Aussetzen des Mittels
ganz oder fast ganz (Tabelle 4), bei länger fortgesetzten oder öfter wiederholten
Atophankuren nimmt jedoch die Nachwirkung zu; wie weit man es schließlich
bezüglich einer Dauerwirkung bringen kann, bleibt noch festzustellen. — Zur ge¬
naueren Anwendung und Dosierung des Atophans ist folgendes zu bemerken:
durch unvermittelte große Dosen, 8 bis 10 Tabletten täglich, kann man einen
starken Harnsäuresturz hervorrufen; doch hat ein solcher Übelbefinden und un¬
angenehmes Schwächegefühl zur Folge. Diese störenden Erscheinungen lassen
sich durch Beginn mit kleiner Dosis und allmähliche Steigerung vermeiden; der
>) Allerdings nur eine Beobachtung.
Difitized b'
Google
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Über den Einfluß therapeutischer Maßnahmen auf den Harnsäuregehalt des Blutes usw. 351
Harnsäurespiegel geht dann allmählich herunter. Die Gewöhnung durch die voran¬
gehenden kleinen Dosen bedingt eine an der Ausscheidung im Urin am deutlichsten
erkennbare Wirkungsabschwäcliung der nachfolgenden Gaben — ähnlich wie bei
diuretischen Mitteln —, jedoch keine vollständige Aufhebung der Wirkung auf das
Blut. Man erreicht infolgedessen am meisten, im Verhältnis zur verbrauchten
Menge des Mittels, mit intermittierenden Gaben. Auf die steigenden Dosen kann
man meist verzichten, man erreicht mit klein bleibenden auf die Dauer ziemlich
dasselbe (vgl. die beiden Atophanperioden der Tabelle 4). Die kleinen Atophan-
dosen, 3 bis 4 Tabletten täglich, werden monatelang gut vertragen 1 ); zweckmäßiger
sind aber meist die unterbrochenen Gaben. Bei häufiger Wiederholung dieser
nimmt die zunächst einige Tage anhaltende günstige Nachwirkung auf eine Woche
und mehr zu.
Tabelle IV.
17. Gicht. Therapie: Atophan.
mg Harnsäure
in 100 g Blut
Purinfrei seit 3 Tagen. 4,8
w »b ff . 4,0
40 Tabl. Atophan, steigende Dosen in 6 Tagen . 2,2 i
Dasselbe noch einmal , 6 „ 2,2 1 -Atophan
Kein Atophan 2 Monate. Diät?. 5,6
Tägl. 3 Tabletten Atophan 18 Tage. 2,6 \
Dasselbe noch 22 Tage. 2,5 Atophan
Dasselbe noch 45 Tage. 2,3 >
Kein Atophan, keine strenge Diät 14 Tage . . 5,0
. , „ fi 7 t noch 21 Tage 3,0
» . > » „ , 14 „ 4,0
Tabelle V.
73. Schwere Gicht. Therapie: Atophan abwechselnd mit Diät.
mg Harnsäure
in 100 g Blut
Purinfrei seit 10 Tagen. 5,9
3 Monate wöchentlich 4 Atophantage, 3 Diättage, zuletzt 4 Diättage 4,9
3 Wochen dasselbe + Radiumtrinkkur, » 4 „ 4,7
2 Wochen 8 Atophantage, 4 Diättage, , 4 „ 3,3
3 Wochen dasselbe, , 7 , 3,4
2 Wochen dasselbe, , 4 , 3,1
Besonders gut ist diese Wirkung zu erzielen durch Abwechslung zwischen
Atophan- und Diättagen, die zudem viel leichter durchzuführen ist, als dauernde
Diät. Wiederholt haben wir mit gutem Erfolg die Woche in 3 Atophantage,
mit 3 bis 4 Tabletten täglich ohne strenge Diät, und 4 Diättage eingeteilt. Es
gelingt auf diese Weise leicht, den Blutharnsäurespiegel dauernd niedrig zu halten
(Tabelle 5). Bei längerer Behandlungsdauer konnte -die Atophanpause auf eine
Woche und mehr verlängert werden. Statt dessen kann man auch die Atophan-
gaben auf 3 bis 2 Tage zu 2 Tabletten vermindern.
') Bei empfindlichem Magen mit Natron bikarbonikum.
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
352
Ernst Steinitz
Bekanntlich besteht Grund zu der Annahme, daß die Atophanwirkung sich
aus zwei Komponenten zusammensetzt, einer spezifisch der Harnsäureschädigung ent¬
gegenwirkenden und einer allgemein antirheumatisch-antineuralgischen. Es war
deshalb von Interesse, festzustellen, ob Atophanderivate, denen ebenfalls Erfolge
nachgerühmt werden, die gleiche Wirkung auf den Blutharnsäuregehalt besitzen.
Mit einem dieser Derivate, dem Synthalin, machten wir die Erfahrung, daß jede
Wirkung auf die Blutharnsäure ausbleibt.
Zu erwähnen ist, daß die Wirkung der Atophankuren auf das Befinden
zwar zum guten Teil günstig schien, aber trotz regelmäßiger Beeinflussung des
Blutharnsäure-Spiegels dies durchaus nicht immer der Fall war. Anfälle sahen
wir allerdings während solcher Kuren nicht auftreten.
Von besonderem Interesse waren Feststellungen über die Radium Wirkung.
Große Radiumdosen, wie sie im Emanatorium oder bei intensiven Trinkkuren zur
Anwendung kommen, bewirken zunächst eine Erhöhung des Blutharnsäure-Gehalts
(Tabelle 6), eine Senkung scheint regelmäßig nach dem Aussetzen des Mittels nach¬
zukommen. Das stimmt mit den Beobachtungen über die sonstige Wirkung der
Radiumkuren gut überein. Dagegen bewirken milde Radiumtrinkkuren, bei denen
ja die gleichzeitige Durchspülung wesentlich mitwirken kann, von vornherein eine
mäßige, allmähliche Senkung des Blutharnsäurespiegels 1 ) (Tabelle 7).
Tabelle VI.
77. Gicht. Therapie: Radium-Emanatorium -{- -Trinkkur.
mg Harnsäure
in 100 g Blut
Vor einiger Zeit Radiumkur
1 Woche später.
Jfre ue Radiumkur seit 12 Tagen
, r , 18 „
- » * 44 „
Behandlung seit 3 Monaten ausgesetzt
3.3
3.4
4,0
5,
5,6
3,1
.0)
.6 I
Radiumkur
Tabelle VIL
87. Gicht.
Therapie: Radium-Trinkkur.
mg Harnsäure
in 100 g Blut
Seit einiger Zeit purinfrei . .
2 Tage später ....
Radium-Trinkkur seit 9 Tagen
yj rt n rt
4,1
4,5
41 1
* 1 Radiumkur
„ * «48 Tagen, keine Diät mehr, Alkohol-Exzesse 5,3 3 )
Keine strenge Diät, kein Alkohol, 6 Wochen später. 3 6
*) Die Radiumkuren wurden größtenteils im hydrotherapeutischen Institut der Universität
(Geheimrat Brieger) von Herrn Dr. Fürstenberg freundlichst durchgeführt. Für die milden
Trinkkuren benutzten wir zum Teil die uns liebenswürdigerweise zur Verfügung gestellte Bram-
bacher Wettinquelle, von der täglich eine Flasche mit etwa 1000 Mache-Einheiten getrunken
wurde; der Brunnen ging den Patienten frisch abgefüllt jeden zweiten Tag direkt von der
Brunnenverwaltung des Bades Brambach i. V. zu.
*) Gichtanfall 1 Woche nach dieser Blutuntersuchung.
Digitized by
Go igle
Original fro-rn
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Über den Einfluß tberapeutischerMaßnahmen auf den Harnsäuregebalt des Blutes usw 353
Tabelle VUL
Schwere Gicht. Therapie: Radium -f* Atophan.
mg Harnsäure
in 100 g Blut
Seit einiger Zeit purinfrei (im Anfall).
€ Tage später...
Emanatorium + Trinkkur seit 2 Wochen.
« » .
Dasselbe -{- tägl. 3 Atophantabletten 1 Woche . . . . .
Trinkkur -(- tägl. 3 Atophan tabletten 4 Wochen ....
Dasselbe noch 2 Wochen.
Radiumtrinkkur ohne Atophan 1 Woche, keine strenge Diät
Das Radium mobilisiert offenbar in erster Linie die Harnsäure aus den
Depots, bringt sie ins Blut hinein und bewirkt erst sekundär und sehr allmählich
ihre Ausscheidung aus dem Organismus. Es lag daher nahe, das Radium (besonders
die großen Dosen), mit dem die Harnsäure rasch aus dem Blut eliminierenden
Atophan zu kombinieren. Die Wirkung einer solchen Kur auf den Harnsäure¬
spiegel unterscheidet sich, wie leicht verständlich, nicht augenfällig von der des
Atophan allein. Der Heilerfolg dieser kombinierten Behandlung scheint aber ein
besonders guter zu sein. Es ist schwer, auf Grund weniger Beobachtungen dar¬
über zu urteilen; wir hatten aber einen auffallenden Erfolg mit dieser Be¬
handlungsmethode in einem besonders schweren Gichtfall, der alle Mittel einzeln
ohne Erfolg versucht hatte (Tabelle 8). Der Heilerfolg verschwand auch nicht,
als mit dem Aussetzen des Atophans der Blutharnsäuregehalt sogleich wieder in
die Höhe schnellte.
Der Kreis der zu erprobenden Gichtmittel ist noch ein großer und auch be¬
züglich der erwähnten sind infolge des Krieges unsere Untersuchungen unvoll¬
ständig geblieben und gestatten noch keine weitgehenden Schlüsse. Einige
Hinweise sind aber durch sie doch gegeben. Hervorheben möchten wir folgendes:
Sehr empfehlenswert scheint die Verbindung purinfreier Diät mit
reichlicher Durchspülung; die Diät ist möglichst monatelang konsequent
fortzusetzen. — Als Ersatz für langdauernde strenge Diät empfiehlt sich der
oben näher beschriebene Wechsel von Atophan- und Diättagen. — Für
schwere Fälle ist die Kombination von Radium und Atophan zu versuchen.
Literatur.
Fol in und Denis, Journ. of biol. Chem. Bd. 12, 1912. S. 239; Bd. 13, 1912/13, S. 469;
Bd. 14, 1913, S. 95. — Folin und Macallum, Journ. of biol. Chem. Bd. 13, 1912/13, S. 363.
— Höst, Hoppe-Seylers Ztschr. f. physiol. Chem. Bd. 95, 1915, S. 88. — Landmann, Hoppe-
Seylers Ztscb. f. physiol. Chem. Bd. 92, 1914, S. 416. — Steinitz, Hoppe-Seylers Ztschr. f.
physiol. Chem. Bd. 90, 1914, S. 108; Deutsch. Med. Woch. 1914, Nr. 19; Verh. d. Kongr. f.
inn. Med. 1914; Berl. klin. Woch. 1914, Nr. 28.
5.2
5.3
5,7
5.3
3,1
2 ,
2.3
5.4
5 }
.3 )
Atophan
Radium.
Zeitsehr. f. physik. u. diät. Therapie Bd. XXII. Heft 8 ( 9.
23
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
E. Infektionskrankheiten
xx.
Ober zwei eigenartige Fälle von Infektion der
Ösophagus- und Magenschleimhaut.
Aus der Infektionsabteilung des Rudolf-Yirchow-Krankenhauses.
Von
Prof. Ulrich Friedemann.
Während die lymphatischen Apparate des Rachenringes sowie die Payersehen
Plaques und die Lymphfollikel des Ileum und Colon recht häufig der Sitz bakte¬
rieller Erkrankungen verschiedenster Art sind, gehören Infektionsherde in den
übrigen Schleimhäuten des Magendarmkanals, und besonders des Ösophagus und des
Magens zu den größten Seltenheiten. Es seien daher im folgenden zwei Fälle
mitgeteilt, die, soweit mir die Literatur bekannt ist, vereinzelt dastehen.
I. Ein Fall von Diphtherie des Ösophagus.
Der Patient P. H., 60 Jahre alt, Kaufmann, erkrankt am 10. April 1918 mit
Schmerzen im Rachen und Schluckbeschwerden. Die Untersuchung ergibt guten Er¬
nährungszustand, an den inneren Organen normalen Befund. Rachen stark gerötet,
Schleimhaut geschwollen, Uvula bis auf Walnußgroße ödematös durchtränkt. Aus der
linken Nase eitriger Ausfluß.
II. April 1918. Wegen stark erysipolatöser Schwellung der Nase wird P. auf die
Infektionsabteilung verlegt.
13. April 1918. Sehr starkes Erysipel des Gesichts. Augen völlig zugeschwollen.
Rachenbeschwerden gebessert; Rötung derselben zurückgegangen.
16. April 1918. Der Gesichtserysipel blaßt langsam ab. Starke Schuppung. Ery-
sipelatöse Rötung und Schwellung des linken Armes. Beginnende Absziedierung an der
Innenseite des Unterarms.
18. April. Inzision am linken Unterarm. Geringe Eiterentleerung. Tamponade.
Die Schwellung geht zurück.
Die Temperatur bewegte sich von Anfang an zwischen 38° und 39° und sank nach
der Inzision zur Norm herab.
Am 21. April setzt plötzlich bei kleinem Puls Atemnot ein. An der hinteren
Rachenwand ist ein dicker weißer Belag bemerkbar, der nach oben unter der Uvula auf-
liört und dessen untere Begrenzung hinter der Zungenwurzel nicht festgestellt werden
kann. Auf der Uvula finden sich vereinzelte weißliche punktförmige Beläge.
22. April. Allgemeinbefinden schlecht. Zeitweise Atemnot. Der Mund ist ständig mit
Schleim gefüllt, die Atmung röchelnd. Der Puls bleibt unter Kampfer und Coffein befriedigend.
23. April. Der Belag hat sich nach oben auf die Uvula ausgebreitet, sieht schmierig
grünlich aus. Typischer diphtherischer Fötor. Die bakteriolgische Untersuchung des
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Über zwei eigenartige Fälle von Infektion der Ösophagus- und Magenschleimhaut. 355
tags zuvor gemachten Rachenabstriches ergibt Diphteriebazillen. P. erhält DiphtherieBerum
lOOOO S. E. intravenös, 10000 S. E. intramuskulär. Unter zunehmender Verschlechterung
des Allgemeinbefindens erfolgt am Abend der Tod unter Herzschwäche. Die Temperatur
war während dieser ganzen schweren Erkrankung kaum erhöht.
Sektionsbefund: Vom Rachen erstreckt sich abwärts, sowohl in Larynx und Trachea
als auch in den Ösophagus hinein bis über die Mitte desselben «reichend, eine dicke grau¬
gelbe zusammenhängende Membran.
Pulmones überall lufthaltig. Aus den Bronchien entleert sich auf Druck eitriges Sekret.
Cor von normaler Größe, schlaff, Klappenapparat intakt.
Milz etwas vergrößert, fest, Follikel geschwollen, Pulpa nicht abstreifbar.
Leber und Nieren ohne Besonderheiten.
Anatomische Diagnose: Diphtheria laryngis, tracheae et oesophagi. Bronchitis
purulenta. *
Der soeben beschriebene Fall bietet in mehr als einer Hinsicht Interesse.
Es liegen offenbar zwei getrennte Erkrankungen vor, deren erste, das Erysipel, den
Verlauf der Diphtherie nicht unwesentlich beeinflußt hat. Abgesehen von der
Herabsetzung der allgemeinen Widerstandsfähigkeit durch die Streptokokken¬
infektion möchte ich annehmen, daß durch das einleitende, an sich übrigens recht
seltene Erysipel der Rachenschleimhaut eine lokale Dispositiod für die diphtherische
Erkrankung geschaffen wurde, die wohl auch bestimmend für die eigentümliche
Ausbreitung des Prozesses war. Besonders bemerkenswert ist in diesem Falle das
völlige Freibleiben der Tonsillen und die schnelle Ausbreitung auf Trachea und
Ösophagus. Offenbar folgte das Diphtherievirus den Wegen, die das Erysipel schon
vorher gebahnt hatte.
In diagnostischer Hinsicht bot der Fall insofern Schwierigkeiten, als bei der
ungewöhnlichen Lokalisation und dem Aussehen der Beläge zunächst der Verdacht
auf eine Soorerkrankung gelenkt wurde. Die bakteriologische Untersuchung, die
keine Fadenpilze oder Oidien, hingegen reichlich Diphtheriebazillen ergab, sicherte
die Diagnose, die am zweiten Tage allerdings auch aus dem inzwischen veränderten
Aussehen der Membranen und dem typischen Fötor gestellt werden konnte.
Der rasch tödliche Verlauf ist in diesem Fall offenbar auf die vorgängige
sehr schwere Erysipelerkrankung zurückzuführen.
2. Ein Fall von Malleus des Magens.
Der Patient P. S., 34 Jahre alt, infizierte sich vor 4 Wochen beim Arbeiten mit
Botzkulturen, von denen ihm etwas ins Gesicht, wie er angibt, auch in den Mund
spritzte. Etwa 3 Tage später traten Kopfschmerzen, Fieber, sowie ein heftiger Ka-
tharrh der Luftwege auf. Im Anschluß daran sollen sich beiderseitige Pleuritis, sowie zwei
eitrige Geschwüre am Zahnfleisch entwickelt haben. Seit 14 Tagen Geschwür am linken
Unterschenkel, das wenig Heilungstendenz zeigt.
Die Untersuchung am 20. Juli ergibt am Herzen normale Grenzen, reine Töne. Auf
den Lungen liDks unten leichte Dämpfung, sonst keinen Befund. Unterleibsorgane ohne
Besonderheiten.
Am linken Unterschenkel findet sich ein linsengroßes Ulcus mit schlaffen, unter¬
minierten Rändern.
Die Blutuntersuchung ergibt starke positive Agglutinations- und
Komplementbindung8reaktion auf Rotz.
Die Temperatur zeigte während der ganzen ersten, im folgenden beschriebenen
Krankheitsperiode nur vereinzelte geringe Abweichungen von der Norm, die aber 38°
kaum erreichten.
23*
Digitizeü by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
356
Ulrich Friedemann
Nach Rücksprache mit Herrn Geheimrat P. Ehrlich wurde beschlossen, einen Ver¬
such mit dem im Speyerhaus in Frankfurt a. M. hergestellten Kupfersalvarsan zu unter-
nehmen.
Am 28. Juli 1915 erhielt P. 0,05 Kupfersalvarsan intravenös. Zur Technik dieser
Injektion sei bemerkt, daß noch sorgfältiger als beim Neosalvarsan auf eine exakte In¬
jektion geachtet werden muß. Jede paravenöse Injektion führt zu äußerst schmerzhaften
Infiltraten, ja unter Umständen zu einer Nekrose der Vene. Nach der Injektion steigt
die Temperatur auf 39° an, Allgemeinbefinden schlecht. Schlaflosigkeit. Appetitmangel.
Am folgenden Tag ist die Temperatur wieder normal, das Allgemeinbefinden besser.
31. Juli wiederum 0,05 Kupfersalvarsan. Keine Reaktion.
4. August 0,05 Kupfersalvarsan. Temperatur bis 38°. Klagen über innere Unruhe,
Schlaflosigkeit.
10. August Klagen über starke Gelenkschmerzen, die durch Ätophan gebessert
werden. Das Geschwür am linken Unterschenkel ist abgeheilt.
12. August 0,1 Kupfersalvarsan. Temperatursteigerang auf 40,4°. Sehr schlechtes
Allgemeinbefinden. Starke Gelenkschmerzen, die auch in den folgenden Tagen anhalten.
Wegen der starken Reaktionen wird an Stelle des Kupfersalvarsan NeoBalvarsan
angewandt.
19. August 0,3 g Neosalvarsan. Keine Reaktion.
24. August 0,6 g Neosalvarsan. Keine Reaktion.
P. klagt fortgesetzt über Gliederschmerzen und Appetitlosigkeit.
31. August 0,5 g Neosalvarsan. Keine Reaktion.
In der Folgezeit wurden weitere Injektionen nicht gemacht. Die Temperatur blieb
dauernd normal. Die Gelenkschmerzen besserten sich. Dagegen beginnt P. seit dem
15. September über Magendrücken und ein Gefühl von Völle zu klagen.
20. September Allgemeinbefinden gebessert. Temperatur dauernd normal. Der
Appetit bessert sich. Der P. verläßt das Bett. Die Besseraug hielt auch fernerhin an,
so daß wir bereits einen glücklichen Ausgang der Erkrankung erhofften.
Da trat am 7. Oktober 1915 plötzlich nach einer kurzen Spazierfahrt ein heftiger
Schüttelfrost auf. Gleichzeitig klagt P. über Stiche in der Brust und starke Magen-
schmerzen. Erbrechen. Die Temperatur steigt auf 39°. Die Temperatursteigerang, die
einer unregelmäßig remittierenden Charakter aufweist, hält bis zum 16. Oktober 1915 an.
Dann wird die Temperatur wieder normal unter gleichzeitiger Besserung der vorher
starken Kopf-, Glieder- und Magenschmerzen.
Am 18. Oktober wieder 40° unter Verschlechterung des Allgemeinbefindens. Dann
wieder normale Temparatur bis zum 27. Oktober. Nun beginnt ein unregelmäßig remit¬
tierendes Fieber, das jedoch 38,5° nicht überschreitet.
3. November ist eine Verschlechterung des Befindens festzustellen. Es herrscht
völliger Appetitmangel. Die gerötete Zunge ist dick belegt. Bisweilen Erbrechen. Glieder¬
schmerzen. Schlaflosigkeit.
Wegen der zunehmenden Verschlechterung wird am 13. November nochmals 0,05
Kupfersalvarsan intravenös injiziert. Die Temperatur steigt auf 39°, sinkt aber am
17. November auf 37,5° ab.
Am 18. November wiederum 0,05 Kupfersalvarsan. Die Temperatur steigt danach
auf 39,5° und zeigt in der Folge einen unregelmäßig remittierenden Charakter mit Stei¬
gerungen bis 40°. Das Allgemeinbefinden ist schlecht. Die Magenschmerzen sind un¬
erträglich, so daß P. dauernd unter Morphium gehalten werden muß. Nahrungsaufnahme
per 08 überhaupt nicht mehr möglich. Ernährung durch Nährklystiere.
Am 26. November erfolgt der Exitus letalis unter Herzschwäche.
Auszug aus dem Sektionsprotokoll: Kräftiger Mann mit leidlich gut erhaltenem
Fettpolster.
Herz von normaler Größe, keine Klappenveränderungen.
Lungen überall lufthaltig, Pleura nicht verwachsen, Milz und Nieren ohne Be¬
sonderheiten.
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
über zwei eigenartige Fälle von Infektion der Ösophagus- und Magenschleimhaut. 357
Anf der Schleimhaut des Magens finden sich vier im Durchmesser 4 bis 6 ccm
messende Tumoren, mit halbkugelförmiger glatter Oberfläche, weißgelber Farbe, nicht
nlzeriert, welche die nntere Hälfte des Magens bis zum Pylorns ausfüllen. Die histolo¬
gische Untersuchung ergibt: Im Bereich der Tumoren entzündliches Granulationsgewebe.
Der Fall bietet allein wegen der großen Seltenheit des Rotzes beim Men¬
schen Interesse. Sodann gab er Gelegenheit, über die Wirksamkeit des Kupfer-
salvarsans und Neosalvarsans bei dieser Erkrankung Erfahrungen zu sammeln,
nachdem die Veterinärärzte über günstige Resultate berichtet hatten. In dieser
Hinsicht müssen wir die Krankheit in zwei Perioden teilen. In der ersten, die
bis zum 7. Oktober 1915 reicht, scheint mir in der Tat ein günstiger Einfluß auf d<jn
Krankheitsprozeß vorhanden zu sein. Alle Krankheitserscheinungen gingen zurück,
so daß P. bereits das Bett verlassen konnte. Allerdings möchte ich sogleich be¬
merken, daß beim Rotz auch derartige spontane Besserungen Vorkommen.
Daß wir uns über den Zustand der Patienten geirrt und nur das unter der
Asche fortglimmende Feuer nicht bemerkt hatten, bewies die Verschlechterung
nach der Ausfahrt am 7. Oktober 1915. In dieser zweiten Periode war nun von einem
therapeutischen Einfluß des Kupfersalvarsan^ nichts zu bemerken. Im Gegenteil
schlossen sich an die Injektionen sehr deutliche und dauernde Verschlechterungen
des Befindens an. Die Reaktionen, die anfangs nur 24 Stunden dauerten, klangen
nicht mehr ab. Demnach kann von einem therapeutischen Erfolg in diesem Fall
nicht gesprochen werden. Doch sind bei der Trostlosigkeit des Krankheitsbildes
weitere Versuche wohl berechtigt.
Das klinische Bild bot manche charakterische Züge, die Lungenerscheinungen,
die Gliederschmerzen, das Ulkus am Unterschenkel. Dagegen gehörten die über¬
aus heftigen Magenbeschwerden nicht in den Symptomenkomplex der Rotzerkrankung
und boten einer Deutung große Schwierigkeiten.
Die Obduktion gab dafür die Erklärung, indem sie eine ausgedehnte und
offenbar ausschließliche rotzige Erkrankung des Magens aufdeckte. Über deren
Entstehung lassen sich nur Vermutungen äußern. Möglich wäre es immerhin, daß
bei der Infektion direkt Rotzbazillen in den Magen gelangten. Interessant ist
jedenfalls, daß der übrige Organismus, auch die Lungen, völlig frei von anatomischen
Veränderungen war. Es wäre daran zu denken, daß das Virus im übrigen Körper
durch das Kupfersalvarsan vernichtet wurde und im Magen aus unbekannten
Gründen zu einer so mächtigen Entwicklung gelangte.
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSETY OF MICHIGAN
358
Hoefer
XXL
Serumtherapie bei Fleckfieber.
Von
Dr. F. A. Hoefer,
Assistent am Medizin. Polikl. Instit. der Univ. Berlin,
z. Z. Kaiser). Kreisarzt in Plock (Polen).
Da die medikamentöse Therapie bei Fleckfieber, besonders in den schweren
Fällen, versagt, und auch die Chemotherapie gegen Fleckfieber noch keine Erfolge
erzielt hat, so bleibt für den Arzt, *der die Entscheidung über Leben und Tod
seines Patienten nicht entsagend ganz in die Hände des Schicksals legen will,
nur übrig, den Körper im Kampf gegen die Krankheitserreger mit den Mitteln zu
unterstützen, die ihm die Serumtherapie an die Hand gibt.
Die größte Bedeutung unter den spezifischen Behandlungsmethoden, die wir
bei Infektionskrankheiten anwenden, kommt bisher der Einverleibung spezifischer
Antitoxine zu.
Antitoxine oder überhaupt Immunkörper gegen Fleckfieber können aber bis¬
her nur aus dem Serum von Fleckfieber-Rekonvaleszenten, als durch die Krank¬
heit aktiv immunisierter Individuen, gewonnen werden, da es noch nicht gelungen
ist, den Erreger, geschweige denn seine Toxine darzustellen. Es kommen also
vorläufig nur therapeutische Versuche mit Rekonvaleszentenblut resp. -seram in Be¬
tracht, und solche habe ich mit wechselnden Versuchsbedingungen seit 3 Jahren an
dem großen Krankenmaterial des Fleckfieberhospitales in Plock (Polen) durchgeführt.
Es stellte sich bei den Versuchen, die hier unter ungünstigen Verhältnissen
nur langsam gefördert werden konnten, bald heraus, daß leichte oder mittelschwere
Fälle für solche Versuche ungeeignet sind, da hier auch ohne therapeutische Be¬
einflussung unerwartete Änderungen im Krankheitsablauf eintreten können.
Bei mittelschweren Fällen wurde deshalb zunächst nur noch nachgeprüft, ob
durch Serumbehandlung eine Verkürzung der Krankheitsdauer zu erzielen wäre,
und zwar nur bei Fällen, die aus dem Isolierhaus eingeliefert wurden, bei welchen
also der Erkrankungstag genau bekannt war. Es ergibt sich zwar eine Ver¬
kürzung der Krankheitsdauer um einige Tage gegenüber unbehandelten Fällen,
doch ist die Abschätzung dessen, was bei mittelschweren Fällen auf das Konto
der Serumtherapie kommt und was nicht, zu unsicher, und ferner kommt bei
leichten Fällen auch spontan ein verkürzter Ablauf vor, so daß nur noch die aller-
schwersten Fälle zur Behandlung herangezogen wurden, bei denen ein tödlicher
Ausgang mit Sicherheit vorauszusagen war.
Diese Fälle widerstanden zunächst jeder Behandlung, bis ganz große Serum-
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Serumtherapie bei Fleckfieber.
359
dosen (1000 ccm und mehr, 250 bis 300 ccm pro die) subkutan oder (geringere
Dosen) intravenös gegeben wurden.
Denn es scheint, daß die Immunstoffe im Bekonvaleszentenserum, das zur
passiven Immunisierung der Kranken verwandt werden sollte, nur in geringer
Konzentration vorhanden sind. Und da andererseits bei den schwersten Fällen
offenbar die aktive Immunisierung eine* ungenügende ist oder ganz versagt, und
da die Konzentration der Schutzstoffe im Körper des Patienten einen bestimmten
Schwellenwert erreichen muß, um wirken zu können, so mußten die Dosen vergrößert
werden, bis die Wirkung erreichbar war. Die Größe der Dosen wurde auch dadurch
mitbedingt, daß Serum von verschiedenen Rekonvaleszenten gemischt gegeben werden
mußte, wobei möglicherweise auch weniger wirksame Sera beigemischt wurden,
da eine Methode zur Prüfung der Stärke der Sera fehlt.
Ich berichte im folgenden nur über einen Teil der Versuche mit einer be¬
stimmten Versuchsanordnung, nämlich über Versuche mit Serum, das am 6. Tage
nach der Entfieberung entnommen und sofort therapeutisch verwendet wurde;
fünf Tage nach der Entfieberung ist das Blut sicher nicht mehr infektiös.
Die Versuchsanordnung war folgende: Das aus derCubitalvene steril entnommene
Blut wurde in einigen wenigen Kubikzentimetern einer sterilen konzentrierten Natr.
citricum-Lösung aufgefangen, durch steriles Zentrifugieren von den Erytrozyten und
etwaigen Koagulis befreit und mit 0,1 °/ 0 (bis 0,2%) Karbolsäure versetzt. Vor derVer-
wendung wurde eine bakteriologische Sterilitätsprüfung vorgenommen. Das Serum
— d. h. eigentlich Citratplasma — wurde immer möglichst frisch verwendet, da Ver¬
suche über die Haltbarkeit des Serums noch nicht zu Ende geführt wurden. Die
Injektion erfolgte subkutan unter die Bauchhaut usw. oder intravenös.
Behandelt wurden außer mittelschweren Fällen nur solche, die als verloren
betrachtet werden konnten. Ich gebe hiervon nachstehend nur einige Beispiele 1 ).
Fall 1. Noech Pattermann, 20 J. alt. Am Tage vor Einlieferang mit Schüttel¬
frost im Isolierhanse erkrankt. Am 3. Krankheitstage Exanthem. Geringer Hilztumor.
Puls klein, frequent. Zeitweilig etwas unbesinnlich.
Am 4. Krankheitstage: 60 ccm Serum subkutan.
>t 5 . „ 57 „ „ „
tf 6* » 92 ,, ,, ,,
>} 7. ,, 80 ,, ,, ,,
Entfieberung beginnt am 6. Krankheitstage und ist am 9. vollendet. Weil-Felix 200 +.
Fall 2. Strawczynski, 32 J. alt, am 6. Krankheitstage aufgenommen. Reicht. Exanthem.
Puls weich, frequent, irregulär. Herztöne leise. Kleiner Milztumor. Klagt über starke Kopf¬
schmerzen. Vom 6.—8. Tage etwas unklar. Entfieberung am 9. Tage. Weil-Felix 3200 +.
Behandelt am 7. Krankheitstage mit 100 ccm Serum subkutan.
>t »» 8- >» ji 95 ,, ,, ,,
n >> 9. ,, „ 96 ,, ,, ,,
Fall 3. Lammarsz, 42 J. alt. Aus Isolierhans eingeliefert. Puls klein, weich,
frequent, stark irregulär. Am 5. Krankheitstage beginnt sie zu delirieren, wird be¬
nommen, schluckt nicht. Vom 9. Tage ab wird Sensorium allmählich freier. Vorzeitige
Entfieberung (am 12. Tage).
Injektionen am 5. Tage: 85 ccm Serum subkutan.
>» » 6" i» 80 n >> n
_._ » >» 7. ,, 100 ,, ,,
*) Die Temperaturkurven mußten wegen Raummangels leider Wegfällen.
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
360
Hoefer
Bei den beschriebenen Fällen handelt es sich nm mittelschwere Fälle; alle
fühlten sich, ebenso wie auch die leichten Fälle, nach der Injektion subjektiv
erheblich besser, die Kopfschmerzen verringerten sich, Puls besserte sich.
Die folgenden vier Fälle stellen schwerste Fälle dar.
Fall 4. Benzon, 45 J. alt. Am 8. Krankheitstage aofgenommen, sehr starkes,
petechiales Exanthem, Puls fadenförmig, Herzdämpfung verbreitert, starke Cyanose des
Gesichtes und der Extremitäten, Koma, Unterkiefer hängt herab, Incontinentia nrinae
et alvi, an einzelnen Tagen auch Retentio nrinae. Hypostatische Pneumonie.
Am 9. Tage 60 ccm Serum. subkutan injiziert.
„ 10. ,, 67 ,, „ ,, ,,
>i ff* >> 67 ,, ,, ,, ,,
>> 12. ,, 50 ,, „ ,, ,,
Am 13. Krärikheitstage wird das Sensorium freier, reagiert anf Anruf.
Am 14. Tage weitere Besserung, er antwortet auf Fragen nach seinen Lebens¬
verhältnissen, fühlt sich subjektiv gut, Puls ist voller und kräftiger geworden.
Leider mnß wegen Serummangels die Behandlung unterbrochen werden.
Am 15. Tage ist er wieder völlig benommen, Puls sehr schlecht, durch Herzmittel
nicht mehr zu beeinflussen. Die am 16. und 17. Tage noch erfolgten subkutanen Serum¬
injektionen von 68 bezw. 84 ccm Serum bleiben erfolglos. Am 17. Tage Exitus.
Fall 5. Ester Bornstein, 21 J.alt. Aufnahmestatus am 8. Tage entspricht dem von Fall 4.
Nach den subkutanen SerUminjektionen von 70 ccm am 8. Tage,
v i> » » >> ,, „ 8. „
n » >> >i >> 60 „ „ 8 . „
die eine vorzeitige Entfieberung zur Folge haben, tritt eine vorübergehende Aufhellung
des Sensoriums ein, reagiert schwach auf Anrufe, schluckt bisweilen.
Wegen Serummangel kann auch hier die Behandlung nicht fortgesetzt werden.
Am 15. Tage Exitus letalis.
Fall 6 (Tab. 6). Eva Szumklarz, 23jähr. Lehrerin. Am 4. Krankheitstage abends
anfgenommen. Status: Beginnendes Exanthem, Milztumor, Puls irregulär, klein, weich,
klagt über starke Kopfschmerzen nnd schlechtes Allgemeinbefinden.
Am 5. Tage: Reichliches Exanthem, beginnende Benommenheit, starke Hyperästhesie
der Haut, Puls verschlechtert.
6 . Tag: Völlige Benommenheit, passive Rückenlage, Incontinentia nrinae et alvi.
Puls fadenförmig, zunehmende Cyanose des Gesichtes und der Extremitäten, die völlig
kalt sind. Eingeflößte Milch wird nicht mehr geschluckt, Sondenernährung, Nährklysmen,
subkutane NaCl-Infusionen.
Der Zustand bleibt mit geringen Schwankungen der gleiche bis zum 11. Tage.
Dann wird das Sensorium freier, sie reagiert auf Anruf, schluckt selbständig. Starke
Unruhe und Delirien treten anf, die allmählich verschwinden.
Entfieberung am 15. Tage. Sie hatte erhalten:
am 5.
Tage 200 ccm Serum
subkutan
» 6 .
ty
200 „ „
fy
„ 7.
ff
200 n ,,
ff
,, 8 .
ff
200 ,, yf
ff
„ 9.
ff
200 ,, ,,
„ 10.
ff
200 „
yy
„ 11.
jf
200 „
fy
also insgesamt 1400 ccm Rekonvaleszentenserum.
Der Fall wurde wiederholt den Plocker polnischen Ärzten demonstriert, die
durchaus nicht davon zu überzeugen waren, daß der Fall gerettet werden könne.
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Serumtherapie bei Fleckfieber.
361
Fall 7. Czaika, 27 J. alt. Am 6. Krankheitstage ans dem Gefängnis eingeliefert.
Geringes Exanthem, Puls klein, irregulär. Geringer Milztumor. Starke Unruhe, diffuse
Bronchitis.
7. Tag: Deliriert, Puls verschlechtert.
9. Tag: Puls fadenförmig, starke Cyanose des Gesichtes und der Hände. Be¬
nommenheit, schluckt nicht mehr. Incontinentia urinae et alvi. Hypostatische Verände¬
rungen über beiden Unterlappen.
12 . Tag: Sensorium freier, freiwillige Urinabgabe, Puls voller und kräftiger, noch
irregulär.
13. Tag: Antwortet klarer, fühlt sich subjektiv wohler.
18. Tag: Entfiebert. Lunge o. B. Er hatte erhalten: .
am 9. Tage 300 ccm Serum subkutan,
„ 10.
„ 300
77
77
77
und 60
77
77
intravenös,
„ 11.
„ 300
97
77
subkutan,
tt 13.
„ 250
77
77
77
also insgesamt 1210 ccm Serum.
Es handelt sich also in den beiden letzten hier geschilderten Fällen, die
wohl ohne die Serumbehandlung unbedingt verloren gewesen wären, um eine ge¬
lungene passive Immunisierung gegen Fleckfieber mit Rekonvaleszentenserum,
oder richtiger um eine Unterstützung der mangelhaften aktiven Immunisierung
durch die passive.
Auch bei den mitgeteilten zwei Todesfällen ergab sich, obwohl wegen
Serummangels nur kleine Dosen und nicht laufend gegeben werden konnten, ein
unzweifelhafter Erfolg der Seruminjektion, der freilich in diesen Fällen die schon
gesetzten Schädigungen nicht mehr aufheben und die Komplikationen nicht über¬
winden konnte.
Ob das wirksame Prinzip des Serums als antitoxisch oder als antiinfektiös
zu bezeichnen ist, läßt sich freilich zurzeit noch nicht entscheiden. Man muß aber
wohl annehmen, daß die Schwere des Krankheitsbildes durch eine reichliche
Toxinproduktion der Erreger bewirkt wird, welcher der Körper keine ent¬
sprechende Antitoxinproduktion entgegenstellen kann.
Auf jeden Fall ist eine möglichst frühzeitige Einverleibung des wirksamen
Immunkörpers, und zwar im Überschuß, erforderlich, ob es sich nun um eine
Trennung der verankerten resp. um eine Bindung der frei im Blute zirkulierenden
Toxine handelt oder um eine Einwirkung auf den Erreger selbst.
Und solange es nicht gelungen ist, auf dem Umwege über den Tierversuch
ein hochwertiges Antiserum gegen Fleckfieber zu gewinnen, sollte in jedem
schweren Falle der an sich völlig unschädliche Versuch mit Rekonvaleszenten -
serum gemacht werden.
Digitized b'
Google
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHiGAN
362
Emst Mosler
XXII.
Die Beziehungen des Wolhynischen Fiebers zu anderen
Krankheiten.
Aus einem Kriegslazarett in Frankreich.
Von
Dr. Ernst Mosler,
z. Z. Landsturmpfl. Arzt,
Assistenzarzt an der Kgl. Universitätspoliklinik zu Berlin.
(Dir. Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Galdscheider.)
Es ist mir, wie ich schon kurz in meiner letzten Arbeit 1 ) angedeutet habe,
aufgef allen, daß bei dem Wolhynischen Fieber diejenigen Organe am meisten in
Mitleidenschaft gezogen werden, die schon früher einmal bei dem betreffenden
Patienten in irgend einer Art erkrankt gewesen sind.
Diese Beobachtung ist außerordentlich wichtig, weil man diese Fälle vielleicht
nicht mehr als Wolhynisches Fieber deshalb erkennt, da durch das neue Aufflackern
eines alten Leidens das an sich schon variationsfähige Bild des Wolhynischen
Fiebers noch weitere Abänderungen erleidet.
Auch ist für später anzufertigende Gutachten die Feststellung wertvoll, ob
noch vorhandene Störungen die direkten Ursachen des Wolhynischen Fiebers sind,
oder ob das Wolhynische Fieber nur das auslösende Moment gewesen ist, ein schon
vorhandenes, aber schlummerndes Leiden wieder erweckt zu haben.
Ich möchte deshalb meine über dieses Thema gemachten Beobachtungen
kurz skizzieren.
Ich habe eine Reihe an Wolhynischem Fieber erkrankte Mannschaften lange
Zeit beobachtet, die früher einmal eine Verletzung der Extremitäten gehabt haben.
Gleichgültig, ob es sich um Narben alter Weichteilwunden, um Knochenschüsse
oder unkomplizierte Frakturen handelte, übereinstimmend gaben diese Kranken an,
daß mit Einsetzen des Wolhynischen Fiebers jene alten Wunden oder Bruchstellen
besonders heftig von der Krankheit ergriffen wurden.
Objektiv läßt sich das Vorhandensein der Schmerzen leicht dadurch feststellen,
daß diese Partieen durch hyperalgetische Zonen von größerer Ausdehnung umgeben
sind, daß ferner an diesen Stellen eine besonders starke Druck- und Klopfempfind¬
lichkeit vorhanden ist, die die Druck- und Klopfempfindlichkeit der korrespondierenden
Körperstellen der andern Körperhälfte um ein mehrfaches übertrifft.
Einzelne Beispiele dienen zur Erläuterung:
») B. kl. W. 1917, Nr. 42.
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die Beziehungen des Wolhyuiachen Fiebers zu anderen Krankheiten.
303
1 . Str. Vor 9 Monaten Bruch des rechten Oberarms. Gut ausgeheilt. Keine Be¬
schwerden mehr und keine Bewegungsbeeinträchtigung mehr. Mit Ausbruch des wol-
hynischen Fiebers setzten im rechten Oberarm und in der Schulter außerordentlich
heftige Schmerzen ein, die ebenso stark wie die Schienbeinschmerzen waren. Hyper¬
algetische Zonen fanden sich hier erstens in den von mir in meiner vorigen Arbeit
als typisch angegebenen Stellen an Stirn und Unterschenkeln. Außerdem war aber noch
eine ausgedehnte hyperalgetische Zone festzustellen, die von der rechten Schulter aus¬
ging und einen großen Teil der zu den Segmenten C. 4, C. 5, D. 1 und D 2 gehörenden
Hautpartien betraf.
2 . Schu. Vor 18 Monaten Gelenkschuß durch linken Ellbogen. Vollkommen aus¬
geheilt, keinerlei Beschwerden mehr gehabt. Seitdem er am wolbynischen Fieber erkrankt
ist, heftigste Schmerzen im Ellbogengelenk, die zeitweilig alle anderen Beschwerden
fibertrafen.
Außer den typisch hyperalgetischen Zonen an Stirn und Unterschenkeln war hier
noch eine solche Zone festzuStellen, die auf der Rückseite und Außenseite des Armes
von der Mitte des Oberarmes ab bis zum unteren Ende des oberen Drittels des Vorder¬
armes verlief. Die mediale Begrenzung war die Linie, die auf den bekannten Schemen
als Begrenzungslinie zwischen D. 1 einerseits und G. 5 bis C 7. andererseits angegeben ist. Auf
der Vorderseite reichte diese längliche Partie in derselben Längenausdehnung nicht ganz
bis zur Mittellinie.
3. N. Vor 18 Jahren Bruch des linken Oberarms im Ellbogengelenk. Vollkommen
ausgeheilt damals. Auch niemals Beschwerden bei der Arbeit (Schlosser). Während des
wolbynischen Fiebers außerordentlich heftige Schmerzen in dem Gelenk. Nachdem alle
anderen Beschwerden bereits verschwunden, blieben Schmerzen in dem Gelenk zurück.
Außer den hyperalgetischen Zonen an den Unterschenkeln und an der Stirn ist hier
noch eine solche Zone am linken Arm festzustellen. Sie fängt am unteren Drittel des
Oberarms an und hört bereits am unteren Ende des oberen Drittels des Vorderarms auf.
Sie verläuft fast zirkulär um den Arm und läßt nur auf der Beugeseite in der Mitte
eine längliche Partie frei.
4. Rö. Vor 3 Jahren Verstauchung des linken Fußes, die keinerlei Beschwerden
zurfickließen. Während des wolbynischen Fiebers dort sehr heftige Schmerzen. An
manchen Tagen waren die Schmerzen nur auf den linken Fuß beschränkt. Die typische
hyperalgetische Zone des linken Unterschenkels wird nach unten, zu breiter; dehnt sich
fast über den ganzen Fußrücken aus und geht von hier aus noch mit einem schmalen
zirkulären Streifen oberhalb des Hackens um den Fuß herum.
5. Wa. Vor 6 Monaten leichte Verstauchung des linken Kniegelenks. Doch
dauernd Dienst getan. Seit Ausbruch des wolbynischen Fiebers nahmen die Schmerzen
in dem Gelenk außerordentlich zu. Die typische hyperalgetische Zone am linken Unter¬
schenkel geht hier nach oben über das Kniegelenk hinaus und umfaßt dasselbe fast
zirkulär.
Wenn ich also in meiner früheren Arbeit gesagt habe, daß hyperalgetische
Zonen beim Wölhynischen Fieber an den oberen Extremitäten nicht Vorkommen,
will ich diese Behauptung heute doch einschränken.
Es scheinen aber derartige hyperalgetische Zonen an den Extremitäten nur
vorzukommen, wenn sie bereits der Sitz früherer Verletzungen gewesen sind.
Bei einigen anderen Patienten (4) ließ mich eine Rötung und Schwellung der
Extremitätengelenke anfangs an akuten Gelenkrheumatismus denken, bis die Kurve
und der weitere Verlauf der Erkrankung deutlich auf Wolhynisches Fieber hin¬
wiesen.
Da nün, wie ich bereits in meiner vorigen Arbeit betont habe, Gelenk¬
schwellungen und Rötungen sicherlich nicht in das Krankheitsbild des Wolhyni-
schen Fiebers gehören, so gelang es mir auch in allen diesen Fällen mit Gelenk-
Digitized by
Go igle
UNIVERSETY OF MICHIGAN
364
Ernst Mosler
Schwellungen und Rötungen anamnestisch nachzuweisen, daß diese Patienten in
vergangenen Jahren einmal an akutem Gelenkrheumatismus gelitten hatten.
Die hyperalgetischen Zonen bei derartigen Kranken umfassen hier in breiter
Ausdehnung die betreffenden «Gelenke, vornehmlich der unteren Extremitäten, und
gehen meistens zirkulär um die Gelenke herum.
Die Prüfungen sind auch liier stets noch angestellt worden, nachdem Schwel¬
lung und Rötung der Gelenke vorübergegangen waren. Trotzdem blieben die
hyperalgetischen Zonen, die die Gelenke einrahmten, noch lange Zeit bestehen.
Hier an dieser Stelle möchte ich auch einen Kranken erwähnen, der seit
Jahren an Plattfußbeschwerden litt. Auch bei diesem waren während seiner Er¬
krankung an Wolhynischem Fieber die Fußgelenke leicht gerötet und geschwollen
und außerordentlich stark schmerzhaft.
Diese Schmerzhaftigkeit dauerte viele Wochen an, zn einer Zeit also, wo der
Kranke bettlägerig war und keine Belastung der schwachen Gelenke erfolgte.
An vielen dieser einmal erkrankten Körperstellen befinden sich mehr oder
minder ausgedehnte, ziemlich scharf abgegrenzte hyperalgetische Zonen, die auch
bei häufiger Überprüfung annähernd immer denselben Umfang einnehmen.
Seit meiner letzten Veröffentlichung habe ich auf meiner Nierenabteilung
8 Nephritiker lange Zeit beobachtet, bei denen ich außerdem einwandfrei ein
Wolhynisches Fieber feststellen konnte. In allen diesen Fällen hat es sich aber
meiner Auffassung nach, wie ich das auch bereits in meiner vorigen Arbeit betont
hatte, lediglich um eine zufällige Kombination gehandelt. In einem Falle ließ
sich sogar mit Sicherheit nachweisen, daß der Betreffende das Wolhynische Fieber
sich erst einige Wochen nach Beginn der Nierenentzündung zugezogen hatte. Der
stets läusefreie Kranke wurde aus äußeren Gründen wegen Verlegung der Station
eines Tages umgebettet und zufällig in ein Bett gelegt, in dem vorher ein Wol-
hyniker gelegen hatte. Er zog sich dort gleich am ersten Tage einen Biß durch
eine Laus zu. Der erste Fieberanfall kam nach 18 Tagen.
Besonders schlimm sind diejenigen Wolhyniker daran, die früher einmal einen
funktionellen oder organischen Krankheitsbefund des Nervensystems aufzuweisen
hatten.
Leute, die schon früher an Kopfschmerzen oder Migräne litten, leiden unter
unsagbaren Kopf- und Augenschmerzen, die selbst an den fieberfreien Tagen nicht
verschwinden und bei denen unsere gebräuchlichen und sonst gut wirksamen
Antipyretica uns vollkommen im Stiche zu lassen scheinen.
Die hyperalgetische Stirnzone ist bei diesen Patienten außerordentlich aus¬
gedehnt und umfaßt vielfach den Bereich des ganzen ersten Trigemimusastes.
In ähnlich hartnäckiger Weise trat eine Ischias bei einem Patienten auf, der
jahrelang von seinem Ischiasleiden verschont geblieben war. Die Schmerzen in
dem früher erkrankten Bein waren das Anfangssymptom des Wolhynischen Fiebers.
Erst 6 bis 8 Tage später, wie ich hier selbst unter meinen Augen beobachten
konnte, kamen die anderen Beschwerden dazu. (Muskelschmerzen in dem anderen
Bein, Druckempfindlichkeit des anderen Ischiasnerven, Kopfschmerzen, Schienbein¬
schmerzen.)
Das Wolhynische Fieber nahm einen milden Verlauf, mit drei Paroxysmen
in fünftägigen Intervallen schien die Krankheit erledigt. Das rudimentäre Fieber-
^ Digitizsa by
Gck igle
Original f[om
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die Beziehungen des Wolbynischen Fiebers zu anderen Krankheiten.
365
Stadium war kurz. Die Schmerzen in dem Bein, das früher schon einmal von
einer Ischias befallen war, blieben jedoch in unverminderter Stärke fortbestehen,
so daß man nunmehr lediglich von einer einseitigen Ischias mit einem hochgradigen
Lasegueschen Symptom und mit stark gesteigertem Achillessehnen-Reflex sprechen
konnte. Die hyperalgetische Zone an diesem Bein, war von Anfang an sehr aus¬
gedehnt, ging vom oberen Patellarrand bis zur Knöchelgegend und umfassste noch
einen Teil der Wade, während an dem anderen Bein nur das mittlere Drittel des
Schienbeins hyperalgetisch war.
Ich habe schon in meiner vorigen Arbeit erwähnt, daß ich häufig Gelegenheit
hatte, bei Leibschmerzen das ganze Colon, besonders das Colon sigmoideum stark
spastisch kontrahiert zu finden. Es waren dies alles Kranke, die während des
Wolhynisehen Fiebers, zum Teil auch schon vorher, an Dickdarmkatarrh erkra,nkt
waren. Bekanntlich ist ja der Dickdarm der Darmabschnitt, der von nervösen
Einflüssen besonders stark abhängig ist.
Ich möchte fast vermuten, daß die bei dem Wolhynischen Fieber von mir
häufig beobachteten wiederkehrenden Dickdarmaffektionen vorwiegend auf nervöser
Basis beruhen. Denn selbst bei vorsichtigster Diät und dauernder Bettruhe sah
ich wiederholt. Colonkoliken auftreten mit Abgängen von Blut und Schleim. Fieber¬
bewegung bestand dabei gewöhnlich nicht, auch klangen nach Darreichung von
geringen narkotischen Dosen die Anfälle schnell ab.
Einen ähnlichen Eindruck erweckten in mir vier Fälle von häufigem Urindrang,
zum Teil mit Blasentenesmen, bei denen es mitunter sogar zu Bettnässen kam, wo
niemals, auch nicht von urologischer Seite (Stabsarzt Dr. Wossidlo), eine Organ¬
erkrankung des Harnapparates festgestellt werden konnte.
In wie weit der Sympathicus bei derartigen Eingeweideaffektionen eine Rolle
spielt, ist ja noch nicht hinreichend geklärt. Mit Sicherheit läßt sich nur behaupten,
daß hier vorwiegend nervöse Einflüsse in Betracht kommen. Und so sprechen
diese Tatsachen ebenso wie die früheren Darlegungen von Goldscheider 1 ),
Richter 2 ) und mir auch dafür, daß bei dem Wolhynischen Fieber vorwiegend
der nervöse Apparat des Körpers in Mitleidenschaft gezogen wird.
•) Goldscheider; Deutsch, med. W. 1917, Nr. 21.
») Richter, B. kl. W. 1917, Nr. 22.
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Alois Strasser
301»
XXIII.
Malariarezidiv und Heilung.
Aus dem k. und k. Reservespital Nr. 1 in Wien.
(Kommandant: Stabsarzt Dr. G. Hay.)
Von
Professor Dr. Alois Strasser,
Chefarzt der internen Abteilung.
Die Therapie der Malaria erschien bis zur Überflutung unserer Spitäler mit
allen Formen dieser Erkrankung, besonders durch die Nocht-Kochsche Vor¬
schrift in sicheren Bahnen zu gehen. Nun machten wir die Erfahrung, daß un¬
zählige Varietäten erscheinen, bei denen die stets bewährte Kur versagt und die
Frage der gründlichen Heilung steht wieder im Vordergründe.
Ich sah eine große Anzahl von Fällen, die noch teilweise unter meiner
Aufsicht der typischen Nocht-Kochschen Kur unterworfen waren und in unregel¬
mäßigen Intervallen Anfälle hatten, meist mit positivem Plasmodienbefunde im
Blute. Meist habe ich mir derart geholfen, daß ich die Chininkur vollständig
aussetzte und ruhig wartete, bis die Anfälle irgendeinen greifbaren Typus an-
nahrnen, dann gab ich Chinin nach der alten Methode durch einige Tage in
großen Dosen (2,5 g durch 5 Tage, dann 10 Tage je 1,0 g) und, hatte in den aller¬
meisten Fällen vollen Erfolg. Diese konservative Methode ist fast immer durch¬
führbar, wenn nicht hochgradige Kachexie zwingt, möglichst jeden „unnötigen“
Anfall zu vermeiden. Aber auch bei diesen bleibt fast nichts anderes übrig, als
den Typus abzuwarten, und nur in sicheren Fällen von Tertiana gelang es einige-
male, genaju, wie Biedl beschrieb, durch Neosalvasarn die Leute wenigstens für
einige Zeit anfallsfrei zu machen; die bei Wiederkehr der Anfälle eingeleitete
starke Chininkur hatte dann auch guten Erfolg.
Das Wiederauftreten der Anfälle und der Plasmodien im Blute nach jeder
Art von Therapie spricht für die Latenz der Infektion, für einen Zustand, der
schon oft Gegenstand der Diskussion war und neuerlich der Forschung sehr zu¬
gänglich wurde.
Die Anfälle kommen bei latenter Infektion von selbst wieder, d. h. ohne
daß wir eine andere Ursache wüßten, als die Wiederentwicklung aktiver Gene¬
rationen resp. eine gehörige Vermehrung der Plasmodien. Daß aber die Latenz
oft sehr lange Zeit vorhanden sein kann, ohne daß Anfälle auftreten, ist bekannt
und es überrascht kaum, wenn man den Bericht von einem 42 Jahre nach der
Infektion aufgetretenen „Rezidiv“ einer Malariainfektion liest (von der Hayden)?
Die allgemeine Ansicht geht dahin, daß Generationen von Plasmodien in paren-
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Malariarezidiv und Heilung.
307
chymatösen Organen (vorwiegend in der Milz) und im Knochenmark wechseln
können und die Akutisierung des Prozesses, d. i. das Rezidiv durch das Eintreten
der Plasmodien in die Blutbahn entsteht.
Unter welchen Umständen dies stattfindet, wird verschieden angesehen. Die
Ansicht, daß die hohe Außentemperatur mit einer Anpassung der Plasmodien an
die Flugzeit der Anopheles (Selektion) das auslösende Moment darstellt und die
Parthenogenese durch die Hitze, die Amphimixis im Magen der Mücke unter
niedrigen Temperaturen stattfindet, und daß in kühl gewordenen Extremitäten des
menschlichen Körpers auch die Befruchtung von Makrogameten stattfinden könne
(F. Lenz), scheint mir wenig begründet und schwer zugänglich, auch durch die
Beobachtung der Rezidiven zu jeder Jahreszeit nicht gestützt. Andererseits be¬
friedigen auch die Ansichten nicht, daß die Widerstandsfähigkeit des Körpers
durch irgendwelche Zufälle (z. B. Blutverlust) so herabgesetzt wird, daß die
Plasmodien sich im Blute „wieder breit machen“ konnten (v. Th all er) oder daß
Luftdruckschwankungen die Ursache der Rezidiven wären (L. Appel).
Ziemlich einheitlich wird von den meisten neuen Beobachtern neuerdings
bestätigt, daß starke Muskelarbeit, Erhitzungen, Abkühlungen, Erkältung (?), See¬
krankheit, Traumen besonders der Milzgegend, Diätfehler, Alkoholmißbrauch und
Ortswechsel Rezidiven der Malaria hervorrufen, und daß die „Transposition des
Blutes der inneren Organe in die Peripherie“ den Weg von der Latenz zum
Rezidiv bezeichnet (Biedl, Garin, Silatschek und Falta, Reinhard, Külz,
v. Thaller).
Hierzu kommen noch die neuen Beobachtungen von Provokation von Malaria¬
anfällen durch Röntgenbestrahlung und Höhensonnenbestrahlung der Milz (Biedl),
durch Bestrahlung mit ultravioletten Strahlen (Reinhard), nach Tiefenbestrahlung
der Milz (F. Deutsch), nach Impfung mit Typhus-, Blattern-, Streptokokken-
imd Gonokokkenvakzine (v. Thaller und Sieber), nach Injektion von Pferde¬
serum (Brauer, Schmidt, Saxl, v. Thaller). Auch bei diesen tritt vielfach
die Ansicht von der Transposition des Blutes im obigen Sinne hervor.
Strasser und Wolf haben vor längerer Zeit versucht, diese Erscheinung einer
einheitlichen Auffassung zugänglich zu machen. Sie gingen von der Annahme aus,
daß die Milz fast den alleinigen Herd der latenten Infektion darstellt, was wohl als
unbestritten richtig angesehen werden kann. Sie bezeichneten ferner fast alle das
Rezidiv bewirkenden Schädlichkeiten als solche, die eine mehr oder minder
starke Kontraktion der Milz verursachend, diese zur Auspressung ihres Inhaltes
in die Blutbahn veranlassen. Tatsächlich ist die Milzkontraktion durch Temperatur¬
einflüsse, Traumen usw. sicher nachgewiesen (Strasser und Wolf), und die diäte¬
tischen Exzesse und besonders die Seekrankheit mit dem Erbrechen stellen einen
so gewaltigen Reiz des Vagus dar, daß damit eine Milzkontraktion stattfinden
muß. Ortswechsel, besonders der Aufenthalt in hoher Luft, ist doch auch sicher
durch Abströmen des Blutes von den parenchymatösen Organen zur Peripherie ge¬
kennzeichnet und starke Muskelarbeit entleert auch das Splanchnikusgebiet vom
Blute zugunsten der Muskulatur oder sagen wir schlechtweg, der Peripherie.
Die „Transposition des Blutes“ ist also als sicher anzusehen.
Wenn nun tatsächlich die Plasmodiengeneration aus der Milz herkommt,
dann muß sie die ganze Leber passieren, bevor sie in die freie Blut bahn kommt,
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
3G8
Alois Strasser
wie denn auch Rekurrensspirillen latent in der Milz lebend, durch die Leber in
die Blutbahn treten. Ob nun die Plasmodien oder Gameten frei oder in Zellen
eingeschlossen die Leber passieren, wäre durch gelegentliche Beobachtungen fest¬
zustellen, hat aber für das Auftreten des Rezidivs zunächst eine zweite Bedeutung.
Ähnlich dürfte der Vorgang sein, wenn die Milz mit Röntgenstrahleh oder
mit der Höhensonne bestrahlt wird, während mir der Vorgang bei der Provokation
eines Rezidivs durch die Milchinjektion oder der Typhusschutzimpfung zunächst
nicht klar ist. Celli spricht von Auftreten des Malariaanfalles und meint,
„der Rheumatismus mag die Widerstandskraft des Organismus gebrochen haben“.
Diese Ansicht ist für die Erklärung des Malariarezidivs zu schwankend, als daß
man sie gebrauchen könnte. Es mag auch bei dem Albumoseniieber oder ander¬
weitiger Infektion ^ie Änderung der Kreislaufsverhältnisse im Sinne einer Trans¬
position des Blutes eine größere Rolle spielen.
Anders gestaltet sich die Frage durch Biedls Beobachtung, daß Muskel¬
arbeit, starke Nahrungsaufnahme und Alkohol, weniger sicher Bäder und Duschen
den Fieberanfall ausgelöst haben, resp. „dessen Eintritt beschleunigen konnten,
wenn vorher Plasmodien im Blute waren“, was also nur eine Abkürzung der be¬
stehenden Latenz bedeuten würde, und weiter, daß er niemals nach den genannten
Schädigungen (Eingriffen) Plasmodien im Blute gefunden hat, wenn sie vorher
dort nicht zu finden waren.
Es ist schwer zu analysieren, welchen Einfluß die genannten provokatorischen
Einflüsse angesichts der Hauptthese der Arbeit Biedls haben, daß die Schizogonie
nicht auf dem Wege der Parthenogenese, sondern nur nach vorangegangener Be¬
fruchtung der Makrogameten zustande kommt, daß also der Fieberanfall an den
Befruchtungsvorgang gebunden ist. Man müßte denn annehmen, daß die ge¬
nannten Einflüsse den Befruchtungsvorgang begünstigen, doch ist für diese An¬
nahme eine reale Basis bisher nicht vorhanden. Auch ist noch nicht vollständig
klar, wie der Befruchtungsvorgang den Fieberanfall an sich auslösen soll, zumal,
wenn er im menschlichen Körper überhaupt stattfindet, was ich nach Biedls Be¬
obachtungen kaum bezweifeln möchte, er doch während der Latenz der Infektion
etwa in der Milz auch stattfinden kann, ohne daß ein Fieberanfall ausgelöst
würde. Es mag wohl doch so sein, daß der Fieberanfall entsteht, wenn im
ganzen kreisenden Blute große Mengen von Blutkörperchen befallen werden und
die .Sporulation mit dem Zerfall der Blutkörperchen erreicht ist. Zeitlich fällt
das Fieber jedenfalls mit der Sporulation zusammen. Es ist also wieder die Vor¬
aussetzung für den Anfall, daß große Mengen von Plasmodien im kreisenden
Blute sein müssen.
Ich habe meiner Ansicht in der mit Wolf geschilderten Auffassung ent¬
sprechend, bei meinen Malariafällen von thermischen Wirkungen zum Zwecke der
Provokation von Rezidiven reichlich Gebrauch gemacht. Ich kann natürlich
nicht mit Sicherheit sagen, daß bei meinen Fällen die Wiederkehr der An¬
fälle ohne die thermischen Prozeduren unterblieben wäre, im Gegenteil, die
allergrößte Mehrzahl befand sich im Stadium der latenten Infektion mit unregel¬
mäßig wiederkehrenden Anfällen und auch ich kann analog der Beobachtung von
Biedl erklären, daß ich keinen Fall gesehen habe, der vor den thermischen
Prozeduren von Plasmodien frei gewesen wäre und nach denselben solche im
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Malariarezidiv und Heilung.
369
Blute gehabt hätte. Mit Sicherheit konnte aber in vielen Fällen ein
deutlicher Einfluß der Prozeduren auf den Prozeß nachgewiesen
werden. Ich verwendete der Einfachheit halber die Kombination eines heißen
Bades von 40° C, 15—20 Minuten mit einer nachfolgenden kalten Strahldusche
auf die Milzgegend und fand, daß in Fällen mit ganz unregelmäßigem Fieber¬
verlauf mit Mangel eines greifbaren Typus der Anfälle, bei denen nach Aussetzen
des Chinins mehr oder minder lange Fieberpausen eingetreten waren, diese durch die
genannten Prozeduren abgekürzt worden sind. Ich folgere die Abkürzung der
Latenz daraus, daß nach mehrtägiger Anwendung typisches Fieber auftrat und
.im Blüte reichlich Plasmodien zu finden waren, wiewohl vor den Prozeduren nur
deren spärliche, vereinzelte nachgewiesen werden konnten.
Ich teile eine Krankengeschichte mit, als Muster, die in vielen anderen
Fällen sehr ähnlich geschildert werden könnte:
Ltnt. W. S. Im Mai 1916 Eintritt in das Malariagebiet. Trotz Chininprophylaxe
im Angnst erkrankt. Zunächst anfallsfrei nach Chinininjektionen, bekam nach einer
zwölftägigen Marschleistung heftige Anfälle, trotzdem er intern fortlaufend Chinin nahm.
Blutbefund positiv (Tertiana). Salvarsanversuche wegen Herzbeschwerden abgebrochen.
Optochinkur ohne Erfolg. Nach vielen Chininkuren in mehreren Spitälern größere Fieber¬
pausen, zuletzt im November—Dezember 1916, nach je 10—13 Tagen zwei bis drei An¬
fälle in täglichen Intervallen. Vom 3. Dezember 1916 bis 6. Januar 1917 ohne Be¬
handlung, ein Anfall. Von Mitte Januar bis 13. März Anfälle alle 11—15 Tage bei
Chininmedikation.
13. März Aufnahme auf meine Abteilung. Am 14. und 15. je ein Anfall. Blut¬
befund positiv (Tertiana, reichlich Plasmodien). Milztumor groß. Chinin ausgesetzt,
durch 16 Tage kein Anfall, im Blute außerordentlich seltene Plasmodien. Täglich heißes
Bad 40° C 15 Min., danach kalte Milzdusche. Am 8. Tag Anfall mit reichlichem Plas-
modienbefund, von da ab zweitägiger Typus. Chinin durch 5 Tage zu 2,5 g, fortgesetzte
Bäderbehandlung; danach 1,0 g Chinin täglich durch drei Wochen. Nach einem weiteren
Monate, also zusammen 8 Wochen anfallsfrei. Blut frei von Plasmodien, Milztumor
geschwunden.
Ich kann also weder in diesem, noch in anderen Fällen davon sprechen, daß
die thermischen Einflüsse das Wiederauftreten der Anfälle allein verursachten,
denn sie wären ohne die Eingriffe wohl sicher auch gekommen, da die Leute
eben ungeheilt waren, aber die Abkürzung dfer Latenz schien mir mit zwingender
Deutlichkeit hervorzugehen; und dann noch etwas, worauf ich in Hinsicht auf die
Dauerheilung ein noch größeres Gewicht legen möchte, daß provokatorische
Prozeduren, in meinen Fällen die thermischen Einflüsse, die Etablie¬
rung einer weiteren Latenz, ein Unterschlüpfen der Infektion in die
parenchymatösen Organe verhinderten.
Mannaberg sagt: Die Therapie vermag in dem Guerillakrieg gegen einen
in den parenchymatösen Organen verschanzten Gegner nichts auszurichten, doch
schlägt sie meist erfolgreich drein, wenn der Feind seine Truppen ins freie Feld
der Blutbahnen entsendet.
Warum die entsprechenden Medikamente, hier also hauptsächlich das Chinin,
die in Latenz verharrenden Plasmodien nicht angreifen kann, darüber kann man
sich unschwer plausible Vorstellungen machen. Wenn die Chiniuspannung im
Blute sehr groß ist, dann ist es wohl möglich, daß das Mittel in gehöriger Kon¬
zentration überall hinkommt, um als Amöbengift wirksam einzugreifen; welche
ZeiUchr. I. physik. u. diät. Therapie Bd. XXII. Heft 8]9. 24
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
370
A. Strasaer, Malariarezidiv und Heilung.
etwa enorme Mengen von Chinin hierzu nötig sind, das wissen wir nicht. Um
aber nur die Milz als Hauptort der Latenz ins Auge zu fassen, kann man sehen,
daß der Blutumlauf in ihr ein ganz anderer ist als in einem Kapillargebiete irgendwo
im Körper. Die Milzarterien übergehen unmittelbar in die Massen der Milz¬
pulpa (Jawein) und es ist keine große Phantasie nötig, um sich vorstellen zu
können, daß Ströme von Blut an großen Haufen von Zellen vorübergehen, ohne
mit ihnen in Berührung kommen zu müssen. In einem Kapillargebiete aber
ist jede einzelne Zelle gezwungen, mit dem Blutserum in innigste Be¬
rührung zu treten und da wird eine viel geringere Chininspannung ge¬
nügen, um ihre antimykotische und amöbentötende Wirkung auszu¬
üben. Wir wissen ja aus dem berühmten Hippursäureversuch von Schmiede-
berg-Bunge, welche geringe Mengen von Chinin genügen, um die vitale Tätig¬
keit der Zellen (hier die Synthese der Hippursäure aus Benzoesäure und Glykokoll)
aufzuheben.
Neben der Abkürzung der Latenz erscheint mir also als das Wich¬
tigste, alle Methoden anzuwenden, damit die Plasmodien möglichst in
der freien Blutbahn bleiben. Die Verwendung der geschilderten ther¬
mischen Methoden ist sehr bequem und überall durchführbar. Es ist wahr¬
scheinlich, daß mit anderen Methoden, wie Röntgen- oder Quarzlampenbestrahlung
der Milz, dasselbe Resultat erreicht werden kann; mit Milchinjektionen erzielte
ich den vortrefflichsten Erfolg in einem sehr hartnäckigen Falle von Tropica mit
schwerer Kachexie. Nach zwei Milchinjektionen traten hintereinander einige An¬
fälle auf, die dann durch intravenöse Chininbehandlung in kurzer Zeit zum
Schwinden gebracht worden sind, wobei die Kachexie auch erfreulich zurückging.
Ich möchte also das Wichtigste aus meinen Beobachtungen in folgendem
zusammenfassen:
1. Bei vielen, trotz ausgiebiger Chininprophylaxe an Malaria erkrankten
Personen führt die übliche Nocht-Kochsche Behandlung nicht zur Heilung, es
entsteht oft eine Latenz der Infektion.
2. Diese Latenz kann durch verschiedene Eingriffe, unter anderen auch durch
thermische Prozeduren (heiße Bäder mit kalten Milzduschen), abgekürzt, resp.
ein Rezidiv hervorgernfen werden.
3. Die Provokation der Anfälle beruht mit ziemlicher Sicherheit auf Aus¬
schwemmung des Blutes (Plasmodien) aus parenchymatösen Organen in die freie
Blutbahn, und ist
4. in therapeutischer Hinsicht dämm von großer Bedeutung, weil das Chinin
im peripheren Blute viel bessere Gelegenheit hat, seine amöbenschädigende
Wirkung auszuüben.
Literatur.
Appel, L. Wr. kl. Woch. 1915. Nr. 29.
Biedl, A. Wr. kl. Woch. 1918. Nr. 14-17.
Brauer, L. Wr. kl. Woch. 1917. Nr. 4.
Deutsch, F. Wr. kl. Woch. 1917. Nr. 7.
Garin. Presse med. 1917. Nr. 31.
Heyden, L. v. d. Niederl. Tijdschr. v. Geneesk. 1915. S. 1680.
Jawein. Virchows Arch. Bd. 161. S. 461.
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Walterhöfer, Über infektiöse Lebererkrankungen.
371
Külz, L. Müneh. med. Woch. 1917 Nr. 4.
Lenz. F. Münch, med. Woch. 1917. S. 394.
Mannaberg, J. Nothnagels Handbuch. Malaria.
Reinhard, P. Münch, med. Woch. 1917. S. 1193.
Schmidt, R. Med. Klin. 1916. Nr. 7.
Saxl, P. Münch, med. Woch. 1196. S. 116.
Silatschek und Falta. Münch, med. Woch. 1917. S. 93.
Str&sser und Wolf. Pflügers Archiv Bd. 108 und Wr. Klinik 1905.
Thaller, L. v. Wr. kl. Woch. 1917. Nr. 4.
XXIV.
Ober infektiöse Lebererkrankungen.
Aus dem Res.-Laz. Nürnberg-Ludwigsfeld.
Von
Stabsarzt d. R. Dr. Walterhöfer,
leit. Arzt der Station B.
(Assistent am poliklinischen Institut für innere Medizin, Berlin.)
Der klinische Befund bei Beteiligung der Leber an infektiösen Erkrankungen
erstreckt sich gewöhnlich auf den Nachweis einer Vergrößerung und Schmerz¬
haftigkeit des Organes. Beide Erscheinungen pflegen mit Abklingen der akuten
Symptome zumeist restlos zu verschwinden. Ernste Folgen sind zu erwarten, wenn
aus der akuten Attacke Verkleinerung und Unregelmäßigkeit der Form hervorgehen.
Diagnostisch betreten wir festeren Boden, wenn die Beteiligung der Leber sich
durch Ikterus kenntlich macht. Gerade bei Infektionskrankheiten bilden die durch
Einwirkung der Erreger oder seiner Gifte hervorgerufenen Störungen der Leberzelle
selbst die hauptsächlichste Ursache dieses Ikterus. Eine Quellung der Leberzellen,
vergesellschaftet mit veränderter Beschaffenheit der Galle, beeinträchtigt Durch¬
gängigkeit und Abfluß in den feinsten Gallengängen, so daß es zum Ikterus kommt,
ohne daß ein grob mechanisches Hindernis in den Gallenwegen sichtbar ist.
Inwieweit manche Symptome bei nachgewiesener Leberbeteiligung auf Ver¬
änderungen der Leberfunktion — Leberinsufflzienz und hepatische Autointoxikation
— zurückzuführen sind, bedarf vorkommenden Falles stets einer sorgfältigen Er¬
wägung. Untersuchungen haben gezeigt, daß alimentäre Lävulosurie, die von vielen
Seiten als feinste Probe auf die Funktion der Leberzelle anerkannt wird, mehr
oder weniger ausgesprochen bei allen Infektionskrankheiten vorkommt.
Die Erscheinungen der Lebererkrankungen in den verschiedendsten Schat¬
tierungen sind wohl gelegentlich einmal bei allen erdenklichen Infektionskrankheiten
anzutreffen. Immerhin gibt es bestimmte ansteckende Krankheiten, bei denen die
Beteiligung der Leber mit einem gewissen Prozentsatz von vornherein in die Rechnung
eingestellt werden muß. Bei einer anderen Gruppe geben die Lebersymptome dem
24*
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
372
Walterböfer
ganzen Krankheitsbild das Gepräge und bilden einen derartig integrierenden Bestand¬
teil, daß nach ihnen die Infektion ihren Namen erhalten hat.
Fälle aus der Gruppe des Icterus infectiosus kommen bei meinem hiesigen
Krankenmaterial sporatisch ständig zur Beobachtung. Sie verlaufen häufig genug
als einfacher „Icterus catarrhalis“. Erst genaue Nachforschungen über den Beginn
decken die wahre Natur auf. Nicht selten bringt man noch in Erfahrung, daß am
letzten Aufenthaltsorte gleiche Erkrankungen öfters aufgetreten sind. Andere Fälle
sind schwerer. Sie beginnen ebenfalls mit einem kurz dauernden Fiebefr und
Ikterus. Zwei bis drei Monate zieht sich dann aber der Ikterus hin in eintönigem,
bei Bettruhe fast beschwerdefreien Verlauf, nur ab und zu unterbrochen von
ephemeren Fiebersteigerungen bis 40°. 6 bis 7 solcher Fiebersteigerungen kommen
vor, eine sichtbare Veränderung im Krankheitsbilde findet dadurch nicht statt, uns
bekannte Krankheitserreger (Malaria, Rekurrens, die Spirochäte der Weil’schen
Krankheit, Strepto-Staphylokokken) sind nie nachweisbar.
Einen hierher gehörigen klinisch interessanten Fall beobachtete ich im
Jahre 1916: • l
Nach den Aufzeichnungen des Krankenblattes erkrankte der 22 jährige Fahrer N.
nach 8 monatigem Frontdienst am 24. Jnni 1916 in Galizien plötzlich nnter Fieber,
FrostgefQhl, Durchfällen, intensiven Kreuzschmerzen und Schmerzen in den Beinen. Am
nächsten Tage wurde eine Gelbfärbung der Hant und -eine braune Farbe des Urins
bemerkt. Da schweres Krankheitsgefühl beBtand und die Schmerzen im Kreuz und
Beinen stärker wurden, erfolgte Krankmeldung und am 5. Krankheitstage Aufnahme ins
Kriegslazarett. Bei seiner Einlieferung zeigte der Kranke ein elendes Aussehen, die
Körperwärme betrug 39,9. Die Haut war intensiv gelb gefärbt. Am ganzen Körper
fanden sich zahlreiche „rote Papeln“, die an den Oberschenkeln nm die Haarfollikel
herum hämorrhagisch sind. Über den Lungen Katarrh. Die Milzdämpfung ist deutlich
vergrößert, die Leberdämpfung tympanitisch verdeckt. Der Leib war aufgetrieben. Im
Stehen zeigte sich bis handbreit über das Schambein Dämpfung, die sich beim Lage¬
wechsel ändert. An den Unterschenkeln leichtes Ödem. Der Urin enthielt Eiweiß und
Gallenfarbstoff. Im Sediment fanden sich hyaline und granulierte Zylinder, viele Nieren-
epithelien und Leukozyten. Am 15. Krankheitstage wurde N. auf meiner Station auf¬
genommen. Bei dem früher stets gesunden Manne bestand noch mäßiges Fieber. Die
Hautfarbe war leicht ikteiisch. Der Leib war. stark aufgetrieben, der Bauchumfang
betrug in Nabelhöhe 96 cm. Ein freier Askites war nachweisbar. Milz vergrößert,
Leber nicht zu fühlen. Das Skrotum stark ödematös geschwollen, an den Unterschenkeln
mäßige Flössigkeitsansammlung. Der Urin war frei von Eiweiß, Zucker und Gallenfarb¬
stoff, Urinmenge 1500 bei 1016 spez. Gewicht. Vom 17. Tage an war der Kranke
fieberfrei, nur am 24. Krankheitstage stieg die Temperatur plötzlich auf 38,4, ohne daß
im Befinden des Kranken sich etwas änderte. In der Folgezeit setzte ohne medikamentöse
Beeinflussung eine mächtige Diurese ein. Die Urinmengen stiegen auf 3000 ccm, Ascites
ging zurück, die Ödeme am Skrotum verschwanden völlig. Am 31. Krankheitstage betrug
der Leibumfang nur noch 81 cm. Nach leidlichem Wohlbefinden wurde am 54. Krank-
heitstage eine Zunahme des Ikterus bemerkt. Im Urin trat wieder Gallenfarbstoff auf,
der Stuhl war jedoch nicht entfärbt. Zu gleicher Zeit stieg der Ascites. Da als Folge
der Verdrängung Atemnot auftrat, wurden am 63. Tage mittels Bauchpunktion 6 Liter
Ascites entleert. Schon am nächsten Tage war der Ascites jedoch wieder angestiegen.
In der Nacht traten plötzlich außerordentlich heftige Kreuzschmerzen auf, die trotz
Morphium die Nachtruhe störten. Am anderen Morgen sieht der Kranke tiefgelb aus.
Die Temperatur ist leicht erhöht, an Lippen und Nasenflügeln war ein Herpes auf¬
getreten. Auffallenderweise stieg die Urinausscheidnng auf 5000 ccm. Der Urin enthielt
stark Bilirubin, aber kein Eiweiß. Nach 5 tägigem, mäßigem Fieber trat am 70. Krank-
Digitizeit b
Google
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Über infektiöse Lebererkrankungen.
373
heitstage Entfieberung ein. Der Batichumfang 'betrag jetzt 108 cm, der Nabel war
bläschenförmig aufgetrieben. Am 74. Tage wurden nochmals durch Punktion 7 s / 4 Liter
entleert, ohne daß der Patient länger als einen Tag Erleichterung davon gehabt hätte. Ani
76. Tage hatte der Ikterus einen außerordentlichen Grad erreicht. Während der Nacht
wurde der Kranke unruhig, drängte aus dem Bett. Stuhl und Urin gehen unwillkfirlich
ab. Am folgenden Morgen sank die Körpertemperatur auf 35,2, der Kranke war völlig
benommen. Im Laufe des Vormittags erfolgte Erbrechen von 2 Eßlöffel Blut. Am
Nachmittage wiederholte sich das Blutbrechen im verstärkten Maße und in der Nacht
, trat im Coma der Exitus ein.
Die während der hiesigen Beobachtung vorgenommenen Untersuchungen des Blutes,
Stuhles und Urines auf Typhus, Paratyphus A und B fielen negativ aus. Malaria und
Rekurrens konnten ebenfalls ausgeschlossen werden. Als am 65. Krankheitstage unter
Fieberanstieg eine erneute Verschlimmerung eintrat, wurden Meerschweinchen geimpft,
jedoch ohne Resultat. Gelegentlich der täglich vorgenommenen Untersuchung des Blutes
im Dunkelfeld fielen am 69. Krankheitstage zahlreiche bewegliche Fäden im Blute auf.
Die Bewegungen der Gebilde erfolgten nach verschiedenen Seiten des Gesichtsfeldes,
so daß eine Beeinflussung durch Strömung ausgeschlossen schien. Auf seiner Wanderung
konnte ein derartiges Gebilde durch mehrere Gesichtsfelder verfplgt werden. Die Fäden
selbst zeigten untereinander verschiedene Größe, sie waren mehrfach gewunden und
hatten an beiden Polen knopfartige Auftreibungen. In ihrer Gestalt erinnerten sie mich
in allen Punkten an die auf dem Warschauer Kongreß demonstrierten Erreger der
Weil’schen Krankheit. In gleicher Weise konnten die Gebilde am 70. und 71. Krank*
heitstage nachgewiesen werden. Dann waren sie aus dem Blute verschwunden. In
gefärbten Trockenpräparaten ließen sich die Gebilde nicht darstellen. Die geimpften
Meerschweinchen blieben auch jetzt gesund.
Die Untersuchung des Ascites ergab bakteriologisch negative Resultate; der Eiwei߬
gehalt betrag 6 °j 0Q .• Im Sediment erkannte man spärlich Lymphozyten und große einkernige
Zellen. Die qualitative und quantitative Zusammensetzung des Blutes war bis kurz vor
Krankheitsende normal. Am 74. Krankheitstage zeigte das Blut erhebliche Veränderungen,
Es bestand sehr starke Polychromatophilie, grobe basophile Punktierung, Poikilozytose;
kernhaltige, rote Blutkörperchen, Jollykörper und neutrophile Myelozyten waren zu finden.
Die Wassermann’sche Reaktion war negativ.
Das Ergebnis der Obduktion soll nur im Auszug mitgeteilt werden: Sämtliche
Organe waren stark ikterisch verfärbt. In und unter der rechten Pleura fänden sich
zahlreiche Blutpunkte. Die Leber lag unter dem Rippenbogen in der Zwerchfellaushöhlung
zurfickgesunken. Sie war stark verkleinert. Nach dem Herausnehmen zeigte sie
Mannsfaustgröße; ihre Maße betragen 24 :13 : 7 cm. Die Verkleinerung betraf das
ganze Organ gleichmäßig. Die Leberoberfläche war derb höckerig, die einzelnen Höcker
waren kirschgroß. Beim Einschneiden knirschte das Gewebe. Auf dem Durchschnitt
sah man von einem derben, homogenen Gewebe umschlossene Inseln, die normale Leber¬
zeichnung erkennen ließen. Die Inseln überragten die Schnittfläche und waren von
dunkelbraungelber Farbe. Die Gallenblase war enteneigroß, überragte um 2 Querfinger¬
breite den Leberrand. Sie enthielt eine reichliche Menge blaßgrüngelber fadenziehender
Galle. Die Gallenwege waren frei. Die Milz war vergrößert, 15 : 9 : 4'^ cm. Die
Kapsel war gespannt, das sich weichschneidende Gewebe war von gelbroter Farbe. Die
Milzzeichnung ist erhalten. Die Nieren zeigten mikroskopisch außer der ikterischen
Verfärbung nichts besonderes. Der Magen enthielt reichlich geronnenes Blut. Geschwüre
waren nirgends zu sehen, dagegen war die Schleimhaut durchsetzt mit zarten eben
sichtbaren roten Blutpunkten. Auch im ganzen Dünndarm bis hinunter zur Klappe
fanden sich reichlich Blutgerinnsel und zahlreiche kleine Blutpunkte in der Schleimhaut.
Geschwüre fehlten auch hier. Das Knochenmark der Röhrenknochen war gelblich weiß.
Die Untersuchungen von Herzblut, Milzsaft, Lebersaft und Knochenmark im Dnnkelfeld
und im gefärbten Trockenpräparat ergaben einen negativen Befund. Sämtliche Organe
waren kulturell steril, mit Ausnahme von Milz und Niere, in denen bact. coli und bac.
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
374
Walterhöter
bac. proteus gefunden wurde. Die am 9. 8. mit Herzblut, Milz, Leber, Ascites und
Knochenmark geimpften Meerschweinchen lebten am 3. 10. 1916 noch und waren
gesund geblieben.
In Anbetracht des vorliegenden Obduktionsbefundes erübrigt es sich, in
breite differentialdiagnostische Erörterungen einzutreten. Die mikroskopisch¬
anatomische Untersuchung der Leber ergab, daß zunächst eine hochgradige
atrophisch Laänneksche Leberzirrhose vorlag. Daneben fanden sich in den oben
erwähnten Inseln die Leberzellen vergrößert, getrübt, zum Teil mit fehlendem
Kern als Zeichen einer trüben Schwellung' oder leichten parenchymatösen
Degeneration, wie sie im Verlaufe von Infektionskrankheiten häufig angetroffen
werden. Von einer Nekrose der Leberzellen konnte nicht die Rede sein. Auch
an der Hand der klinischen Erscheinungen läßt sich das Bestehen zweier Er¬
krankungen dartun. Ursprünglich hatte der Patient eine gewöhnliche Leber¬
zirrhose, deren Entwicklung sich zweifellos über Jahre erstreckte. Auf welcher
Grundlage sich hier die Leberzirrhose entwickelte, blieb unbekannt. Erscheinungen
hatte die Erkrankung'bisher nicht gemacht, ein Ereignis, das nicht so auffallend
ist. Eröffnet wurde die Krankheitsperiode durch eine Reihe von akuten Symptomen,
die nur von einer Infektion herrühren konnten. Aus der elektiven Wirkung dieser
Infektion auf die Leber, in Verbindung mit dem übrigen Symptomenkomplex:
frischer Milztumor, Nephritis und Schmerzhaftigkeit der Skelettmuskulatur läßt
sich mit einem gewissen Recht der Verdacht aussprechen, daß die Erkrankung
der Weil’schen Krankheit außerordentlich nahe steht. Dabei sehe ich ab von
einer Verwertung des spirochätenartigen Befundes, da ich den Beweis schuldig
bleiben mußte, ob es sich tatsächlich um den Erreger handelte. Das Hinzutreten
dieser die Leber besonders schädigenden Infektion zur vorhandenen bisher
symptomlos verlaufenden Leberzirrhose brachte hierin eine verhängnisvolle Wendung.
Der bisher vollkommen aufrecht erhaltene Pfortaderkreislauf wurde gestört.
Bereits am 5. Tage sehen wir die Erscheinungen der Pfortaderstauung in voller
Entwicklung, die nach vorübergehender Besserung einen hohen Grad erreichen
und in Verbindung mit den Zeichen einer hepatischen Autointoxikation den Tod
herbeiführen.
Zu Zeiten vermehrten sich die Fälle von infektiösem Ikterus. Die Krank¬
heitsbilder waren dann einheitlich, so daß die Zugehörigkeit des einzelnen Falles
zu dieser Epidemie klinisch leicht erkenntlich war. Eine derartige Häufung
beobachtete ich im August, September, Oktober 1917. In gewissen Abständen
voneinander erkrankten bald auf dieser, bald auf jener Baracke im ganzen
25 Mann. Ich selbst erkrankte auch und kann daher den Verlauf der Infektion
aus eigenster Erfahrung schildern. Dem Ausbruch der Krankheit gingen Prodromal¬
erscheinungen voran. Man fühlte sich matt und abgeschlagen. Gegen Abend
traten mäßige Kopfschmerzen auf. Das Gefühl einer beginnenden Infektions¬
krankheit, die anders wird als eine gewöhnliche sogenannte Erkältung, wurde
bestärkt, als nach 3 Tagen abendliche Fiebersteigerungen einsetzten, die stark
remittierend allmählich Spitzen bis zu 40° erreichten. Vom 4. Fiebertage an war
die Milz geschwollen. Das hohe Fieber hielt 5 bis 0 Tage an, um dann lytisch
am 9. bis 11. Tage abzufallen. Der Urin war stets eiweißfrei, Diazo war negativ.
Es bestanden niemals irgendwelche Schmerzen. Mit dem Abfall des Fiebers
Digitized b'
Google
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Über infektiöse Lebererkrankungen.
375
trat nun ein Ikterus auf. Die »Leber war zum Teil recht erheblich geschwollen
und mäßig druckempfindlich. Der Ikterus erreichte meistens einen hohen Grad,
der Urin enthielt jetzt Bilirubin. Nur in den schweren Fällen war auch der
Stuhl acholisch. Bei mir selbst hielt diese Acholie 3 Wochen an. Nach durch¬
schnittlich 5 wöchiger Dauer war die ikterische Verfärbung wieder verschwunden.
Allen Fällen gemeinsam war eine erhebliche Reduzierung des Ernährungszustapdes.
Die Rekonvaleszenz war ungestört, zog sich aber über eine ganze Spanne Zeit hin.
Die Gleichmäßigkeit der Symptome war bei allen Erkrankten überraschend.
Es waren scharf umgrenzt 2 Krankheitsperioden zu unterscheiden. Der erste
Abschnitt zeigte die Erscheinungen einer Allgemeininfektion mit hohem remittierenden
Fieber und Milztumor. Die zweite Periode wurde ausgefüllt von den lokalen
Lebersymptomen. In seiner ersten Hälfte zeigte die Erkrankung Anklänge an
einen nicht voll ausgebildeten Typhus oder Paratyphus. Alle bakt. Untersuchungen
fielen indes negativ aus. Auch die lange Zeit fortgesetzter Stuhluntersuchungen
ergaben stets einen für Typhus und Paratyphus negativen Befund. Als wir nach
mehreren Erkrankungen auf den eigentümlichen Verlauf aufmerksam gemacht
waren, WTirden auch in der Frühperiode Tierimpfungen und Untersuchungen des
Blutes im Dunkelfeld angestellt. Das Ergebnis w r ar ebenfalls negativ. Von der
Symptomatologie der Weil’schen Krankheit unterschied sich dieser' Ikterus in
wichtigen Punkten: Die Beteiligung der Nieren wurde stets vermißt; es fehlten
die Schmerzen der Skelettmuskeln, ja die Krankheit zeichnete sich gerade durch
ihren schmerzfreien Verlauf aus. Es fehlte ferner eine hämorrhagische Diathese;
Rezidive blieben aus. Die Einheitlichkeit der Ätiologie der Erkrankungen dieser
Epidemie ist wohl kaum in Abrede zu stellen. Ihre Abgrenzung von der Weil’schen
Krankheit erscheint mir nach dem klinischen Befunde unzweifelhaft 1 ).
Von dem infektiösen Ikterus sind die Lebererkrankungen scharf abzugrenzen,
die mit einer gewissen Häufigkeit im Verlaufe von Infektionskrankheiten kompli¬
zierend hinzutreten. An erster Stelle steht hier die Amöbenruhr. Sie spielt
unter unserem Material keine Rolle. Ähnliche charakteristische Lebererkrankungen
wie bei der Amöbenruhr fehlen der bazillären Dysenterie vollkommen. In den
leichten Fällen oder in Fällen mit rapidem Verlauf kommt es zu irgendwelchen
nachweisbaren Leberveränderungen überhaupt nicht. Nur bei den chronischen
Ruhrerkrankungen werden mehr oder minder schwere Leberveränderungen selten
vermißt. Die abgemagerten Kranken mit ihren durch keine Behandlung zu
bekämpfenden eiter- und bluthaltigen Durchfällen zeigen ohne Ausnahme erhebliche
Lebervergrößerungen. Bei der pathologisch-anatomischen Untersuchung stellte
»ich heraus, daß die Vergrößerung durch eine Verfettung der Leberzellen
bedingt ist.
Das Vorkommen von Vergrößerungen, Druckempfindlichkeit und Jkterus bei
Erkrankungen der Typhusgruppe und bei septischen Erkrankungen ist bekannt.
Ebenso bekannt ist die Mitbeteiligung der Leber am Scharlach, bei dem wir nicht
selten auf der Höhe des scarlatinösen Exanthems noch eine ikterische Verfärbung
der Haut beobachten können. Vielleicht weniger Allgemeingut ist die Kenntnis
von dem Auftreten akuter Lebererkrankungen im Sekundärstadium der Lues.
’) Von der Mitteilung der Kurven wurde wegen Kaummangels abgesehen.
□ ifitized by Gck >gle
/
UNIVERSITY OF MICHIGAN
376
Walterhöfer
Uber Beteiligung der Leber bei Malaria habe ich eigene Erfahrungen im
reichen Maße sammeln können. Die Faktoren, die zu Leberveränderungen führen
können, ergeben sich aus einer Betrachtung bestimmter Vorgänge bei einem
Anfall. Durch den'Zerfall der roten Blutkörperchen hat die Leber den dabei
freiwerdenden vermehrten Blutfarbstoff zu Galle zu verarbeiten. Ist die Leberzelle
dazu nicht imstande, so wird ein Teil desselben in Form eines ockergelben
Pigmentes in der Zelle aufgespeichert. Hierzu kommt weiter die Ablagerung
einess von den zugrunde gegangenen Malariaplasmodien herrührenden schwarzen
Pigmentes in der Wand der Kapillaren. Hyperfunktion und Ablagerung von
Trümmern führen hier zu Leberschädigungen, die sich im Auftreten von Ikterus,
Lebervergrößerung und Schmerzhaftigkeit äußern, die, aber auch durch Pigment¬
verstopfung infolge mangelnder Blutzufuhr zu bleibenden organischen Schädigungen
des Lebergewebes Anlaß geben können.
Das Auftreten von Ikterus ist sowohl nach Tropika als auch nach Tertiana
keineswegs selten. Im allgemeinen waren die dabei auftretenden sonstigen Er¬
scheinungen gering. Der Ikterus ging schnell wieder vorüber. Aber es kommen
Ausnahmen hiervon vor. Wie bedrohlich sich das Krankheitsbild gestalten kann,
mag folgender Fall zeigen:
Der 23jährige Mann erkrankte im Oktober 1917 in Mazedonien an Tropika. Er
hatte wiederholt Rückfälle mit Qnotidianatypns. Am 2., 3. und 4. Dezember 1917
bekam er hier je einen mittelschweren Anfall mit Schüttelfrost. Im Blute fanden sich
Tropikaringe. Zwei Tage nach dem letzten Anfall wurde der Kranke leicht ikterisch. Am
9. Dezember erreichte der Ikterns einen hohen Grad. Die Leber war stark vergrößert
und schmerzhaft. In der Nacht wurde der Patient anruhig, am anderen Morgen ist er
somnolent. Die Temperatur sank unter die Norm (35°). Der Puls war stark ver¬
langsamt. Es traten sehr starke Delirien auf, die am 12. Dezember sich noch steigerten.
An diesem Tage wurde ein kräftiger Aderlaß ausgeführt und am nächsten Tage war
der Patient wieder bei Bewußtsein. Der Ikterus bestand in unverminderter Stärke fort,
der Urin war stets eiweißfrei. Am 16. Dezember trat wiederum hohes Fieber auf, aber
ohne Schüttelfrost. Die anfangs tiefen Remissionen bleiben allmählich weg, das Fieber
nimmt mehr den Charakter einer Kontinua an. In den ersten Tagen konnte eine Ursache
für das Fieber nicht gefunden werden. Am 20. Dezember klagte der Patient über starke
Schmerzen in der linken Schulter. Dort bestand eine sehr schmerzhafte Schwellung, die
aber am nächsten Tage wieder verschwunden war. Am 22. Dezember war über dem
linken Oberlappen eine Dämpfung nachzuweisen. Es entwickelte sich eine kruppöse
Pneumonie, die weiterhin einen normalen Ablauf zeigte. In der Folgezeit traten noch
einige Tropikaanfälle auf. Außerhalb der Anfälle hat der Patient keine Beschwerden
mehr 1 ).
Die Pneumonie soll einmal beiseite gelassen werden, obwohl die Erscheinung
in diesem Zusammenhänge einer Erörterung wert wäre.
Nach der ganzen Art und Weise des Auftretens des Ikterus konnte ein Schwarz¬
wasserfieber ausgeschlossen werden. In Betracht' kam ferner eine zerebrale Malaria.
Dagegen sprach indessen, daß in dieser Periode das periphere Blut frei von Plas¬
modien war. Auch pflegt die zerebrale Malaria sich unmittelbar an einen Anfall
anzuschließen. Als einzige Möglichkeit der Erklärung blieb nur die Annahme, daß
die schweren zerebralen Symptome mit der starken Senkung der Temperatur durch
*) Von der Mitteilung der Kurven wurde wegen Raummangels abgesehen.
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Über infektiöse Lebererkrankungen.
377
Beteiligung der Leber bedingt waren. Es handelte sich um die recht seltene
Komplikation eines einfachen Ikterus nach Tropikaanfall mit bedrohlichen Symp¬
tomen einer Cholämie oder besser einer hepatischen Autointoxikation.
In ähnlicher Weise wie bei Malaria treten die Leberveränderungen beim
Schwarzwasserfieber auf, nur sind sie hier gewöhnlich hochgradiger. Auf die
Komplikationen von seiten der Leber bei Rekurrens oder spezifischen tropischen
Erkrankungen, die auch jetzt bei uns keinen Eingang gefunden haben, soll nicht
näher eingegangen werden.
Zusammenfassung.
Die Beteiligung der Leber an infektiösen Erkrankungen ist bei unserem
jetzigen Krankenmaterial kein seltenes Vorkommnis. Bei einer Reihe von Infektions¬
krankheiten treten die Erkrankungen der Leber als Komplikation hinzu. Besonders
bei Malaria wurde Leberschwellung und Ikterus häufig beobachtet. Obwohl
bleibende und hochgradige Leberveränderungen bei mehr als 1500 Malariafällen
nicht auftraten, wird an einem Falle gezeigt, daß durch Beteiligung der Leber
doch ein bedrohliches Krankheitsbild hervorgerufen werden kann.
Fälle von infektiösem Ikterus kommen sporadisch ständig vor. Ihr klinischer
Verlauf ist sehr mannigfaltig. Zuzeiten trat die Erkrankung epidemisch auf.
Die Krankheitsbilder waren dann aber untereinander in hohem Grade überein¬
stimmend. In. keinem Falle konnte die Bakteriologie einen ätiologischen
Aufschluß geben. Ob die zur Gruppe des infektiösen Ikterus gehörigen Fälle
in ihrer Ätiologie überhaupt einheitlich sind, ist zurzeit noch zweifelhaft.
Erfahrungen mit anderen Infektionen mahnen. in dieser Beziehung zur Vorsicht.
Malaria, Rekurrens, Febris quintana, die ja auch ein hervortretendes Symptom,
das periodisch auftretende Fieber gemeinsam zeigen, haben gelehrt, daß trotz dieser
Übereinstimmung ein völlig verschiedenes Lebewesen als Erreger in Betracht kommt.
Zeltschr. f. physik. u. dlit. Therapie lid. XXII. Heft 8,'S).
□ igitized b
Google
25
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
X
Digitized by
W. Büxenstein Druckerei und Deutscher Verlag G. m. b. H., Berlin SW. 48,
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Erhöhte Bolus
wirfttittg und
■S Toterani
Intern
Rektal
BOLUSAL
rein
Eine Vereinigung vcm frisch gefälltem Tonerdehydrat f ,Reiss*f mi
3ierili»ierter BoIms.
„Bolusal mit Tierkohle“
(Carbobolusal)
Nasendarmgärung, Hyperazidität; Ruhr
Colitis uSc*; Gaifenblasenbeschwerden.
Chariottenburg 43 und Wien VI/2,
2!MMCR«C§
FRANKFURT^M.
Chemotherapeutiiche Dejinfektionsmittel
Lttpxat ufc; R. KUÄPf*^ iJSdts^ljc-med. Vvoolierispiir. .1(117, -jfVi- 44h'. Ä. ■.(tüXföZj feifrfc
V'.'n.o- v br. jei«, IV- ;■ 1. MURC.EXRÖTH, Beil. tejln. 'Wotitcrfsi'hn.lfiRs/Nr. 8. S. m.
(Li tördfof: Ä BIER Vfi«: Wöcl^TwefjK !»»7;#i::äf> u, t(’}S, Sfr,
!kii»,\Vöche!>scln. löiä, M^rl. klin. Wocheusfi-hf'i&iö.'Nftöv$riSlft r
410
Referate über Bücher und Aufsätze.
geschildert ist, wird die physikalische, diäte¬
tische und medikamentöse Therapie in bezug
auf Wert und Wirkungsweise sowie die Be¬
handlung der einzelnen Krankheitsformen er¬
örtert.
Bei den einzelnen Kapiteln ist die Literatur
sehr umfangreich zusammengestellt, vielfach
z. B. bei der Kriegsnephritis neu in dieser
2. Auflage beigebracht, deren Ausgabe bereits
ein halbes Jahr nach dem Erscheinen des
Buches am besten für die Qualität desselben
spricht. J. Ruhemann (Berlin-Wilmersdorf).
Goldscheider (Berlin), Die Topographie
der spinalen SensibilJtätsbezirke der Haut.
Ztschr. f. klin. Med. 1917. Bd. 85. H. l.u.2.
Goldscheiders Vorgehen besteht da¬
rin, daß er durch künstlich gesetzte Schmerz-
Teize hyperalgetische Felder erzeugt und auf
Grund der gesetzmäßigen Struktur derselben
die spinalen Begrenzungen erschließt. Er
bedient sich also der „Irradiationsmethode“ zur
Feststellung der spinalen Sensibilitätszonen.
Die Arbeit bildet gewissermaßen einen weiteren
Ausbau der früheren Studien über Irradiation
und Hyperästhesie im Bereiche der Kaut-
sensibilität sowie über die Struktur der spinalen
Sensibilitätsbezirke der Haut. Die ermittelten
spinalen Bezirke werden dann in dreifacher
Weise festgehalten. Durch Kombination der
verschiedenen Methoden konnten Fehler der
zeichnerischen Übertragung vollständig aus¬
geschaltet werden. Den zweiten Teil der mi¬
nutiösen Arbeit, die zu ähnlichen Ergebnissen
führt, wie sie z. B. Sherrington gefunden
hat, bildet die Identifizierung der ermittelten
Bezirke mit den Segmenthöhen des Rücken¬
marks. Einzelheiten müssen im Original
studiert werden. E. Tobias (Berlin).
W. Kulka, Zur Kaliumpermanganatbeliand-
lung der Variola. W. kl. W. 1917. Nr. 34.
Polemik mit G. Morawetz wegen der
günstigen Erfahrungen bei Behandlung der
Variola mit 3—5%oig er Kaliumpermanganat¬
lösung. Unter Verzicht auf die früher suppo-
nierte Rotlichtwirkung wurde absichtlich von
dem Verfasser eine sehr geringe Konzentration
genommen, um einerseits starke Ätzwirkung
zu vermeiden, andererseits durch häufigere Be¬
handlung bessere Tiefenwirkung zu erzielen.
Auch erschien so die Gefahr einer Giftwirkung
durch Kaliresorption ausgeschlossen. Narben¬
bildung trat in sechswöchiger Beobachtungs¬
zeit nicht auf. — Die Priorität der Kaliumper¬
manganatbehandlung der Variola gebührt übri¬
gens, wie Kulka hervorhebt, weder ihm noch
Mora wetz, sondern Dreyer.
Roemheld (Hornegg a. N.).
Franz Bardachzi und Zolt&n Barab&s
(Przemysl), Bittersalz- und Kochsalzlö¬
sungen für Glyzerla bei der Verwendung
zu Klysmen. W. kl. W. 1917. Nr. 34.
Zuckersirup und Melasse können als rektale
Abführmittel an Stelle von Glyzerin Verwen¬
dung finden. Wo sie fehlten, wandten die
Autoren einen Eßlöffel, voll Bittersalz oder
Kochsalz auf Jeinen Viertelliter zimmerwarmes
Wasser als Klysma an, ein Ersatzmittel, bei
dem neben der sicheren milden Wirkung die
große Billigkeit besonders zu schätzen ist.
Roemheld (Hornegg a. N.).
Bräun Ing (Hohenkrug), Die Erfolge und
Mißerfolge "der Stettiner Fürsorgestelle
für Lungenkranke bei den Kranken mit
offener Tuberkulose. Ztschr. f. Tuberku¬
lose. Bd. 28. Heft 1.
Es gelingt der Fürsorgestelle bei etwa
86 % der in eigener Häuslichkeit wohnenden
Phthisiker hygienisch einwandfreie Verhältnisse
zu schaffen. Um dem Rest beizukommen, sind
besondere polizeiliche Maßnahmen, besonders
eine amtliche Überwachung der Wohnungen,
unumgänglich. Für alle schwerkranken Schwind¬
süchtigen müßte Unterkunft in Krankenhäusern
geschaffen werden. Undurchführbar ist dies
aber bei allen Kindern mit offener Tuberkulose
unter 15 Jahren. Man kann auch nicht ver¬
hindern, daß diese mit andern Kindern spielen,
dagegen sie vom Schulbesuch ausschließen.
13 % der Schlafburschen entziehen sich der
Beobachtung. Bei den übrigen können nur
in 66 % hygienisch einwandfreie häusliche Ver¬
hältnisse geschaffen werden; eine polizeiliche
Überwachung der Schlafstellen und ein Hand¬
inhandarbeiten der überwachenden Behörde
mit der Fürsorgestelle ist notwendig. Kinder
schwindsüchtiger Eltern können nur während
des ersten Jahres vor der Ansteckung mit
Tuberkulose bewahrt werden. Alle Kinder
und Geschwister von offenen Tuberkulösen
müssen fortlaufend ärztlich überwacht werden.
Etwa 16 °/o aller Offentuberkulösen in Stettin
befinden sich in Berufen, in denen sie das
Publikum gefährden, und etwa 28 % ui Berufen,
in denen sie ihre Mitarbeiter gefährden.
Hier vermag die Fürsorgestelle vorläufig nur
ausnahmsweise Abhilfe zu schaffen.
Freyhan (Berlin).
W. Büxenstein Druckerei und Deutscher Verlag G. m. b. H., Berlin SW. 48.
Digitized by
Go igle
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
\ .4 \ > : \ > V4-‘is*£ v" r:'..
llP^gisss
mul®«
ISSiS^*^si$r^$£*£’’ ;s * ^ : &ßZ'£y'' A
*\ r
mm ZE,TSC
1 * 14 ^ FÜR
'&& i &S-Wf&#fß% txs * $ 43#f»S/-:iV,4wA$Vip;
9Sm^f ▼ •»^ , *>s<-. , ?\ - .y>v.o •* , »’.V'vV^
EiBISSE^
^B^P^nj* ■ ■!— ■» -*- • -~" _?. —j^. v , ^*• . jl .
ft. M
r III DIIVaulD^IlC lnd uiüi CI 1 DV,
;? ;f ;i-,^y:saÄ»SS ■ir.ä*-f:
i?>
,4-/7
DDO». v >
{Begründet von E. v. Leyden und A. Goldscheider)
i ; V- :ii
„»ÄW,, , .■■
lÄferat ■'•®- tt ''^‘" s •
>. iwiiPpWi
|pp
«Wilil
» * , Jtfjj *+?■ •.%*♦> • v
Hi®': V'
RISffiS
HER AUS GEGEBEN
VOM j-: ; r/'." .<:’ .;>
A. COLDSC^felBßRll. BR 1 HGER
Wm
Redaktion * W. ALEXANDER
Zurzeii hj<AÖö&Kvt F^«A^ ÄlA£ ^ ret ^
,J ;»i t
, r.« i’
- *.
V-., r
■s»fölu£äi
ELFTES HßFT (Novijmbsjr)
*“• ^ :•**. c^ •*»'4y-2jp?$ty v**f «£ü -’^4v **''’ WJf^ ?1~ - : f?jr~A<4*4 44' *4 / " j2
■•••• Leipzig lÖIS;-.iij-; , x^i^■,vjgRl^©^jty‘^ ‘Tfrfe.oiisj Antonstrwse 15
... „.„..... 1 .,„ Ä
$ ;<' » ;.\ > ‘vV.\ • : v v ^V-raBkl
•:' :>.■:) &?0
9^«^^#/ jT !,;*'• V. 1 • >i/ rJ^*K'v v -'-- : '*v*'
BjS
•v -« .
% j*. « *
; 2
... t ‘ *► '7*' ' 7 « 'tr ♦•u’
•»- ' *, „ • ’ * »< V
w* >iiJWrMn'B r i>^i firW
1 ^.£SS«* - * *»/!;.•£ < , * ^ *, * . _-•-.>? m
r *<
• *V i»
L .?£
. / :s
Go gle
Original-Arbeiten.
i.
Über die krankhafte Überempfindlichkeit und ihre
Behandlung.
Von
Geh. Hed.-Bat Prof. Dr. Goldscheider.
(Schluß.)
IT. Behandlung.
Aus den vorhergehenden Erörterungen geht hervor, daß die erworbene krankhafte
Überempfindlichkeit auf eine übermäßige Reizung zurückzuführen ist und sich nach
den gleichen Gesetzen entwickelt wie die physiologische Erregbarkeitssteigerung,
welche den Charakter der funktionellen Anpassung hat und auf dem gesetzmäßigen
Vorgänge der kumulativen Assimilation, der restitutiven Überschußbildung beruht.
Die krankhafte Hyperergie ist die Antwort auf den das physiologische Maß über¬
steigenden schädigenden Reiz, wie die physiologische Erregbarkeitssteigerung die¬
jenige auf den physiologischen Reiz ist. Die krankhafte Überempfindlichkeit ist
daher zunächst überhaupt nicht zu bekämpfen oder zu unterdrücken, denn sie hat
einen dauerfördernden („zweckmäßigen 1 ^ Charakter; sie läßt wie die physiologische
Erregbarkeitssteigerung eine Reizanpassung, nämlich an den übermäßigen Reiz
erkennen; sie ist eine Abwehrreaktion und verläuft häufig als kompensatorischer
Vorgang. Aber andererseits bedeutet die Hyperergie einen Krankheitszustand,
welcher nicht bloß durch die Bedingungen, welche ihn auslösen, sondern als solcher
den Organismus gefährden kann. Er vermag zur Vernichtung der überempfindlichen
Zellen zu führen. Er hat ferner die Neigung, gleichsam über das Ziel hinaus¬
zuschießen; die schon dem physiologischen Reiz eigene überschießende Reaktion
kommt bei der pathologischen Hyperergie in vermehrtem Maße zum Ausdruck.
Letztere stellt daher oft eine unnötige und nutzlose Belastung des Organismus dar
(vgl. UI. Kap.), welche die Funktionen über das Bedürfnis der Anpassung hinaus
anspannt und abnutzend wirkt. Die konstitutionelle bzw. latent vorhandene Über¬
empfindlichkeit bedingt ferner eine abnorm starke Reaktion auf Reize, welche
noch in der Breite der physiologischen liegen und bei einem gesunden Organismus
eine übermäßige Reaktion nicht anslösen würden. Die Überempfindlichkeit
hat zwar auch in diesen Fällen einen dauerfördernden Charakter, indem sie
verrät, daß gewisse Reize in ganz unerwarteter Art den betreffenden Organismus
schädigen können, und stellt wie sonst eine defensive Reaktion dar; aber sie löst
Zeit« ehr. f. physlk. m. diät. Therapie Bd. XXII. lieft 11. 28
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
412
Goldscheider
Erscheinungen aus, welche man nur als krankhafte bezeichnen kann und welche
für sich der Behandlung bedürfen.
Endlich erheischen die durch die Überempfindlichkeitsreaktion erzeugten ver¬
schiedenartigen Krankheitsvorgänge; nicht zum wenigsten, insoweit sie zu sub¬
jektiven Störungen führen, ganz allgemein die ärztliche Behandlung.
Hierzu kommt, daß die endogenen und exogenen Bedingungen, welche eben
zur krankhaften Überempfindlichkeit geführt hlaben und von denen uns letztere
Kenntnis gibt, Gegenstand der Behandlung bilden müssen.
Hiermit sind die Bichtlinien und Anzeigen für die Behandlung der krankhaften
Überempfindlichkeit gegeben. Es muß im Krankheitsbilde unterschieden werden,
was physiologische Erregbarkeitssteigerung und was bereits krankhafte Über¬
empfindlichkeit ist. Die Übergänge sind fließend. Manches, was einfach physio¬
logische Reaktion auf Reize und Beanspruchungen ist und beim Gesunden ebenso
vorkommt, kann dem vom Gefühle seines Krankseins befangenen Kranken den
Eindruck des pathologischen hervorrufen (Herzklopfen usw.). Nur dort, wo die
Stärke der Reaktion und wo die Krankheitserscheinungen überhaupt auf eine
krankhafte Überempfindlicbkeit hinweisen, soll die Therapie einsetzen. Auch
hier wird oft nur eine psychische Beruhigung erforderlich sein, während man im
übrigen den Erscheinungen freien Lauf läßt. Erst die wirklich exzessive Reaktion
wird zum Eingreifen nötigen. Schon bei 0. Rosenbach findet man hierher ge¬
hörige Bemerkungen: „Die Beeinflussung der abnormen Reizbarkeit ist für die
Therapie von größter Bedeutung.“ Es sei aber „wichtig, die wahre Natur der
Gleichgewichtsstörungen, das Verhältnis von Reiz und Erregbarkeit zu erkennen
und sich nicht durch dip Stärke der Reaktion täuschen zu lassen, d. h. den Exzeß
der Reaktion mit einem Kompensations- bezw. Heilungsvorgang zu identi¬
fizieren“ usw. Man soll „neben der Bekämpfung der Reize, die ja nicht ver¬
nachlässigt werden soll, die Veränderung der Erregbarkeit zum Zielpunkt
der Behandlung machen, selbstverständlich aber erst, wenn die wahre Bedeutung
der Reaktion durch funktionelle Prüfung und genaue anamnestische Daten fest¬
gestellt ist“ 1 )* Die Bekämpfung der Überempfindlichkeit darf daher auch nicht
so weit gehen, daß die natürliche Reaktion gehemmt wird; nur das Übermaß soll
bekämpft werden. Die Überempfindlichkeit nimmt bei den verschiedenen Krank¬
heitsbildern, in denen sie sich findet, eine ungleiche Stellung ein. Bei den
Diathesen, bei der Neurasthenie, bei der Überreizung ist sie die Krankheit selbst;
ihre Behandlung ist gleichbedeutend mit derjenigen der Krankheit. Bei den
Infektionen, wo *sie auf den Werdegang der Erkrankung bestimmend und ge¬
staltend einwirkt, gibt sie uns wichtige Anhaltspunkte für die Diagnose und
Therapie. Bei vielen anderen Erkrankungen bildet sie ein zu behandelndes
Symptom, aber stets ein solches, welches auf das engste mit dem Krankheits¬
vorgang verknüpft ist, denn die Überempfindlichkeit entspricht ja einer über¬
schießenden Reaktion auf die krankmachende Ursache.
Die Behandlung der Überempfindlichkeit stellt somit stets einen wichtigen,
ja führenden Teil der Therapie überhaupt dar. Hierzu kommt nun noch, daß sie
*) Ausgewählte Abhandlungen, herausgegeben von Dr. Walter Guttmann. I. S. 154.
Vgl. auch: „Energotherapeutische Betrachtungen über Morphium“. Deutsche Klinik von
v. Leyden und F. Klemperer. S. 250.
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Über die krankhafte Überempfindlichkeit und ihre Behandlung.
413
sieb oft gerade an die subjektive Seite des Krankheitsbildes, die Krankheits-
empfindung wendet.
Bei der Behandlung der krankhaften Überempfindlichkeit muß man sich
stets gegenwärtig halten, daß diese wie jeder krankhafte Vorgang sich vielfach
von selbst abgleicht, worüber in den vorhergehenden Kapiteln das nötige gesagt
worden ist.
Die Überempfindlichkeit beherrscht oft das Krankheitsbild viel mehr als die
Schwäche und Insuffizienz der Funktionen, mit welcher sie so häufig verbunden
ist, weil die durch jene ausgelösten Erscheinungen sowohl objektiv wie subjektiv
besonders auffallend sind: motorische, vasomotorische, vegetative, sensible Reizungs¬
symptome, Fieber usw. Zuweilen wird der Kranke sich der Funktionsschwäche
erst dadurch bewußt, daß die Insuffizienz sekundär zu Reizungserscheinungen
führt (z. B. bei konstitutionell minderwertigen Organen).
Die Überempfindlichkeit ist aber auch für die ärztliche Diagnose, für die
Beurteilung des Verlaufes und die Wirksamkeit der Behandlung von großer Be¬
deutung, denn sie leitet den Arzt, indem er den Bedingungen der Überempfindlichkeits¬
symptome nachgeht, zur Erkenntnis der Krankheitsvorgänge. Die Behandlung der
Überempfindlichkeit ist daher keine bloß symptomatische, sondern entspricht gleich¬
zeitig der Indicatio causalis und morbi.
A. Kausale Behandlung.
Es sind zu unterscheiden die wirklichen Ursachen und die Gelegenheits¬
ursachen, welche nur die latente Überempfindlichkeit zur Manifestation bringen.
Erstere sind teils endogener, teils exogener Natur. Die endogenen be¬
stehen in der kongenitalen oder erworbenen Minderwertigkeit von Organen oder
Geweben, in Diathesen, Stoffwechselanomalien, Erkrankungen endokriner Drüsen,
Krankheitsresiduen verschiedener Art, konstitutioneller Neurasthenie; die exogenen
in Überreizung, übermäßiger funktioneller Beanspruchung, ungenügender Ruhe,
Infektion bzw. Intoxikation und ihren Folgezuständen, Trauma, psychischen Er¬
regungen.
Nicht selten wirken exogene und endogene Bedingungen zusammen oder
erstere bringen die endogene Überempfindlichkeit als Gelegenheitsursachen zur
Manifestierung.
Die so erzeugte krankhafte Überempfindlichkeit kann örtlich begrenzt oder
allgemeiner verbreitet sein. Im ersteren Fall kann durch Irradiation der
Organismus in größerem Umfange beteiligt werden, andererseits kann eine ver¬
breitete Überempfindlichkeit örtliche Symptome entstehen lassen, worauf schon in
den vorigen Kapiteln hingewiesen worden ist.
Die exogenen Bedingungen sind zum Teil solche, welche sich beseitigen
oder einschränken lassen (übermäßige Beanspruchung, Überreizung, ungenügende
Ruhe), zum Teil solche, welche der unmittelbaren Beeinflussung entzogen sind
(Infektion, Intoxikation, Trauma, psychische Erregungen) und nur mittelbar, nach¬
dem sie bereits wirksam geworden sind, durch zweckmäßige Behandlung behoben
oder gebessert werden können.
Die endogenen Bedingungen sind der Behandlung nur insofern zugänglich,
als unter Umständen die allgemeine Widerstandsfähigkeit oder die einzelner
Digitized by
Go igle
28 *
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
414
Goldscheider
minderwertiger Organe gekräftigt werden kann. Auch fehlt es nicht an Be¬
strebungen, die Überempfindlichkeit als solche umzustimmen (Kalktherapie usw.),
worüber unten näheres zu sagen ist. Ferner können gewisse Krankheitsanlagen
und Konstitutionsanomalien und auf solchen beruhende Organveränderungen der
therapeutischen Beeinflussung unterworfen werden. Endlich kann die Mani-
festierung endogen bedingter Überempfindlichkeiten durch Ausschaltung exogener
Gelegenheitsursachen verhindert oder gehemmt werden.
Endogene Bedingungen zur Entwicklung von Übermüdungstiberempfindlichkeit
können beispielsweise chronische Herzleiden sein; man wird in solchen Fällen
das Herz zu behandeln, zugleich aber das Maß der Tätigkeit und die Lebens¬
führung mit der Leistungsfähigkeit des Herzens in ein richtiges Verhältnis zu bringen
haben. Ähnliches gilt für schwächende Magendarmerkrankungen, Anämie u. a. m.
In näherer Ausführung dieser Gesichtspunkte ist, was die exogenen Be¬
dingungen betrifft, hervorzuhehen, daß die Feststellung und Ausschaltung der¬
selben zu den wichtigsten ärztlichen Maßnahmen auf diesem Gebiete gehört. Im
II. Kapitel wurde das Bild der chronischen Übermüdung geschildert und es wurde
dargelegt, daß dasselbe nicht allein Symptome der Schwäche, sondern auch der
Reizung enthält. Erinnert man sich, daß Übermüdung, Reizhäufung, Mangel an
Ruhe Überempfindlichkeit mit ihren mannigfachen objektiven und subjektiven
Reizungserscheinungen (Hyperästhesie, Neuralgien, Myalgien, Reizsymptomen des
Herzens und anderer Eingeweide usw.) erzeugt, so wird man bei zahlreichen
Krankheitsfällen den wahren Grund der Reizsymptome erkennen und verstehen.
Man wird statt überflüssiger, wirkungsloser und oft die Übermüdung oder Über¬
reizung steigernder und somit das Leiden verschlimmernder Mittel durch Abstellung
der ursächlichen Bedingungen Erfolge erzielen. Die Feststellung der Ursachen
dieser Art erfordert ein genaues Eingehen auf die Lebensweise des Kranken. Die
Erfahrung des Hausarztes kann hier von großer Bedeutung sein. Man wird die
Lebenshaltung zu regulieren haben, auf den Patienten und seine Umgebung be¬
lehrend einzuwirken suchen.
Zuweilen wird der Erfolg einer Badekur zugeschrieben, während in Wirk¬
lichkeit die mit ihr verbundene Ruhe das wesentlich wirksame Moment bildete.
Da unter den ein Bad oder eine Sanatoriumsbehandlung aufsuchenden Kranken
sich nicht wenige befinden, welche allein oder in Verbindung mit irgend einem
Organleiden an Übermüdung leiden, so muß gerade der Bade- und Sanatoriumsarzt
seinen Blick für das Bild der Übermüdung schärfen. Es muß gesagt werden, daß
Mißgriffe hier nicht selten Vorkommen (s. unten).
Das Krankheitsbild der chronischen Ermüdung ist im II. Kapitel gezeichnet
worden. Beachtenswert ist, daß unter dem Einflüsse der Ermüdung latente
Symptome' von Organkrankheiten hervortreten können (s. unten). Der Bade- bzw.
Sanatoriumsaufenthalt muß in solchen Fällen für eine gründliche Ruhekur ausge¬
nutzt werden. Ein Zuviel an geselligen Veranstaltungen, Unterhaltung, Zer¬
streuung, Musik usw. kann hier nur verderben, was die Ruhe schafft.
Häufig beruht die Ursache motorischer, sensibler, vasomotorischer und auch
vegetativer Überempfindlichkeit auf ungenügendem Schlafe, sei es, daß der
Betroffene sich zu wenig Schlaf gönnt oder daß er an Schlafstörungen leidet. In
solchen Fällen genügt es oft, hinreichenden Schlaf herbeizuführen, um die Reizungs-
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSETY OF MICHtGAN
Ober die krankhafte Überempfindlichkeit und ihre Behandlung.
415
Symptome verschwinden zu machen. Da die Überempfindlichkeit ihrerseits wieder
zu Schlaflosigkeit führen kann, so wird durch dieses Verfahren nicht selten ein
Circulus vitiosus durchschlagen. Wir kommen auf diesen Punkt zurück.
Die Behandlung der endogenen Bedingungen umfaßt als wesentlichen Faktor
die Kräftigung der Widerstandsfähigkeit und Leistungsfähigkeit. Es
kommt hierbei außer auf allgemein hygienische Maßnahmen auf Übungsbehand¬
lung an. Ein minderwertiges Herz, durch methodische Übung gekräftigt, wird
bei funktioneller Belastung weniger leicht in den Zustand der Überempfindlichkeit
geraten.
Die Übung umfaßt im weitesten Sinne außer der Erhöhung der Leistungs¬
fähigkeit motorisch oder sekretorisch tätiger Organe auch die Erhöhung der
passiven Widerstandsfähigkeit durch Reizgewöhnung (z. B. Druckreize), die Übung
regulatorischer Mechanismen (z. B. Abhärtung), endlich trophische Vorgänge durch
wiederholte Reize (z. B. Bildung von Bindegewebsschwielen, Erstarkung empfind¬
licher Narben). Die Übungsbehandlung hat den Satz zu berücksichtigen, daß nur
über das gewohnte Maß hinausgehende wiederholte Reize die Leistungsfähigkeit
bzw. Widerstandsfähigkeit wirklich erhöhen. Da andererseits solche Reizungen
sehr leicht die Überempfindlichkeit steigern, so muß die Übungsbehandlung mit
großer Vorsicht ausgeführt werden, um nicht auf die dem Ziel benachbarte
Klippe zu steuern; am besten wird sie ausgeführt, sobald die Überempfindlichkeit
durch den Einfluß der Zeit oder Behandlung in das abklingende Stadium ge¬
langt ist.
Da die Übungsbehandlung zum Teil mit der Methode der Reizanpassung
zusammenfällt, so komme ich später auf dieselbe zurück.
Die Ausschaltung und Vermeidung der exogenen Reize, welche die endogen
bedingte Überempfindlichkeit zum Ausdruck bringen, ist eine selbstverständliche
Forderung. Es handelt sich teils um allgemeine Reize (Körperanstrengungen,
Beanspruchungen verschiedener Art, psychische Erregungen), teils um spezifische
(bei Diathesen, Anaphylaxie), deren besondere Art durch die Vorgeschichte der
Krankheit und die bisher gemachten Beobachtungen zur Kenntnis gelangt ist.
Zur kausalen Therapie gehört auch die Behandlung des etwaigen der Über¬
empfindlichkeit zugrunde liegenden Krankkeitsprozesses, welche ja (ganz abge¬
sehen von der Überempfindlichkeit) der Indicatio morbi entspricht und daher hier
nur gestreift wird (Entzündung, Infektion usw.), sowie diejenige chronischer, eine
Überempfindlicbkeit bedingender Krankheitsreste. Diese Form der Behandlung
fällt zum Teil mit der nunmehr zu besprechenden Behandlung der Überempfindlich¬
keit selbst zusammen, nämlich in den Fällen, wo die Krankheit eben in dieser
besteht (Diathesen usw.).
B. Behandlung der Überempfindlichkeit selbst.
Dieselbe ist teils eine unmittelbare, durch Ruhe, Reizausschaltung,
sedative Mittel u. &. m. die Erregbarkeit herabsetzende, teils eine mittelbare;
letztere sucht durch Hemmungsreize, Ableitung, Reizanpassung die über¬
mäßig gesteigerte Erregbarkeit zu mildern, andererseits durch Kräftigung und
Erhöhung der Widerstandsfähigkeit der Überempfindlichkeit entgegen zu
arbeiten. Die in Anwendung kommenden Methoden sind ebensowohl physika-
Digitized by
Gck igle
Original fröm
UNIVERSITY OF MICHIGAN
1
416
Goldscheider
lische and diätetische wie pharmakologische und psychologische. Die
Behandlang der Überempfindlichkeit selbst läßt sich von der kausalen nicht fiberall
scharf trennen.
1. Behandlung mittels Ruhe und Reizausschaltuug (unmittelbare
Methode).
Die Fernhaltung von Reizen und funktionellen Beanspruchungen in möglichst
weitgehendem Maße rechtfertigt sich schon im Hinblick auf die Entstehung der
Überempfindlichkeit durch Überreizung und mit Rücksicht auf die Erfahrung, daß
dieselbe durch Reize unterhalten bzw. weiter gesteigert wird. Die Ruhebehand¬
lung bezweckt, die Erhaltung und Steigerung der Überempfindlichkeit durch Be¬
schränkung der Reize zu verhindern und dem natürlichen Abklingen derselben
Vorschub zu leisten. Es handelt sich bei der Ruhebehandlung je nach den vor¬
liegenden Umständen um längerdauernde ununterbrochene Ruhe oder um zeit¬
weilige Ruhepausen; außerdem ganz allgemein um Beförderung und Ausdehnung
derjenigen biologischen Ruhepause, welcher die größte Bedeutung für die Aus¬
gleichung und Restitution organischer Dissimilationen zukommt, des Schlafes. Die
Ruhebehandlung zeigt Berührungspunkte mit der kausalen Therapie, denn in
erster Linie müssen diejenigen Reize ferngehalten werden, welche die unmittel¬
barsten Beziehungen zur Überempfindlichkeit besitzen, d. h. sie erzeugt haben.
Die Verhinderung der einzelnen anfallsweisen Manifestierung der Überempfindlich¬
keit oder ihrer anfallsweisen Exazerbation hat nicht bloß für diesen Anfall, sondern
für die zugrunde liegende Überempfindlichkeit überhaupt Bedeutung im Sinne einer
Heilwirkung, weil jeder Anfall eine erhöhte Überempfindlichkeit hinterläßt. Ein
erstes Erfordernis für das Abklingen der Überempfindlichkeit ist, daß die anfalls¬
weisen Steigerungen derselben vermieden oder stark gemildert werden. Jeder
Ischiasanfall steigert die Disposition zu Ischias, indem er eine langdauernde latente
Überempfindlichkeit hinterläßt. Je längere Zeit verstreicht, ohne daß es zu einem
erneuten Ischiasanfall kommt, um so größer wird die Gewähr der endgültigen
Heilung. Dieses Ziel wird neben gründlicher Behandlung des einzelnen Anfalles
durch Fernhaltung der einen Anfall auslösenden Reize erreicht.
Im weiteren Sinne gehört zur Ruhebehandlung die Einschränkung aller
motorischen Leistungen, sensibler, vasomotorischer, vegetativer Reize und endlich
auch die Fernhaltung von seelischen Erregungen, also die Herstellung einer wirk¬
lichen körperlichen und seelischen Ruhe.
Im Schlaf ruht die reflektorische wie die Willenstätigkeit, die sensiblen usw.
Reize sind auf ein Minimum reduziert: „Deshalb sind Schlaf und Ruhe die
wichtigsten therapeutischen Agentien, die einzigen wirklichen Mittel der
Restitution“ 1 ). Der Schlaf bedeutet im Zyklus des Lebens diejenige Periode, in
welcher vorwiegend restitutive Vorgänge ablaufen. Ruhe und Schlaf sind durch
alle jene Mittel, welche für die Behandlung der Schlaflosigkeit zur Anwendung
kommen, eventuell auch durch dreist dosierte pharmakologische Mittel herbeizu¬
führen. Sehr häufig werden die verschiedenartigsten Formen von Überempfind¬
lichkeit schon durch die Beseitigung der Schlafstörung behoben. Es sei dabei
•) O. Rosenbach, Ausgewählte Abhandlungen S. 50. (Energetik und Medizin.)
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Über die krankhafte Überempfindlichkeit und ihre Behandlung.
417
bemerkt, daß ein großer Unterschied zwischen leichtem, oft unterbrochenem und
wirklich tiefem Schlaf besteht. Auf letzteren kommt es ganz besonders an.
Die Wirksamkeit der Ruhebehandlung ist um so größer, je früher sie einsetzt,
weil die Überempfindlichkeit hartnäckiger wird, wenn sie lange Zeit ohne rationelle
Behandlung und unter Zufluß stets erneuerter Reize gleichsam gezüchtet wird.
Sehr beklagenswert ist die therapeutische Vielgeschäftigkeit, welche so oft
bei Fällen von krankhafter Überempfindlichkeit in gänzlicher Verkennung des Zu¬
sammenhanges und der Natur der Beschwerden angewendet wird. Ich könnte
über eine ganze Anzahl von Fällen dieser Art berichten, wo anstatt der einzig
angezeigten Ruhebehandlung der durch chronische Übermüdung überempfindliche
Kranke die ganze Flut physikalischer Behandlungsprozeduren über sich ergehen
lassen mußte. Man verschwende die physikalischen Methoden nicht, um sie nicht
zu diskreditieren! Ein Weniger ist hier oft ein Mehr.
Die körperliche Ruhe ist selbst ein Mittel zum Schlaf, besonders beim Über¬
empfindlichen und Übermüdeten. Sie wirkt nicht allein durch die Fernhaltung
der Reize, sondern auch dadurch, daß sie die. Ermüdungsvorstellung induziert
bzw. steigert. Sie unterstützt somit die psychologische Behandlung (s. unten).
Auch die Ruhebehandlung will individuell angewendet und dosiert sein. Zu
viel Ruhe kann sogar die Überempfindlichkeit steigern, teils auf dem Wege
psychologischer Vorgänge, teils aus körperlichen Ursachen. Gesteigerte Selbst¬
beobachtung, unlustiger Gefühlston infolge zwangsmäßiger Unterdrückung eines
mächtigen Bewegungsdranges, lästige körperliche DruckempfiDdungen, gestörte
Verdauung mit Blähungen usw., das Gefühl der körperlichen Schwäche bei lang¬
dauernder Ruhelage, die Entbehrung von Beschäftigung können die Ruhe in eine
ruhelose Untätigkeit verwandeln. Solche Dinge wollen beobachtet und beachtet
sein. Bei Fettleibigen, Arteriosklerotikern, Tabikern, Greisen kann die zu sehr
ausgedehnte Ruhe geradezu Schädigungen erzeugen, welche den etwaigen Nutzen
für die Überempfindlichkeit mehr als aufwiegen. Auch die abnorm gesteigerte
Ermüdungsempfindung der Neurastheniker, welche den Kranken so oft eine
motorische Schwäche vortäuscht, verlangt neben Ruhe eine methodische Bewegungs¬
behandlung. Man sieht nach Bewegungen zunächst nicht selten eine Steigerung
der Beschwerden, aber schließlich überwiegt der Erfolg der Übung. Überhaupt
ist die Übungsbehandlung bei dem chronischen Ermüdungszustand, in richtiger
und vorsichtiger Weise dosiert, von großer Bedeutung. Der Erfolg ist nicht
allein durch die zweckmäßigere (Wegfall unnötiger Muskelspannungen) und mehr
ökonomische Ausführung der Bewegungen (Zuntz) bedingt, sondern auch durch
eine Anpassung der sensiblen Nerven. Denn die schmerzhaften Ermüdungs¬
empfindungen verschwinden unter dem Einfluß der Übung oft viel schneller als
das Optimum des muskulären Arbeitsbetriebes erreicht ist. Diese Anpassung ist
derjenigen ähnlich, welche wir bei der Gewöhnung der Hautnerven an Druck-
und Temperaturreize wahrnehmen.
Der Muskelerschlaffung bei der Ruhekur kann durch Massage und die zeit¬
weiligen Bewegungsübungen vorgebeugt werden.
Die zeitliche Ausdehnung der Ruhebehandlung bestimmt sich nach dem Er¬
folge für die Überempfindlichkeit. Bleibt derselbe hinter den Erwartungen zurück,
so sind andere Behandlungsmethoden heranzuziehen.
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
418
Goldscheider
Daß die Ruhebehandlung nicht schroff abgesetzt werden darf, sondern all¬
mählich abgebant werden muß, ist selbstverständlich.
Wie schon im n. Kapitel bemerkt, ist nicht immer eine absolnte Rahe nötig;
vielmehr genügt oft schon die Einfügung gewisser Raheperioden wie überhaupt
die Regelang von Rahe and Tätigkeit.
Bei Asthenischen, Überarbeiteten und Übermüdeten reicht oft eine kurze
Ruhebehandlung aus, um Neuralgien, Parästhesien, Kopfschmerz, Herzpalpitationen
usw. za beseitigen. Ich verweise im übrigen auf die Bemerkungen am Schlösse
des IE. Kapitels. Anämische, asthenische, muskelschwache oder mit Enteroptose
behaftete weibliche Personen leiden häufig an Rücken- und anderen Schmerzen,
welche lediglich durch längeres Stehen bedingt sind; hier genügt oft schon eine
mehrfache Ruhelage am Tage, um die Beschwerden zu beseitigen. Auch die An¬
legung einer Bandage bei Enteroptose, welche so oft die Bedingung von viszeraler
Überempfindlichkeit bildet, gehört hierher (Reizausschaltung).
2. Behandlung mit Reizen (mittelbare Methode).
Daß man die Überempfindlichkeit überhaupt mit Reizen behandeln soll,
scheint dem vorher Gesagten zu widersprecheif. Es ist aber bekannt, daß
Reizen unter gewissen Umständen auch eine beruhigende Wirkung zukommt. Es
handelt sich um verschiedene Wege, auf denen dieser Erfolg erreicht wird, näm¬
lich in der Hauptsache.einmal um Hemmungen bzw. Ableitungen und anderer¬
seits um Reizanpassung (Gewöhnung).
a) Hemmungswirkung.
Die Bedeutung der Hemmung geht schon aus der physiologischen Erfahrung
hervor, daß nach partiellen Durchschneidungen des Rückenmarks unterhalb der
Verletzung Hyperästhesie auftritt, welche sehr wahrscheinlich auf die Ausschaltung
hemmender bzw. überhaupt beeinflussender Erregungen zurückzuführen ist. Die
gleiche Tatsache ist klinisch von der Brown-Sequardschen Lähmung her be¬
kannt (das Experiment rührt gleichfalls von Brown-S6quard her). Reize
können ebensowohl bahnende wie hemmende Wirkungen entfalten. Ob es spezi¬
fische Hemmungsbahnen gibt, ist sehr zweifelhaft; wie es scheint, können Reize
jeder Art und von jeder Nervenbahn aus Hemmungswirkungen entfalten.
Das Wesen der Hemmung ist noch nicht hinreichend erklärt. Eine Form
derselben dürfte darin bestehen, daß durch den hinzukommenden Reiz die
Leitungswiderstände in kollateralen Nervenbahnen herabgesetzt werden, was zur
Folge hat, daß der Zustand gesteigerter Erregbarkeit in diese abfließt. Dieser
Vorgang muß den bei Schmerz und Hyperalgesie zu beobachtenden Erscheinungen
zugrunde liegen. Ein Schmerzreiz, z. B. die zu derartigen Versuchen von mir
verwendete Hautklemme, erzeugt eine irradiierende Hyperalgesie. Ja selbst ein
taktiler Reiz läßt eine hyperästhesierende Wirkung auf einen gewissen Umkreis er¬
kennen. Diese Erscheinungen können nur so erklärt werden, daß die Erregung
der nervösen Leitungsbahn nicht bloß gradlinig zum Zentrum fortschreitet, sondern
im Netz der grauen Substanz des Rückenmarks sich ausbreitend benachbarte
Neurone in Miterregung versetzt. In dieser wird zugleich die Reizschwelle herab¬
gesetzt, denn peripherische Reize, welche in dem Bereich der Irradiation an¬
greifen, werden abnorm stark bzw. schmerzhaft empfunden. Der Reiz lockert
Digitized
Google
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Über die krankhafte Überempfindlichkeit and ihre Behandlung.
419
somit die Leitungswiderstände benachbarter Neurone und setzt die „Neuron¬
schwellenwerte“ herab.
Diese Verbreiterung des Strombettes hat offenbar eine regulierende Bedeu¬
tung, indem durch die Verteilung der Erregung auf eine größere Zahl von
Leitungsbahnen das Abklingen der erhöhten Erregbarkeit erleichtert wird. Be¬
steht nun irgendwo ein Herd gesteigerter Erregbarkeit, so werden künstliche in
der Nachbarschaft gesetzte Beizungen zur Folge haben, daß um sie herum die
interneuronalen Widerstände noch mehr herabgesetzt werden als es bereits durch
den primären übererregten Herd geschah, und das somit das Abfließen der in
demselben angehäuften Erregung noch mehr befördert wird. Die Reize wirken
gleichsam durch „Bahnung“ entlastend und abgleichend auf die überempfindliche
Stelle. Diese Form der Hemmung ist somit im wahren Sinne des Wortes eine
„Ableitung“. ,
Der durch die Hautklemme bedingte Schmerz kann durch Hautreize ver¬
schiedener Art verdunkelt werden und zwar um so mehr, je näher an der Klemme
dieselben einwirken. Am stärksten tritt diese Wirkung hervor, wenn die Reize
im hyperalgetischen Gebiet selbst angebracht werden und bei proximaler Appli¬
kation mehr als bei distaler. Daß es sich nicht bloß um psychische Einwirkungen
handelt, geht daraus hervor, daß eben die nachbarschaftlichen Verhältnisse eine
so wichtige Rolle spielen.
Die von mir gegebene Erklärung der Hemmungen soll nicht etwa die ge¬
samten Hemmungserscheinungen erschöpfen. Wahrscheinlich kommen noch andere
Vorgänge wie etwa der Verbrauch von chemischen Spannkräften, welche nunmehr
der Fortleitung des primären Reizes entzogen werden, u. a. m. in Betracht.
Die durch den Schmerzreiz erzeugte Hypästhesie für Berührungen, welche
gleichzeitig mit der Hyperalgesie besteht, ist gleichfalls auf Hemmung zu beziehen 1 ).
b) Reizanpassung.
Schon im I. Kapitel wurde am Schluß darauf hingewiesen, daß die Reiz¬
anpassung auch bei der krankhaften Überempfindlichkeit insofern eine Rolle spielt,
als eine Anpassung an schwächere Reize stattfindet, deren Wirkung sich darin
zeigt, daß die Überempfindlichkeit durch häufige Einwirkung schwacher Reizungen
gemildert werden kann. Die Reizanpassung liegt der bekannten Tatsache der
Reizgewöhnung zugrunde, über welche im I. Kapitel ausführlicher gesprochen
worden ist (S. 138 ff.). Ich wiederhole, was ich dort (S. 147) gesagt habe:
„Wirken Reize, welche unter der Schwelle der hochempfindlichen Rezeptoren
liegen, oft wiederholt ein, so werden sich reizangepaßte Atomgruppen bilden,
deren Zerfall nicht jene hohe Wirkung hervorbringt wie derjenige der krankhaften
Reizmassen. Es ist wohl denkbar, daß die Bildung dieser schwächeren Rezeptoren
sich auf Kosten der krankhaften hochempfindlichen vollzieht.“ Die Wirkung der
Massage, der Bewegungen, der Elektrizität usw. auf Neuralgien, Myalgien und
andere schmerzhafte Zustände erklärt sich zum Teil in dieser Weise. Es
werden durch zweckmäßig abgestufte und regelmäßig wiederholte Reize wahr-
') Vgl. im Übrigen meine Arbeit „Über Schmerz and Schmerzbebandlung“, Ztschr. f. phys.
u. diät. Ther. 1915, Bd. 19, and die dort gemachten Ausführungen über Hemmungs-, Ableitungs¬
and Anpassangsbehandlang des Schmerzes.
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
420
Goldscheider
scheinlich hyperalgetische Atomgruppen abgebaut und reizangepaßte von normaler
Erregbarkeit gebildet. Nach allgemeinen Erfahrungen über Anpassung sind wir
durchaus berechtigt, einen solchen Vorgang anznnehmen.
Bei der ßewegungsbehandlung der Ischias und der Arthritiden (z. B. Omar¬
thritis) kommt noch etwas weiteres in Betracht. Der gegen Dehnungen empfind¬
liche Nerv, die schmerzhaft kontrakturierten Muskeln, das gegen Lageverschiebungen
empfindliche Gelenk paßt sich durch die wiederholten passiven Bewegungen an
die mit denselben verbundenen Reizungen an. Es hat dies neben der vorher
erwähnten Wirkung noch die, daß, wenn der Patient in der Folge solche Be¬
wegungen spontan ausführt, dieselben nicht mehr wie vordem heftige Schmerz¬
reaktionen auslösen, welche die Überempfindlichkeit steigern. Es werden also
mit einem Wort die Gelegenheiten zur Auslösung von Überempfindlichkeitsreaktionen
verringert. t
Auch die Lösung von schmerzhaften Verklebungen und Verwachsungen spielt
sicherlich hier und da eine Rolle.
Endlich ist an die hyperämisierende und dadurch die Heilung anregende
Wirkung der Reize zu denken, welche sicherlich von großer Bedeutung ist.
In dieser verschiedenen Weise dürfte sich die Wirkung peripherischer Reiz¬
behandlung mittels Massage, Elektrizität, thermischer Reize, Bewegungen usw.
auf gewisse Formen der Überempfindlichkeit erklären, wobei nicht zu verkennen
ist, daß psychische Beeinflussungen mehr oder weniger ausgesprochen mitspielen.
Da die Reize auch verschlimmernd wirken können (s. oben), so ist eine sorg¬
fältige Dosierung erforderlich. Man muß mit schwächsten Reizen beginnen,
tastend Vorgehen, die jedesmalige Reaktion abklingeu lassen, ehe man die Pro¬
zedur wiederholt und die Reizbehandlung mit einer ausgiebigen Ruhebehandlung
vereinigen. Gegen die letztere Forderung wird nicht selten gefehlt. Der Erfolg
der Reizbehandlung kann nicht allein in Frage gestellt, sondern in das Gegen¬
teil verkehrt werden, wenn dem Patienten nicht nebenher ruhiges Verhalten ver¬
ordnet wird, bzw. wenn er ein solches nicht beobachtet. Oft genügt es schon,
daß der Kranke unmittelbar nach der Reizanwendung einen längeren Weg nach
seiner Wohnung zurücklegen muß, um die Behandlung mißlingen zu lassen.
In das Gebiet der Reizgewöhnung gehört auch das Verfahren, der Anaphy¬
laxie durch die Applikation sehr kleiner Mengen des Antigens vorzubeugen.
Die Reizbehandlung wird teils als örtliche, teils als allgemeine aus¬
geführt. Eine besondere Wirkung der letzteren besteht darin, daß sie Ermü¬
dung erzeugt und demzufolge zur Ruhe überleitet. Es kommt oft genug vor, daß
sie besser als ein Sedativum schlafmachend wirkt oder wenigstens einen wohl¬
tätigen Ruhe- und .Erschlaffungszustand bedingt .(Massage, Bäder, Abwaschungen,
Bewegungsübungen, Elektrizität usw.). Aber auch das umgekehrte kann sich
ereignen: Erregung, Schlaflosigkeit. Diese Zwiespältigkeit des Erfolges kann
nicht wnndernehmen, wenn man sich vergegenwärtigt, was im II. Kapitel über
Reiz- und Ermüdungswirkung gesagt worden ist. Man wird in jedem Falle die
Wirkung erproben müssen.
Die beruhigende Wirkung der allgemeinen Reizbehandlung kann günstig auf
eine örtliche Überempfindlichkeit einwirken, welche auf den ganzen Organismus
ihre Wellen ausbreitet und andererseits wieder durch Beruhigung des ganzen
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Über die krankhafte Überempfindlichkeit und ihre Behandlung.
421
Organismus beeinflußt wird. Bei nenropathiscben, asthenischen, anämischen, ent¬
kräfteten Personen ist die ErmüdnngsWirkung eines einfachen warmen Bades oder
eines 0- oder C0 2 -Bades oder einer Massage nsw. zuweilen eine hervorragende.
Andererseits begegnen wir gerade bei Neuropathen und Übermüdeten überraschenden
Erregungs Wirkungen.
* *
*
Die Reizbehandlung umfaßt die physikalische Therapie, über welche
jedoch noch einiges besondere zu sagen ist.
So kommt der Massage eine hervorragende Bedeutung für die Behandlung
gewisser Überempfindlichkeiten der Muskeln und Nerven zu. Bei Übermüdung
dürfte dieselbe nicht bloß als Reizung, sondern auch dadurch wirken, daß Er-
müdungs- und Reizstoffe aus den Muskeln mechanisch entfernt werden. Die
Corneliussche Punktmassage wirkt durch Hemmung und Ableitung.
E. Weber 1 ) hat, um Übermüdung vorzubeugen, einen gewissen Bewegungs¬
wechsel empfehlen. Bei Ermüdung einer Muskelgruppe tritt die sog. Umkehrung
der Gefäßreaktioü, d. h. eine Verengerung der Blutgefäße ein, wobei begreif¬
licherweise die betreffende Muskulatur unter sehr unvorteilhaften Bedingungen
arbeitet. Läßt man nun eine andere noch frische Muskelgruppe arbeiten, so er¬
weitern sich, da jede lokalisierte Muskeltätigkeit zu einer Gefäßerweiterung in
den übrigen Muskeln führt, in der ermüdeten Muskelgruppe die verengten Gefäße,
was eine schnellere Ausspülung der dort aufgespeicherten Ermüdungsstoffe und
Zufuhr von Sauerstoff zur Folge hat. Dies sinnreiche Verfahren hat sich praktisch
bewährt.
Der Wärme kommt eine besonders beruhigende Wirkung zu; nicht immer
in gleicher Art der Hitze, welche durch Reizung sensibler Nerven ein stärker
erregendes Moment besitzt. Es wird oft in der Praxis nicht hinreichend zwischen
Wärme und Hitze unterschieden. Insonderheit werden Reizzustände, welche mit
krampfhaften Zusammenziehungen von glatter oder quergestreifter Muskulatur ver¬
bunden sind, durch die lösende und erschlaffende Wirkung der Wärme günstig
beeinflußt (Hemmung). Bei manchen Reizzuständen jedoch wirkt Wärme erregend
bzw. erregungssteigernd (z. B. bei einfach sensiblen Erregungen). Andererseits
kann Hitze beruhigend wirken (wohl durch gleichzeitige Hemmung mittels sensibler
Erregung). Es dürfte zu weit führen, auf die theoretischen Erklärungsmöglich¬
keiten dieser Wirkungsdifferenzen näher einzugehen.
Kühle bzw. Kälte wirken beruhigend (hemmend) auf nervöse Reizzustände
und auf solche, welche mit Gefäßerweiterung verbunden sind. Höheren Kältegraden
kommt wie der Hitze eine erregende Wirkung auf sensible Nerven zu, weshalb
Kühle und größere Kälte nicht als gleichartige therapeutische Faktoren anzu¬
sehen sind.
Sehr lehrreich für das Verständnis der Kälteeinwirkung sind auch hier wieder
die Feststellungen E. Webers. Bei Erschöpfung oder Überreizung der Gefä߬
zentren im Gehirn tritt allgemein die „Umkehrung“ der Gefäßreaktion bei Muskel¬
arbeit ein; durch Kältereize wird dieselbe nun in die normale Reaktion verwandelt.
J ) Über eine neue Untersuchnngsmethode bei Herzkranken. 1916. Als Sonderabdruck
aus der Ztscbr. f. exper. Path. u. Ther. erschienen.
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
422
Goldscheider
Von Interesse ist auch der Nachweis, daß eine örtliche Hitzeapplikation, z. B. die
Heißluftbehandlung eines Arms, eine allgemein verbreitete Umkehrung der Gefä߬
reaktion bei Muskelarbeit (z. B. am arbeitenden Fuß) zur Folge hat, welche durch
Eälteanwendung an dem arbeitenden Teil gleichfalls in die normale Reaktion
(Gefäßerweiterung) zurückverwandelt wird 1 ).
Kälte und Wärme wirken auch auf die gewebliche Überempfindlichkeit, erstere
auf dem Wege der Anästhesierung und durch Gefäßkontraktion 2 ), letztere durch
Herabsetzung des Reizzustandes und Gefäßerweiterung (Hyperämiebehandlung).
Auch der Arsonvalisation und Diathermie dürfte ein Einfluß auf die gewebliche
Überempfindlichkeit zukommen, nicht bloß auf die nervöse. Vielleicht ist auch
die Lichtbehandlung in ihren verschiedenen Anwendungsformen in diesem Zu¬
sammenhänge zu nennen.
Die Einwirkung der Bierschen Hyperämiebehandlung auf die Über¬
empfindlichkeit geht schon aus ihrer schmerzlindernden Wirkung hervor. Diese
Behandlungsmethode befördert die Bedingungen der natürlichen Abwehrreaktion
und setzt die schädigenden Einflüsse der krankmachenden Ursache herab (bessere
Durchblutung, Abschwächung der Mikroorganismen, Beförderung der Resorption,
der fermentativen lösenden und der Ernährungsvorgänge). Erinnern wir uns, daß
die Überempfindlichkeit durch die stärkere Zersetzung und Schädigung der Zellen
gesteigert wird, so können wir verstehen, daß die Unterstützung der durch die
natürliche Abwehrreaktion ausgelösten Vorgänge gerade die schädliche Über¬
spannung derselben hemmen wird.
Da Sauerstoffarmut erregend wirkt und andererseits die Sauerstofizufuhr für
die Vorgänge der Assimilation und Restitution die wesentlichste Bedingung bildet,
so werden alle Maßnahmen, welche zu einer möglichst guten Sauerstoffversorgung
der Gewebe führen, auch für die Behandlung der Überempfindlichkeit Bedeutung
haben. Hierher gehört vor allem die Atemgymnastik, deren Wichtigkeit auch
im übrigen zu steigender Anerkennung gelangt.
Ein Teil der erwähnten Mittel trifft die endogenen Bedingungen der Über¬
empfindlichkeit, ist also als gleichzeitig kausal wirkend zu bezeichnen.
Der beruhigende Einfluß kühlender partieller oder allgemeiner Luftbäder auf
Reizzustände der Hautnerven (Parästhesien, Pruritus) wie auf allgemeine nervö>«
Überempfindlichkeit, so auch als Schlafmittel, ist bekannt. Nicht minder wirksam
sind bei diesen und ähnlichen Zuständen kühle Teil- und Ganzwaschungen, Güsse,
Packungen, während die Dusche schon übermäßige Reizwirkungen entfalten kann.
Auch klimatische Faktoren sind nicht bedeutungslos. Höhenluft kann
durch verminderte Sauerstoffspannung und erhöhte Reizung durch Licht, Tempe-
ratQrschwankungen usw. Überempfindlichkeit steigern. Ähnliches sieht man zu¬
weilen vom Seeklima.
Die physikalische Therapie findet ferner ihre Betätigung bei der Behand¬
lung des der Überempfindlicbkeit zugrunde liegenden Krankheitsprozesses oder
‘) Med. Klin. 1915. Nr. 22.
2 ) Bezüglich der Kälte ist zn erwägen, daß durch die Anwendung derselben nicht bloß
die Übermäßige, sondern die Abwehrreaktion Überhaupt gehemmt werden kann. Mit Recht weist
Bier auf diese Folge des „antiphlogistischen“ Verfahrens hin („Hyperämie als Heilmittel.“
6. Aufl. S. 156).
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ober die krankhafte Überempfindlichkeit und ihre Behandlung.
423
der Residuen von solchen, worüber Ausführungen zu machen hier zu weit führen
würde.
Die Bewegungsbehandlung kommt für die Überempfindlichkeit nach ver¬
schiedenen Richtungen bin in Betracht. So bewirkt die Muskeltätigkeit besonders
bei Personen, welche eine vorwiegend geistige Betätigung auszuüben gewohnt
sind, eine wohltätige Ermüdung, welche auch auf die geistigen Prozesse einen
Einfluß ausübt. Der Schlaf wird vertieft, die übertriebene geistige Anspannung
läßt nach; die Nervenfunktionen werden dem wohltuenden Wechsel von natürlicher,
physiologisch herbeigeführter Ruhe und Tätigkeit unterworfen. Erhöhte Spannungen
im Nervensystem werden dadurch abgeglichen. Hierzu kommt der günstige Ein¬
fluß gehobener Stimmung auf bestehende Überempfindlichkeiten.
Ferner ist auf die Kräftigung der Funktion des Herzens und der Blut¬
gefäße durch Bewegungen hinzuweisen. Die Tätigkeit der Gefäße, vor allem der
Arterien ist für die Blutbewegung von erheblicher Bedeutung; die Innervation der
einzelnen Gefäßgebiete besitzt eine weitgehende Selbständigkeit. Diese Gefä߬
funktion wird außer durch Temperaturreize durch sensible und psychische Reize,
vor allem aber durch Bewegung ausgelöst und geübt. Das gleiche gilt für das
Herz und für die Atmung.
Die Übung hat zur Folge, daß Ermüdung weniger leicht eintritt und daß
die Bewegungen mit einem geringeren Aufwand an Impuls und somit an Herzkraft
ausgeführt werden, wie ja auch der Blutdruck weniger bzw. überhaupt nicht an¬
steigt. Eine Folge der erhöhten Anpassung des Herzens — sei es des gesunden,
sei es des kranken — ist ferner, daß die Erregbarkeitsschwankungen desselben
sich vermindern, die „Labilität“ abuimmt. Die Einwirkung der willkürlichen Be¬
wegungen auf das Herz kommt zum Teil auf dem Wege der Atmung zustande.
Die Atmungsgymnastik soll aber auch zu diesem Zwecke noch besonders gepflegt
werden. Letztere hat zudem auf gewisse Reizzustände und Blutstauungen (sowie
Lympbstauungen) in der Bauch- und Beckenhöhle und demgemäß mittelbar auf
die hiermit in Zusammenhang stehenden Überempfindlichkeiten einen wohltätigen
Einfluß.
3. Diätetische Behandlung (kausal wie unmittelbar wirkend).
Bei Zuständen von nervöser Überempfindlichkeit empfiehlt sich ganz allge¬
mein eine reizarme (gewürz- und purinarme) Diät. Insonderheit kommt eine
blande Diät bei den durch uratische Diathese bzw. Gicht bedingten Formen der
Überempfindlichkeit in Frage. Stoffwechselanomalien überhaupt müssen, wo sie
als Ursache von Überempfindlichkeit erscheinen, diätetisch behandelt werden.
Auch bei thyreotoxischer Erkrankung und den vagotonischen Formen empfiehlt sich
eine laktovegetabilische Diät 1 ). Ferner erfordern Überempfindlichkeiten des Magen¬
darmkanals eine dem Fall angepaßte Schonungsdiät (schlackenarm, kleine Einzel¬
mengen, sorgfältiges Kauen usw.). Diathesen benötigen bestimmter Diätformen,
welche der nicht verträglichen Nahrungsstoffe entbehren. Die Konstitution ist zu
berücksichtigen; plethorische Beschaffenheit erfordert knappe, asthenisch-anämische
') Ich habe bei zwei sehr hartnäckigen Fällen von Urtikaria Heilung nach streng durch¬
geführter lakto-vegetabiler Diät und Salzentziehung gesehen; Dr. Susanne Rosenfeld berichtet
über einen entsprechenden Erfolg bei Quinckeschein ödem (Ther. d. Gegenwart. 1917).
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSETY OF MICHIGAN
424
Goldscheider
sowie Unterernährung reichliche Nahrungszufuhr. Alkohol kann ebensowohl reizend
wie beruhigend wirken und muß individuell verwendet werden. Dasselbe gilt von
Kaffee und Tee.
4. Pharmakologische Behandlung (vorwiegend unmittelbar wirkend).
Dieselbe betrifft, wie auch die Ruhe- und die Reizbehandlung, vorwiegend
die nervöse, weniger die gewebliche Überempfindlichkeit unmittelbar. Auf den
Unterschied und die Zusammenhänge dieser beiden Foimen ist in den vorigen
Kapiteln, so am Anfang des IH. Kapitels, mehrfach hingewiesen worden. Die
gewebliche Überempfindlichkeit erzeugt häufig (so besonders bei Entzündungen
und Entzündungsresten) eine nervöse, mittels deren fortgeleitete Wirkungen atif
weitere Gebiete des Organismus zustande kommen. Auf diese Irradiationen wurde
in den vorigen Kapiteln mehrfach hingewiesen. Bei Infektionen entstehen außer¬
dem häufig neurotrope Gifte, welche das Hinzutreten nervöser Überempfindlichkeit
zur geweblichen erklären. Andererseits spielen die zentripetalen und vasomoto¬
rischen Nerven eine wichtige Rolle bei der Regulierung geweblicher Reaktionen
und Überreaktionen. Die Entzündung gefäßhaltiger Gewebe ist mit einem vaso¬
motorischen Reizzustand verbunden, an welchem die Gefäßnerven beteiligt sind
(s. unten). Die Rückwirkung anästhesierender Mittel auf den geweblichen Reiz¬
zustand durch Vermittlung der Gefäße wird unten erörtert werden.
Die Irradiation vasomotorischer Vorgänge ist schon bei Hautreizen erkenn¬
bar; bei vasomotorisch Überempfindlichen zeigt sie sehr bedeutende Grade. Auf
die weite Verbreitung künstlich erzeugter Hyperämie in die Tiefe weist Bier
hin. Klapp fand, daß sie sich beim Kaninchen sogar bis auf die Eingeweide
fortpfianzt: brachte er den Bauch eines Kaninchens in einen Heißluftapparat,
setzte ihn längere Zeit einer sehr starken Hitze aus und eröffnete dann sehr
schnell dem lebenden aus dem Kasten entnommenen Tiere die Bauchhöhle, so
fand er regelmäßig eine Hyperämie der ganzen Bauchwand, der Serosa, des Darms
und des Centrum tendineum des Zwerchfells 1 ).
Einen unmittelbaren Einfluß auf die gewebliche Überempfindlichkeit dürfte
das Kalzium besitzen. Die Reizbarkeit der tierischen Gewebe ist von der Gegen¬
wart von Na-, K-, Ca- und vielleicht Mg-Ionen in bestimmten Verhältnissen 2 ) ab¬
hängig. Ganz besonders scheint nach Loeb dem Kalzium eine Bedeutung für die
Reizbai'keit zuzukommen. Von einer Reihe von Autoren ist bestätigt worden,
daß die Entziehung <Jps Kalks steigernd auf die Erregbarkeit der Nerven und
Muskeln, die Zufuhr desselben herabsetzend einwirkt. Bei Vergiftung mit kalk¬
fällenden bzw. kalkausschwemmenden Substanzen (z. B. Oxalsäure) tritt ge¬
steigerte Nervenerregbarkeit auf. Nach der Entfernung der Nebenschilddrüse
nimmt die Kalkmenge des Blutes und des Gehirns ab, die auftretende Tetanie
kann durch Kalkbehandlung bekämpft werden (Mac Callum und Voegtlin).
Bei Spasmophilie und Tetanie der Kinder, bei der Tetanie der Erwachsenen er¬
gibt die Kalkbehandlung befriedigende Resultate (Hans Curschmann u. a.).
Kalzium entfaltet ferner eine Hemmungswirkung gegenüber exsudation¬
erzeugenden Reizen. Chiari und Jannuschke zeigten, daß seröse Pleura-Ex-
! ) Bier, Hyperämie als Heilmittel. 6. Aufl. S. 22. Klapp, M. m. W. 1900. Nr. 23.
*) Loeb, Vorlesungen über Dynamik der Lebenserscheinungen 1916.
Digitized by
Gck igle
Original fro-rn
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Über die krankhafte Überempfindlichkeit und ihre Behandlung.
425
sudationen, welche man bei Tieren durch Thiosinamin und andere Gifte hervor-
rufen kann, durch Kalzium gehemmt werden. Dasselbe gilt für konjunktivitis-
erzeugende Reizungen. Kalk hat somit eine entzündungswidrige Wirkung (Ab¬
dichtung der Gefäßwände?).
Wright zeigte, daß die Entstehung von Urticaria nach Injektionen von
Tetanus- und Diphtherieserum und der lokalen Ödeme, welche nach subkutanen In¬
jektionen von abgetöteten Typhus-Kulturen auftreten, beim Menschen durch Kalzium¬
chlorid gehemmt wird. Anaphylaktische Hautsymptome (nach Serum-Injektion oder
infolge von Idiosynkrasie gegen gewisse Nahrungsmittel) wie auch gewöhnliche
Urticaria werden durch Kalk günstig beeinflußt. Bei Jodschnupfen wirkt Kalk
sekretionsbeschränkend. Gegen Heuschnupfen bewährt er sich, falls einige Monate
lang vor dem Ausbruch desselben prophylaktisch verabreicht (Emmerich und
Loew). Auch bei gewissen Fällen von Asthma bronchiale wird eine günstige
Wirkung beobachtet. Ferner scheint eine solche bei orthostatischer Albuminurie
vorzukommen*).
Bei Überempfindlichkeiten, welche auf Funktionsanomalien endokriner Drüsen
beruhen, kommt die Substitutionstherapie in Betracht. Auch sonst dürfte der
Hormonanwendung das Gebiet der geweblichen und nervösen Überempfindlichkeit
offen stehen (Adrenalin, Hypophysin bei Vagotonie usw.).
Auf die Heilserum- und Vakzinebehandlung bei Infektionskrankheiten ist hier
nicht näher einzugehen.
Die Ermüdungsstoffe setzen die Empfindlichkeit des Gewebes herab.
Wie Weicbardt gezeigt hat, löst Kenotoxin einerseits die Bildung von Anti¬
kenotoxin aus, so daß man bei zweckmäßiger Darreichung von Kenotoxin gegen
Ermüdung immunisieren, also die Leistungsfähigkeit erhöhen kann; andererseits
wirken größere Dosen von Kenotoxin narkotisierend und schützen nach Weichardt
geradezu gegen Anaphylaxie. Vielleicht gelingt es, diese Beziehung therapeutisch
auszunutzen.
Die moderne Chemotherapie wird uns voraussichtlich mit weiteren proto¬
plasmalähmenden, gegen gewebliche Überempfindlichkeit gerichteten Mitteln be¬
kannt machen (Methylenblau, Farbstoffe usw.).
Von großem Interesse ist in diesem Zusammenhang, daß, wie Besredka
experimentell fänd, die tiefe Äthernarkose den tödlichen Ausgang des anaphylak¬
tischen Anfalls — durch Narkose der Zelltätigkeit — zu verhindern vermochte.
Was die nervöse Überempfindlichkeit betrifft, so wurde die Verwendung
narkotischer Stoffe zur Behandlung der Überempfindlichkeit bekanntlich von
0. Rosenbach mit großer Wärme empfohlen. Dieser gedankenreiche Kliniker
führt aus, daß durch Morphium die „außerwesentliche Arbeit“ herabgesetzt und
dadurch Energie gespart wird. Wie der Schlaf für Rosenbach „nicht eine
Periode der absoluten Ruhe, sondern nur der Ruhe von außerwesentlicher
Arbeit repräsentiert“ und daher „die Periode der stärksten wesentlichen
(inneren) Arbeit und somit das mächtigste Tonikum für den Betrieb“ ist, so ist
auch Morphium ein Tonikum, denn „die bisher bei der Bildung und Abgabe hoch-
*) Vgl. Übrigens den lesenswerten Vortrag von Hans Curscbmann, „Über Grundlagen
und Indikationen der Kalziumtherapie“. Sitzungsbericht der Naturforschenden Gesellschaft zu
Rostock. Neue Folge. VII. 1917.
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSETY OF MICHIGAN
426
Goldscheider
gespannter Energie für außerwesentliche Betätigung der Organe verbrauchte
lebendige Energie kommt dem inneren Betriebe, der Erhaltung der Spannungen
und der Bildung der Vorräte von parater Energie zugute“ usw. Es sind etwas
andere Gedankengänge wie die unsrigen, welche Rosenbach leiten und zu deren
Erfassung wir auf das ganze etwas komplizierte System des Autors eingehen
müßten, aber die Schlußfolgerungen sind sehr ähnlich denen, zu welchen wir,
von der Überempfindlichkeit ausgehend, gelangen. So sagt Rosenbach: „Morphium
und narkotische Mittel scheinen also a priori nnter gewissen Verhältnissen indiziert,
nämlich bei Kranken, die auf einen starken physischen oder psychischen Reiz hin
oder wegen einer besonderen Steigerung der Erregbarkeit mit dem Aufge¬
bot aller ihrer Mittel arbeiten (Exzeß der Reaktion). Hier ist vor allem eine
Hemmung für die außerwesentliche, aber zwecklose Betätigung angebracht, und
deshalb ist zu erwarten, daß durch Narkotika wieder eine richtige Regulierung
der Bestrebungen zur Herstellung des Gleichgewichts, eine andere Verteilung der
Arbeit angebahnt wird“ (S. 240). „Die therapeutische Anwendung von Morphium
kann und soll zwei Zwecke erfüllen: Einmal das Übermaß der außerwesentlichen
Empfindung und der willkürlichen oder automatischen motorischen Reaktion aus¬
schalten, das von abnorm gesteigerter Erregbarkeit in der Sphäre der Vorstellung
oder in gewissen kortikalen oder subkortikalen Zentren und Nervenbahnen, respek¬
tive von abnorm großer Stärke der außerwesentlichen Reize herrührt. Zweitens
soll es die besondere Erregbarkeit der protoplasmatischen Apparate, die von einer
Veränderung der inneren Arbeit ausgeht, so beeinflussen, daß die wesentliche
Arbeit in ihrem diastolischen Teile verstärkt wird“ (S. 263).
So empfiehlt Rosenbach das Morphium u. a. beim akut kongestiven
Lungenödem (Pneumonie, Schrumpfniere, Koronarsklerose).
•G. Spieß hat in mehreren wichtigen Arbeiten auf die Bedeutung der
Anästhesie in der Behandlung der Entzündung hingewiesen 1 ). Er erblickt
in der Schmerzhemmung das wesentliche Moment. „Eine Entzündung wird nicht
zum Ausbruch kommen, wenn es gelingt, durch Anästhesierung die vom Ent¬
zündungsherd ausgehenden, in den zentripetalen sensiblen Nerven verlaufenden
Reflexe auszuschalten. Eine schon bestehende Entzündung wird durch Anästhe¬
sierung des Entzündungsherdes rasch der Heilung entgegengeführt. Die Anästhe¬
sierung hat allein die sensiblen Nerven zu beeinflussen und darf das normale
Spiel der sympathischen Nerven (Vasomotoren) nicht stören.“ Verfasser bezieht
sich hierbei auf die bekannten Versuche Samuhls am Kaninchenohr, nach welchen
die Entzündung nach Verbrühung ausbleibt, wenn die sensiblen Nerven durch¬
schnitten sind, während die Durchschneidung der sympathischen Fasern die Ent¬
zündung steigert.
Spieß stüzt seine Lehre auf seine Erfahrungen über die günstige Ein¬
wirkung der lokal anästhesierenden Behandlung auf die Verhinderung bzw.
Milderung von Schleimhautentzündungen der Mund- und Rachenhöhle und der
oberen Luftwege.
Rosenbach stimmte den Ausführungen von Spieß zu, dessen Arbeit er als
eine Bestätigung seiner eigenen vieljährigen' praktischen Erfahrungen über die
>) Archiv f. Laryng. 1902. S. 56. — M. m. W. 1902. Nr. 39. — M. m. W. 1906. Nr. 8. —
Arch. f. Laryng. Bd. 21.
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Über die krankhafte Überempfindlfehkeit nnd ihre Behandlung.
427
günstige Wirkung narkotischer bzw. anästhesierender Mittel bei entzündlichen
nnd anderen Prozessen bezeichnete. Aber er bringt zum Ausdruck, daß nicht die
Beseitigung des Schmerzes die Hauptsache sei, sondern die Reduktion der ab¬
normen Erregbarkeit der entzündeten Teile. Rosenbach will die lokale
Übererregbarkeit beseitigen 1 ).
Die Spieß sehe Behandlungsmethode ist tatsächlich wirksam. Ich möchte
ihre Wirkung gleichfalls wie Rosenbach durch die depressorische Beeinflussung
der Überempfindlichkeit erklären. ‘In einer sehr bemerkenswerten Abhandlung:
„Über die Bedeutung der Bekämpfung des Schmerzes bei der Behandlung innerer
Krankheiten“ 2 ) beschäftigt sich Wein trau d mit dieser Frage. Er führt aus, daß
bei dem Spießschen Verfahren nicht die Ausschaltung der vom Entzündungsherd
nusgehenden Reflexe das wesentliche sei, sondern die Bekämpfung des Schmerzes.
Er stützt sich dabei zum Teil auf Angaben von Spieß selbst. Spieß hebt her¬
vor, daß der Schlaf die entzündlichen Erscheinungen der Schleimhaut bei dem
gewöhnlichen katarrhalischen Schnupfen günstig beeinflußt, so daß die Sekretion
oft während der ganzen Nacht sistiert, um nach dem Erwachen am anderen
Morgen von neuem zu beginnen. Er teilt seine Beobachtung mit, daß eine zeitig
vorgenommene Morphium-Injektion nicht selten bei einem beginnenden Schnupfen
ebenso entzündungswidrig wirkt wie die lokale Anästhesierung der Nasenschleim¬
haut mit Orthoform, mit der man die Erkrankung, kupieren kann.“ Weintraud
bemerkt hierzu, daß dem Morphium und seinen Derivaten nicht eine peripherische,
sondern eine zentrale Wirkung zukomme. Er fügt hinzu, daß die sog. Anti-
pyretica, „deren günstige Wirkung auf schmerzhafte entzündliche Schleimhaut¬
prozesse praktisch vielfach erprobt ist“, gleichfalls nur eine zentrale anästhe¬
sierende Wirkung, nicht eine solche auf die peripherischen Nervenendigungen
besitzen. Wenn nun Weintraud demzufolge zu dem Schluß gelangt, daß es
auf die Bekämpfung der Schmerzempfindung ankomme, so möchte ich mich
dem nur bedingt anschließen. Die Ausschaltung des Schmerzes und dadurch be¬
dingte Ruhe des gesamten Organismus muß eine Verminderung der Reizungen
der entzündeten Stelle nach sich ziehen, aber dieses darf .kaum als der einzige
oder wesentlichste Effekt angesehen werden. Vielmehr wird jedenfalls durch die
erwähnten Mittel die örtliche Hyperergie selbst getroffen.
Von Wichtigkeit sind in dieser Hinsicht die Versnche von Bruce ans dem Wiener
pharmakologischen Institut 3 ). Die Entzündung (Vasodilatation nnd abnorme Durchlässig¬
keit der Gefäße) wird gehemmt:
1. nach Durchtrennung eines sensiblen Nerven distal vom Wurzelganglion und Ab¬
lauf der zur Degeneration der Nervenendigung erforderlichen Zeit;
2. während der Dauer der Ausschaltung sensibler Nervenendigungen durch lokale
Anästhetika.
Sie wird dagegen nicht verhindert durch Röckenmarksquerdurchschneidung, durch
Durchtrennung der hinteren Wurzeln und durch einfache Durchschneidung eines sensiblen
Nerven peripher vom Wurzelganglion ohne Degeneration der Nervenendigungen. Diese
») *L. c. S. 586. Münch, med. W. 1906. Nr. 18.
*) Ärztliche Festschrift zur Eröffnung des Kaiser Friedrich-Bades in Wiesbaden. I. F. Berg¬
mann. Bereits im III. Kapitel zitiert
*) Über die Beziehung der sensiblen Nervenendigungen zum Entzündungsvorgang. Arcb. f.
exp. Path. u. Pharmak. Bd. 63. 1910.
Zeltacbr. f. physik. n. diät. Therapie Bd. XXn. lieft 11. 29
Digitizeit by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
428
Goldscheider
Untersuchungen beweisen zunächst schon, daß es auf die bewußte Empfindung des
Schmerzes, d. h. auf die Fortleitung des Reizes zum empfindenden Zentralorgan gar nicht
ankommt. Vielmehr ist das wesentliche die Zerstörung bzw. funktionelle Ausschaltung
der peripherischen Nervenendigungen. Bruce schließt aus seinen Versuchen, daß „die
initiale Vasodilatation in den ersten Stadien einer Entzündung wahrscheinlich ein
Axonreflex“ sei; „dieser Reflex ist anscheinend beschränkt auf die Bifurkation der
sensiblen Fasern, derart, daß der Entzfindungsreiz seinen Weg den einen Schenkel der
Bifurkation hinauf und den anderen Schenkel hinab nimmt.“ Er bezieht sich auf die
Untersuchungen von Bayliß 1 ): Reizung der peripherischen Enden der durchschnittenen
hinteren Rückenmarkswurzeln ruft eine Gefäßerweiterung in den von diesen Wurzeln
versorgten Gebieten hervor. Die Fasern, in welchen diese efferenten Impulse verlaufen,
sind identisch mit den gewöhnlichen sensiblen hinteren Wurzelfasern, die demnach Impulse
in beiden Richtungen zu leiten fähig sein müssen. Die Reize brauchen das Wurzel¬
ganglion nicht zu erreichen. „Es muß also die sensible Nervenfaser sich in ihrem
distalen Anteile (peripher vom Ganglion) gabeln“ (Brnce). Der eine Schenkel geht zur
Haut, der andere zu den Blutgefäßen. Bruce macht jedoch selbst die Einschränkung,
daß seine Erklärung durch „Axonreflex“ durch seine Versuche nicht zwingend erwiesen
sei, da durch seine Eingriffe möglicherweise „sowohl die sensiblen wie auch die vasodi-
latatorischen Nervenendigungen gleichzeitig und in gleichem Maße betroffen wurden.“
Wir werden dies vorläufig dahingestellt lassen müssen; auch die Wirkung der lokalen
AnäBthetika könnten die vasomotorischen Nervenendigungen direkt betreffen, so daß die
Beeinträchtigung der Hautsensibilität nur eine nebenher laufende für die Entzündungs-
hemmung nicht wesentliche Erscheinung wäre. Auf jeden Fall handelt es sich dabei um
eine peripherische Herabsetzung der Erregbarkeit des Gefäßapparates.
Es kann nun unmöglich vorteilhaft sein, die natürliche Abwehrreaktion des
Organismus, wie sie sich in der Gefäßerweiterung, Exsudation, kurz in der Ent¬
zündung ausspricht, durch funktionelle Ausschaltung der in Betracht kommenden
peripherischen Apparate zu hemmen. Vielmehr ist der günstige Einfluß der
Anästhesierung nur dahin zu verstehen, daß das Überschießen der Reaktion ver¬
hindert wird.
Die Herabsetzung der örtlichen übermäßigen Erregbarkeit wird auch durch
die zentral angreifenden Narkotika bewirkt. Die Beeinflussung der Über¬
empfindlichkeit durch Morphium geschieht nicht auf dem Wege der Aufhebung
der Schmerzempfindung, sondern so, daß Morphium die Erregbarkeit des gesamten
Nervensystems in allen seinen Teilen herabstimmt (Reflexe, Drüsentätigkeit usw.;
auch eine schwache lokalanästhesierende Wirkung kommt 'übrigens dem Opium
und Morphium zu). Es wirkt daher auf örtliche Reizzustände, wie z. B. lokalisierte
Muskelkrämpfe (Koliken des Darms, Gallen-, Nierenkoliken usw.) beruhigend,
wirkt durch Ruhigstellung des Darms günstig auf Entzündungen am Magen¬
darmkanal und seinem Bauchfellüberzug. Krankhaft erhöhte Reflexe, wie z. B. über¬
mäßiger Husten, Erbrechen usw., werden durch Morphium herabgesetzt. Die Ent¬
leerung des Magens wird durch Opium bzw. Morphium verzögert (Magnus, Katze);
vorzugsweise wird der Dickdarm betroffen.
In ähnlicher Weise wirkt Atropin durch Ruhigstellung der Iris und des
Ciliarmuskels entzündungswidrig bei Iritis nnd Cyclitis.
Vielleicht wirken die Narkotika auch zum Teil dadurch auf den peripherischen
Prozeß günstig ein, daß sie die zentrale Ausbreitung der nervösen Erregung
hemmen und so den Reizzustand lokalisieren. Die Mitbeteiligung anderer Teile
') Joum. of Physiol. Vol. 26. 1900/01.
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ober die krankhafte Oberempfindlichkeit und ihre Behandlung.
429
des Organismus anf dem Nervenwege und durch Ausdehnung des vasomotorischen
Beizzustandes kann dadurch ausgeschaltet oder verringert werden.
Es ist auf keinen Fall zweifelhaft, daß narkotische Mittel auf dem Nerven¬
wege einen Einfluß auf die gewebliche Überempfindlichkeit zu gewinnen vermögen.
Die Wirkung ist eine doppelte: Herabsetzung des örtlichen geweblichen Beiz¬
zustandes und Abschwächung der ausstrahlenden Wirkungen desselben.
Winterstein hat bei Verworn nachgewiesen, daß die Narkotika imstande
sind, die restitutiven Prozesse zu verzögern bzw. zu lähmen 1 ). Dies läßt ver¬
muten, daß sie bei therapeutischer Anwendung eine unerwünscht zu weit gehende
Wirkung entfalten können, indem sie nicht blos das Übermaß der Beaktion, sondern
diese selbst treffen.
Weintraud weist im Verfolg seiner Erörterungen anf die schmerzlindernde
Wirkung der warmen Bäder bei Gelenkentzündungen, wie der Wärme überhaupt
bei rheumatischen und gichtischen Gelenkerkrankungen hin. Er deutet die Möglich¬
keit an, daß die Heilwirkung des Aspirins nnd Atophans zum Teil auf der Schmerz¬
linderung beruhe. Er zählt hier auch die Langesche anästhesierende Injektion
in den Nervenstamm bei Ischias mit anf; weist auf die günstige Wirkung von
Codein oder Heroin bei dem durch Gehen verursachten retrosternalen Schmerz
der Arteriosklerotiker, bei Superazidität, nervöser Dyspepsie usw. hin. „Werden
die Beschwerden dadurch eine Zeitlang ausgeschaltet, so ist damit oft auch der
Beizzustand beseitigt, auf dessen Boden sie entstanden waren.“ Diese Er¬
fahrungen, welche ich bestätigen kann, sprechen durchaus für den Nutzen der
Behandlung der Überempfindlichkeit in meinem Sinne.
Außer dem Opium und seinen Alkaloiden kommt zur Herabsetzung krank¬
haft erhöhter nervöser Erregbarkeit die gesamte Gruppe sedativer Mittel
in Betracht, wie Borneol, Menthol, Lupulin, ferner Cannabis indica, Hyoscyamus,
Strammonium.
Die hypnagogen Mittel, wie Chloral, die Barbitursäure-Verbindungen usw.
haben in geringer Dosierung sedative Wirkungen. Vielfältige Verwendung finden
die zentralwirkenden Bromsalze. Endlich sind die örtlich anästhesierenden Mittel
wie Kokain und seine Derivate, Alypin, Anästhesin, Orthoform usw., Karbol¬
säure, Kohlensäure zu nennen.
Bei der nervösen Überempfindlichkeit äußern also sowohl die peripherisch
wie die zentral angreifenden Mittel Einfluß. Dies ist begreiflich, wenn man sich
erinnert, daß die peripherisch ausgelöste Beizung zn einer zentral sich fest¬
setzenden und weiter um sich greifenden Überempfindlichkeit führt.
Daß die Anwendung dieser Gruppe von Mitteln ohne Übertreibung nnd
mit der gebotenen Vorsicht stattfinden muß, ist besonders zu betonen.
Auch bakterielle neurotrope Stoffe (Doellkens Vaccineurin) hat man zur
Behandlung nervöser Überempfindlichkeit herangezogen.
Die Antipyretica und Antineuralgica (Antipyrin usw.) wirken, ohne die
Sensibililät zu beteiligen, zentral herabsetzend auf gesteigerte Erregbarkeit. Die
gefäßerweiternden Mittel (Nitrokörper, Diuretin) können die in Angiospasmen sich
offenbarende Überempfindlichkeit beeinflussen. Gewisse Stoffe besitzen spezifisch
*) Zur Kenntnis der Narkose. Ztschr. f. allg. Physiol. Bd. I. 1902.
29*
Digitized by
Go igle
Original from
UNIVERSETY OF MICHIGAN
430
Goldscheider
vago- bzw. sympathikotrope Eigenschaften (Atropin, Lobelin, Physostigmin, Pilo¬
karpin, Adrenalin).
Bezüglich der antipyretischen Behandlung des Fiebers bestehen noch immer
grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten. Die früher geübte strenge Antipyrese
ist größtenteils verlassen, teils infolge der Erkenntnis, daß die künstliche Be¬
seitigung des Fiebers den krankhaften Prozeß nicht in dem Maße, wie man es
erwartete, beeinflußt, teils wegen der schädlichen Wirkungen großer Dosen der
antipyretischen Mittel. Auch die physikalische Herabsetzung des Fiebers, wie
sie in der rigorosen Kaltwasserbehandlung des Typhus zur Anwendung kam,
wurde verlassen; die Erfolge enttäuschten und zudem kam man zu der Erkennt¬
nis, daß es weniger die Herabsetzung des Fiebers war, was den Vorteil dieser
Methode ausmachte, als vielmehr eine allgemein erfrischende und tonisierende
Wirkung auf das Nervensystem. Hinzu kam, daß mehr und mehr die alte Lehre
von dem „zweckmäßigen“ Charakter der Fieberreaktion zum Durchbruch gelangte.
Andererseits lehrt die Erfahrung der Praxis, daß eine Milderung des Fiebers
durch geringe oder mäßige Graben von antipyretischen Mitteln vielfach auf das
Allgemeinbefinden, das Krankheitsgefühl, die Benommenheit oder die fieberhafte
Unruhe, den Appetit usw. wohltätig wirkt. So kommt es, daß die Antipyrese,
sowohl die chemische wie die physikalische (Umschläge, Abwaschungen, Packungen,
lauliche Bäder) in gemilderter Form allgemein ausgeübt wird, in Sonderheit bei
länger dauernden fieberhaften Erkrankungen, auch von denjenigen, welche in dem
Fieber eine Abwehrreaktion des Organismus erblicken, wenn es auch einzelne
Kliniker und Ärzte gibt, welche einen absolut strengen Standpunkt einnehmen
und das Fieber grundsätzlich nicht bekämpfen.
Wir kommen’ m: E. auch hier zur Klarheit, wenn wir innerhalb der zweck¬
mäßigen fieberhaften Reaktion die übermäßige nutzlose bzw. schädliche Form
derselben absondern. Schon Rosenbach sagt: Die Antithermika sind Narkotika
für den fieberhaften Prozeß, „weil sie die abnorme Erregbarkeit der wärme¬
bildenden Faktoren herabsetzen und so den Exzeß der Wärmebildung hemmen“
(Schmiedeberg: „Fiebernarkotika“).
Liebermeister fand, daß es nicht auf die Bekämpfung des Fiebers als
solchen ankomme, sondern auf die zeitweilige Unterbrechung desselben, namentlich
bei kontinuierlichem Fieber. Thierfelder und besonders Griesinger wiesen
darauf hin, daß niedrigere kontinuierliche Temperaturen schlechter vertragen
werden als höhere, aber stärker remittierende.
So erscheint vom Standpunkte der Behandlung der Überempfindlichkeit
eine milde Antipyrese durchaus gerechtfertigt, freilich nicht in schematischer
Weise, sondern nur bei besonders hohen und besonders anhaltenden Temperaturen;
auch soll hiermit dem Mißbrauch, von Anfang an Antipyretica zu reichen und da¬
durch das Krankheitsbild zu verschleiern und die Fieberkurve zu verwirren, nicht
das Wort geredet werden.
Die physikalische Antipyrese wirkt wärmeentziehend und somit nicht auf
die Überempfindlichkeit als solche, sondern auf ihren Folgeznstand. Aber immer¬
hin wird dadurch eine schädliche Wirkung der überspannten Reizbarkeit getroffen
und zudem üben wahrscheinlich die Kälteanwendungen auch einen unmittelbar
i hemmenden Einfluß auf die gesteigerte Erregbarkeit des temperaturregulierenden
Digltizeo by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Über die krankhafte Überempfindlichkeit und ihre Behandlung.
431
Zentrums aus. Im übrigen geschieht die Reduktion der erhöhten Temperatur
bei der chemischen Antipyrese gleichfalls auf dem Wege der erhöhten Wärme¬
abgabe; nur Chinin wirkt bekanntlich auf die Wärme Produktion herabsetzend.
Der günstige Einfluß der Antipyretica auf die das Fieber begleitenden Kopf-
und Gliederschmerzen, Delirien, Unruhe, Benommenheit beruht nicht allein auf
der Temperaturherabsetzung, sondern auch darauf, daß diese Stoffe zugleich
zentral-anästhesierende Wirkungen besitzen. Diese letzteren treten zuweilen in
viel stärkerem Grade hervor als die Temperaturherabsetzung, wie man es z. B.
bei der Behandlung des Typhus mit kleinen verteilten Pyramidongaben sieht.
Die schmerzstillende, beruhigende, unter Umständen auch den Schlaf vor¬
bereitende Wiikung dieser Mittel beweist, daß sie die Erregbarkeit in weiterem
Sinne herabsetzen.
Das Chinin nimmt zwischen den auf die Nerven und auf das Gewebe
selbst wirkenden Mitteln eine Mittelstellung ein. Diesem Stoff kommt eine
das Protoplasma lähmende Wirkung zu, welche beim Antipyrin usw. nur sehr
wenig ausgesprochen ist. Chinin lähmt die Bewegungen einzelliger Organismen
(Infusorien) und tötet letztere; auch auf Leukozyten übt es diese Wirkung aus
(Binz). Es hemmt chemische Umsetzungen im Körper (Oxydationen, Synthesen,
Spaltungen), z. B. die Umwandlung der Benzoesäure in Hippursäure in der Niere,
wahrscheinlich durch Fermentlähmung; hemmt auch den Eiweißzerfall, setzt die
Tätigkeit der quergestreiften und Herzmuskulatur herab (während es die Uterus¬
muskulatur reizt). Es ist somit besonders geeignet, um auf gewebliche Über¬
empfindlichkeit zu wirken. Es wird in neuerer Zeit mit Erfolg gegen die
Überempfindlichkeit der Herzmuskulatur, wie sie sich im Vorhofsflimmern ausspricht,
verwendet.
Sowohl dem Chinin wie den anderen Antipyreticis ist es eigen, daß sie in
schwachen Dosen erregend wirken, wie dies bekanntlich der Mehrzahl der nar¬
kotischen Mittel zukommt.
5. Psychologische Behandlung (unmittelbar und mittelbar wirkend).
Daß auch die psychologische Behandlung von Bedeutung ist, lehrt schon
die neurasthenische Überempfindlichkeit. Ihre Anwendung geht aber weit über
die Neurasthenie hinaus. Es wurde schon im H. Kapitel darauf hingewiesen,
daß die subjektiven Symptome der Übermüdung in der Psyche des Leidenden
sehr leicht Krankheitsvorstellungen hervorrufen können, welche der Arzt bannen
kann, indem er den Kranken über den wahren Charakter der Symptome aufklärt
und ihn von seiner fehlerhaften Deutung überzeugt. Dies gilt ganz allgemein
oder wenigstens für einen großen Teil der vorkommenden Überempfindlichkeiten.
Der Kranke hat ganz überwiegend die Neigung, die ihm zum Bewußtsein
kommenden Symptome derselben auf Organkrankheiten zu beziehen. Die Sensa¬
tionen, welche vom überempfindlichen Herznervenapparat ausgehen, werden ihm zum
Ausdruck einer Herzerkranknng; Schmerzen werden von ihm ohne weiteres auf
eine Organschädigung bezogen usw. Die aufklärende ärztliche Belehrung bringt
in solchen Fällen einen Umschlag in dem Sichfühlen des Kranken hervor, welcher
viel mehr bedeutet als eine bloße Aufbesserung der Stimmung, nämlich der Be¬
ruhigung und Ruhebehandlung dient, deren Wichtigkeit für die objektive Besserung
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
432
Goldscheider
der Überempfindlichkeit besprochen worden ist. Aach die im UL Kapitel
erwähnte Überempfindlichkeit des Gefühls bietet der Suggestivbehandlung (evtl.
Hypnose) eine breite Angriffsfläche.
In anderer Weise gelangt die psychologische Beeinflussung zur Wirksamkeit,
wenn es sich darum handelt, durch lebenspädagogische Vorschriften die Vermeidung
von Übermüdung und Überreizung zu erzielen. Die Lebensführung muß in das
richtige Verhältnis zur Leistungsfähigkeit gebracht werden. Gewohnheiten und
Neigungen, welche durch übermäßige Beanspruchung zur Überempfindlichkeit
führen, müssen dem Kranken aberzogen werden usw.
Behandlung der latenten Überempfindlichkeit.
Nicht selten sind die Überempfindlichkeitssymptome latent und treten nur
unter Bedingungen hervor, welche die allgemeine Empfindlichkeit steigern, wie
z. B. bei Ermüdung bzw. Übermüdung, bei nervösen oder psychischen Erregungen,
bei irgendwelchen Neuerkrankungen. So können infolge von Erschöpfung lokale
Beschwerben auftreten, welche nicht lediglich nervöser bzw. neurasthenischer
Natur sind, wie man im allgemeinen anzunehmen geneigt ist, sondern welche auf
ein latentes organisches Leiden hinweisen, z. B. auf Arteriosklerose beruhen. Es
ist praktisch wichtig, diesen Gesichtspunkt zu beachten. Ich habe solche Bei¬
spiele häufig gesehen. Die Auffassung dieses Zusammenhanges setzt uns in die
Lage, latente Leiden aufzuspüren und frühzeitig therapeutisch anzugreifen.
Schon im III. Kapitel (S. 380 f.) wurde auf diese Erscheinung hingewiesen.
Mosler 1 ) berichtet, daß beim Wolhynischen Fieber starke Schmerzen besonders
an denjenigen Körperteilen auftreten, welche früher einmal Sitz einer Erkrankung
oder Verletzung gewesen waren; auch Rötung und Schwellung früher erkrankt
gewesener Gelenke wurde von ihm beobachtet.
Die Behandlung der latenten Überempfindlichkeit stellt eine wichtige und
dankbare prophylaktisch-therapeutische Aufgabe dar. Diese bildet unbedingt eine
Anzeige für die Behandlung. Denn so lange latente Überempfindlichkeit besteht,
so lange kann und wird wahrscheinlich das Leiden wiederkehren. Bemerken wir
doch eben das Vorhandensein der latenten Überempfindlichkeit an der vorüber¬
gehenden Reaktion auf geringe Anlässe. Stärkere werden das Leiden in größerer
Dauer und Intensität zur Manifestation bringen. Durch die Beachtung der latenten
Überempfindlichkeit erhalten wir wertvolle Hinweise auf die vorhandene Krank¬
heitsanlage, sei es, daß es sich um eine rein gewebliche, sei es, daß es sich um
eine nervöse Überempfindlichkeit handelt. Die Behandlung der latenten Über¬
empfindlichkeit ist gleichbedeutend mit derjenigen des zugrunde liegenden
Leidens und geschieht, wie oben ansgeführt, zum Teil durch die Ausschaltung
nnd Vermeidung der auslösenden exogenen Bedingungen, zum Teil durch die Um¬
stimmung des Organismus im Sinne der Erhöhung seiner Widerstandskraft (vgl.
oben) im ganzen wie speziell der passiven bzw. aktiven Widerstandsfähigkeit des
Locus minoris resistentiae durch Abhärtung, Übung, Reizgewöhnung usw. Die
Bereitschaft zur Überempfindlichkeit steht im umgekehrten Verhältnis zur Wider¬
standskraft. Zu weit gehende Schonung ist hier nicht angebracht. Freilich
l ) Ztschr. f. phys. und diät. Ther. August/September 1918. S. 862.
k Digitizea b
Google
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Über die krankhafte Überempfindlichkeit nnd ihre Behandlung.
433
sollen die Anlässe, welche die latente Überempfindlichkeit manifest machen, ver¬
mieden werden nnd es tritt häufig der Fall ein, daß mit der Zeit, wenn sehr
lange so verfahren wird, die überempfindlichen „Rezeptoren“ verschwinden, aber
einesteils trifft dies nicht immer za, anderenteils ist die Schonung nicht immer
auf längere Zeiträume hin durchführbar. Deshalb muß neben der Schonung die
Übung Platz greifen. Je mehr die Überempfindlichkeit abnimmt und in das
latente Stadium tritt, um so mehr wird es Zeit, die methodische Kräftigung durch
Übung', Abhärtung usw. aufzunehmen.
Bestehende latente Überempfindlichkeiten bilden oft die Ursache von uner¬
warteten paradoxen Reaktionen bei der Anwendung physikalischer Heilmethoden,
insofern als an dem überempfindlichen Teil abnorm starke Reizwirkungen auf-
treten, welche durch Irradiation eine allgemeinere Erregung hervorrufen und z. B.
ein sonst beruhigendes Heilverfahren in sein Gegenteil verkehren können.
Das Manifestwerden der latenten Überempfindlichkeit bei einem relativ zu
großen Maß von Beanspruchung zeigt an, daß jene als eine Schutzvorrichtung
aufzufassen ist Ähnlich dem Warnungssignal des Schmerzes hat die Überempfind¬
lichkeit zur Folge, daß der erkrankte Teil „zwangsläufig“ geschont wird.
Schlußbemerkung. Wohl bei jeder Erkrankung kann die natürliche Ab¬
wehrreaktion die „zweckmäßigen“ Grenzen überschreiten und so zu Erscheinungen
der Überempfindlichkeit führen. Wir müssen uns bemühen, dieselben im Krank¬
heitsbilde heraus zu erkennen (vgl. oben). Ihre Bekämpfung ist ebenso richtig,
wie die Bekämpfung der natürlichen Abwehrreaktion an sich falsch ist. Die
Krankheitssymptome enthalten sowohl die Erscheinungen der letzteren wie der
exzessiven Reaktion. Die Grenze mit Schärfe zu ziehen, ist oft sehr schwierig.
Je mehr die Symptome einen den Kranken gefährdenden Grad und Charakter an¬
nehmen, desto mehr ist an Überempfindlichkeit zu denken. Ein- oder mehrmaliges
Erbrechen nach Genuß einer schädigenden Substanz ist eine nützliche Abwehr¬
reaktion, Fortdauer des Erbrechens oder Erbrechen ohne Vorliegen der genannten
Ursache ist Ausdruck einer übermäßigen und schädigenden Überreizung. Husten
mit Entleerung vorhandener Absonderungsstoffe ist nützlich, gehäufter „Reizhusten“
ohne Expektoration oder beim Fehlen solcher zu entleerender Stoffe ein über¬
flüssiges störendes, unter Umständen schädigendes Überreizungssymptom usw. Das
gründlichste Mittel gegen die Überempfindlichkeit würde ohne Zweifel darin be¬
stehen, das dieselbe verursachende Leiden zu heilen oder die sie auslösenden
exogenen Bedingungen aus der Welt zu schaffen bzw. vom Kranken fernzuhalten.
Beides ist aber nur in begrenztem Umfange, häufig gar nicht möglich. Daß die
Überempfindlichkeit als solche der Behandlung bedarf, ist oben bewiesen worden.
Auch ist gezeigt worden, daß die Überempfindlichkeit für sich, auch ohne Heilung
des zugrunde liegenden Leidens behandelt und gebessert werden kann. Diese
Behandlung ist nicht bloß eine solche eines Symptoms; es wäre ganz verkehrt,
ihr als einer „bloß“ symptomatischen Behandlung eine nebensächliche Bedeutung
zuzuerkennen. Vielmehr steht sie obenan und schließt sich unmittelbar der In-
dicatio morbi an (vgl. oben). Ist sie doch sehr häufig die Krankheit selbst, z. B.
die Überempfindlichkeit bei Diathesen, bei Übermüdung und Überreizung. In
anderen Fällen spielt sie bei der Pathogenese eine ausschlaggebende Rolle (Ana-
Digitized by
Go igle
/
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
434
Walter Krebs
phylaxie bei Infektionen und Intoxikationen). Und auch dort, wo sie nur als eine
krankhafte Steigerung einer physiologischen Reaktion und als Symptom neben
anderen Symptomen auftritt (Fieber, Schmerzen, Erbrechen usw.), hat ihre Be¬
handlung häufig eine Rückwirkung auf den sie bedingenden Krankheitsvorgang,
denn man vergesse nicht: die Überempfindlichkeit bekämpfen heißt die exzessive
und damit schädigende Höhe der Reaktion des Organismus auf die krankmachende
Ursache abschneiden und dieselbe auf den nützlichen Wert zurückführen.
II.
Zur nichtchirurgischen Behandlung der chronischen Arthritiden.
Aus dem Landesbad der Rheinprovinz (Chefarzt Dr. Krebs).
Von
Walter Krebs
in Aachen.
Die Behandlung der chronischen Arthritiden gilt gemeinhin als eine nicht
sehr dankbare Aufgabe der ärztlichen Kunst. Und doch gelingt es bei genügender
Beharrlichkeit von seiten des Patienten und des Arztes und bei ausreichend ab¬
wechselnder Anwendung der unten näher beschriebenen Methoden, in vielen Fällen
Besserungen bzw. Heilungen zu erzielen, während in anderen Fällen wenigstens
ein Stillstand des Leidens schon einen nicht kleinen Erfolg der Therapie bedeutet.
Wenn in nachstehenden Zeilen nicht auch auf die Gelenkentzündungen nach
Scharlach, Sepsis, Tripper, Typhus, Ruhr und anderen Infektionskrankheiten mehr
eingegangen wird, so hat es darin seinen Grund, weil ihre Behandlung grund¬
sätzlich und im allgemeinen die gleiche ist — abgesehen von einer etwa spezi¬
fischen kausalen Therapie der gonorrhöischen und tuberkulösen Gelenkent¬
zündungen usw.
Die arzneiliche Behandlung erzielt im < allgemeinen keine sehr glänzenden Resul-
tate hinsichtlich der Beeinflussung des Krankheitsablaufs, dagegen ist sie vielfach von
nicht zu unterschätzendem Wert für die Beseitigung symptomatischer Beschwerden und
von Rückfällen, die oft eintreten und besonders oft durch die Reaktion auf physikalisch-
therapeutische Eingriffe bedingt sind. An erster Stelle stehen die altbewährten Mittel
der Salizylpräparate, unter denen das Aspirin bzw. Acetylin (Heiden) nach mehr wie
einer Richtung den Vorzug verdient. Ihre Wirkungsweise dürfte so zu erklären sein,
daß sie, deren relative Speicherung in den Gelenken wiederholt nacbgewiesen ist, am
Ort der Entztindungsvorgänge, also hier die Gelenke, die sensiblen Reize herabmindern
oder beseitigen und damit gleichzeitig die Entzündung selbst schwächen. Nach Spieß
u. a. m. erklärt sich der Einfluß der Herabsetzung der Schmerzen auf den Entzündungs¬
vorgang folgendermaßen: Jeder schmerzhafte Reiz bedingt fast unmittelbar eine örtliche,
aktive Hyperämie und somit die ersten Anfänge einer Entzündung; wenn nun die Schmerz¬
reize beseitigt werden, so werden auch die Hyperämie ausbleiben oder verringert werden
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Zur nichtchirurgischen Behandlung der chronischen Arthritiden.
435
und mit ihr in vielen Fällen auch weitere Entzündungserscheinungen. Auch die erfahrungs¬
gemäß gute Wirkung der künstlich erzeugten — aktiven und passiven — Hyperämie
auf chronische und akute Gelenkentzündungen ist nach Spieß in erster Linie der Herab¬
minderung der Schmerzen und in zweiter erst der daraus resultierenden Verringerung
der entzündlichen Erscheinungen zuzuschreiben.
Eine ähnliche Auffassung hatte Rosenbach, der schon vor Jahren darauf hinwies,
wie der Gebrauch des Morphiums auf den Ablauf von Entzündungen allein durch Herab¬
setzung der Erregbarkeit vielfach günstig wirkt. Da bei vielen Menschen nach den
Salizylpräparaten Magendruck und Sodbrennen auftreten, empfehle ich angelegentlich, sie
in Gelodnratkapseln, die sich nicht durch den Magensaft, sondern erst im Darm infolge
seines alkalischen Saftes auflösen und bei denen in der Tat die obigen unangenehmen
Nebenwirkungen ganz fortfallen, zu verabreichen. Auch Gaben von 1 bis 2 g Na. bicarb.
unmittelbar nach der Einnahme derartiger, Sodbrennen usw. erzeugender Mittel sind
meist imstande, diese unangenehmen Nebenwirkungen zu verhüten.
Je nachdem die Schmerzen des Morgens oder des Abends am stärksten auftreten,
müssen die Kranken vor allem in dieser Zeit einnehmen und zwar jede Stunde 1 bis
2 Tabletten bis zur Höchstdosis von 5—6—8, je nach Bedarf, aber evtl, auch noch mehr,
am Tage. Ist die Nachtruhe durch Schmerz gestört, so haben sich Pulver von der
Mischung 0,5 Acetylin mit 0,1 bis 0,015 Dionin kurz vor dem Schlafen als besonders
zweckmäßig erwiesen.
Es ist ja bekannt, daß in letzter Zeit die gleichzeitige Darreichung von ungleich
wirkenden Mitteln besonders bevorzugt wird, die sich nach Bürgis — freilich noch
strittigen — Auffassung, in ihren gleichgerichteten Wirkungsfolgen potenzieren, während
gleichartig wirkende sich einfach summieren. So werden auch die Tabletten nach
Treupel — enthaltend: Acetylin, Phenazetin, Codein und Natriumsulfat — oft mit
gutem Erfolg angewendet, desgleichen das unter dem Publikum sehr verbreitete und durch
die Tageszeitungen reichlich angepriesene Togal, das in der Hauptsache Chinin, Lithium
und Acetylin enthält, sowie Alberts Remedy — eine Mischung von Colchizin, Opium¬
tinktur und Jodkali in spirituösem Zuckerwasser. Von anderen „Antirheumatizis“ nenne
ich nur noch das Ervasin, ein Acetylester der Parakresotinsäure — einer homologen
Salizylsäure — und das lösliche Ervasinkalzium, sowie das Apyron, ein acetyl-
salizylsaures Lithium —, das auch subkutan angewendet wird. Auch das Mittel der
Antipyringruppe, darunter das Antipyrin selbst, ein Phenyldimethylpyrazolon, und das
ihm verwandte Dimethylamidoantipyrin-Pyramidon —, das in kleineren Dosen, da fast
dreimal wirksamer als das Antipyrin, meist in Tablettenform gegeben wird, und das
Phenazitin — ein Oxyäthylacetanilid — mögen hierbei genannt sein. Das besonders
durch die Arbeiten von Weintraud in die Gichttherapie eingeführte Atophan, eine
Phenylcinchoninkarbonsäure — das ebenfalls in Geloduratkapseln in den Apotheken vor¬
rätig ist —, hat auch bei den nicht durch Gicht bedingten Arthritiden in vielen Fällen
einen unverkennbaren Einfluß auf Schmerzen und Schwellungen, weshalb seine Anwendung,
falls etwa die Salizylpräparate ohne Erfolg gegeben sind, wohl zu empfehlen ist. Über
die Art der Wirkung dieses vielfach als spezifisches Gichtmittel angesehenen Arznei¬
mittels auf die gichtischen Gelenkaffektionen besteht noch keine Einhelligkeit. Während
Weintraud sie in erster Linie als elektive, die Harnsäureausscheidung fördernde ansiebt,
glaubt Brugsch in Übereinstimmung mit anderen (Schittenhelm), daß das Atophan
vor allem die Harnsäure mobilisiert. Nicht die gesamte Menge des abgebauten Nucleins
wird nach ihm in Umsatz gebracht, sondern ein Teil bleibt als Reserve im Körper und
zwar hauptsächlich in der Leber zurück — eine Aufspeicherung, die derjenigen von
Glykogen, Fett und Eiweiß entspricht. Atophan wirkt nun speziell auf den Umsatz
dieses Teils des intermediären Nucleinstoffwechsels in dem Sinne, daß es diesen Umsatz
verstärkt bzw. die Depots mobilisiert und die Nieren zur Ausscheidung der zirkulierenden
Harnsäure reizt. — Die Anwendung des Jods bei der Behandlung der chronischen Gelenk¬
entzündungen ist seit langen Jahren in Gebrauch. Da er erfahrungsgemäß auf die
Sklerose der Gefäße günstig einwirkt — besonders bei früherer syphilitischer Infektion —
und von manchen Autoren ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Arteriosklerose und
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
436
Walter Krebs
0. arthr. def. angenommen wird, so wäre ja (auf diese Weise) die günstige Einwirkung
des Jod wenigstens auf die 0. arthr. def. soweit wohl erklärlich.
In neuerer Zeit ist die subkutane Einverleibung des Adrenalins warm befürwortet
worden. Schmidt-Prag erklärt geradezu, daß es in vielen Fällen das Salizyl über¬
flüssig mache und dies nicht nur symptomatisch gegen die Schmerzempfindung, sondern
auch auf die Gelenkschwellungen selbst wirkt. In den von mir beobachteten Fällen
chronischer Arthritis habe ich einen besonders günstigen Einfluß der Adrenalinein-
spritzungen nicht konstatieren können; weitere Versuche damit werden aber zeigen, ob
das Adrenalin nur etwa bei akuten Arthritiden wirkt und bei chronischen ohne Erfolg
bleibt. Während bei den akuten Arthritiden mit mehr oder weniger septischem Charakter
die Anwendung der Silbersalze — Collargol, Elektrargol usw. — intravenös, per anum oder
per os sowie in Form von Salben auf die Haut gerieben —, mit vielfach gutem Frfolg
geübt wird, zeigten sich diese Mittel bei chronischen Arthritiden nur dann wirksam,
wenn sie zu Zeiten der Rezidiven, die mit fieberhaften und sonstigen ernsten Störungen
des Allgemeinbefindens einhergingen, gegeben wurden.
Schließlich möchte ich nicht verfehlen, des Arsens Erwähnung zu tun, das mir
besonders in Form des subkutan einverleibten Solarsons recht gute Dienste geleistet hat.
Nicht nur wird das bei den chronischen Arthritikern oft stark beeinträchtigte Allgemein¬
befinden dadurch fast stets wesentlich gehoben, sondern ich habe auch den sichern Ein¬
druck erhalten, daß die Gelenkentzündungen selbst günstig beeinflußt wurden. Die Er¬
klärung dieser Wirkung ist nicht ganz einfach, jedenfalls nicht sicher. Aber man geht
wohl nicht fehl, wenn man einerseits die bekannte Förderung der Ernährung und des
Wachstums bzw. der Regeneration durch das Arsen, andererseits die Vernichtung bzw.
Einschmelzungen pathologischer Bildungen — Wirkungen, die erfahrungsgemäß oft
nebeneinander bei der Arsenmedikation hergehen —, als Grund für die gute Wirkung
bei den chronischen Arthritiden ansieht, bei denen ja fast durchweg auch atrophische
Prozesse neben hypertrophischen Wucherungen der Kapseln usw. bestehen.
Diese Einschmelzung von Adhäsionen und Bindegewebswucherungen und die Er¬
weichung von Kapselschrumpfungen und narbigen Kontrakturen, wie sie häufig bei den
chronischen Arthritiden anzutreffen sind, kann man auch durch das Thiosinamin (Allylthio-
Harnstoff) in Verbindung mit Natriumsalizylat — Fibrolysin genannt — erzeugen, dessen
Wirkung wahrscheinlich in der Verwandlung des Collagens in den löslichen Leim besteht.
Das für die gleichen Zwecke von Fränkel warm empfohlene Cholin scheint eine ähnliche
Wirkung zu besitzen, wenn sie auch von anderer Seite nicht in dem Umfange bestätigt
wird, wie sie von Fränkel angegeben wurde.
Kürzlich hat Heilner-München eine von den bisherigen therapeutischen Eingriffen
völlig abweichende Behandlungsart vorgeschlagen und auch bei zahlreichen Patienten mit
überwiegend sehr guten Ergebnissen durcbgeführt. Heilner geht von der Auffassung
aus, daß die Affinität, d. h. die natürliche Reaktionsfähigkeit gewisser Stoffwechselprodukte
gegenüber bestimmten Gewebsformationen sich während des geordneten Ablaufs der
Lebensvorgänge in der Zelle niemals durchsetzen darf, da sonst Reibungen, Hemmungen,
ja selbst Außerbetriebsetzungen im Zellgetrieb die Folge sein müßten. Da nun diese
Affinität nicht ohne weiteres aufgehoben werden kann, so muß der Organismus besondere
Schutzvorrichtungen gegen die pathologische Auswirkung der chemischen Anziehung treffen:
es muß deshalb in den Gelenken ein besonderer eingeborener Schutz gegen die Affinität,
z. B. der Harnsäure, angenommen werden, der als Ergebnis eines streng örtlichen Pro¬
zesses in den Gelenken anzusehen ist. Und der Erfolg seiner Therapie, die in der
intravenösen Einspritzung von Knorpelextrakten besteht, hat Heilner 1 ) belehrt, daß für
die Gicht weder eine spezifische Noxe noch abnorme Stoffwechselprodukte als ursächliche
Momente obiger Krankheiten in Frage kommen. Diese Theorie scheint voller Beachtung
wert und die Zukunft wird lehren, ob in der Tat, wie zu hoffen, die Behandlung der
chronischen Arthritiden einen ausschlaggebenden Nutzen daraus ziehen und völlig andere
Bahnen wandeln wird. Außer der innerlichen und subkutanen Einverleibung arzneilicher
') M. m. W. 1917. Nr. 29, 1916. Nr. 28.
Digitizer! by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Zur nichtchirurgischen Behandlung der chronischen Arthritiden.
437
Mittel wird auch äußerlich eine große Reihe von Medikamenten gebraucht, die teils in
Salben, teils in flflssiger Form znr Anwendung gelangen. Anch hier wieder stehen in
letzter Zeit die Salizylpräparate obenan: ich nenne hier nur das Salit, Salizylsäureester,
des Borneols, das eine branne ölige Flüssigkeit darstellt, die entweder mit Olivenöl za
gleichen' Teilen verdünnt oder als Salitnm solnt., aufgepinselt oder eingerieben wird,
worauf die betreffenden Hautstellen mit Watte usw. zu bedecken sind. Auch das
Rheumasan, ein freie Salizylsäure enthaltender Seifencreme, sowie das Dermasan
— eine Salizylseife — werden in ähnlicher Weise verwendet. Ich muß gestehen, daß
ich kein großer Verehrer dieser Salizylmedikation bin, da die Erfolge nur sehr selten
einwandfrei festzustellen sind und naturgemäß die auf die Einreibung ( oder Aufpinselung
folgende Einpackung mit Watte usw. für die gute Wirkung nicht ohne Bedeutung
sein dürfte.
Bessere Erfolge haben m. E. die althergebrachten Einpinselungen chronisch ent¬
zündeter Gelenke mit Jodtinktur, die eine starke Hyperämie herbeiführt und noch in
beträchtlicher Tiefe cytolytische Einschmelzung und Resorption von erkrankten Geweben
sowie von pathogenen Stoffen bewirkt.
Auch die Auftragung bzw. die Einreibung von Jadvasogen hat sich mir in Verbindung
mit nachfolgenden Wattepackungen in manchen Fällen recht gut bewährt.
Ähnlich hyperämisierend wie beim Jod ist der Erfolg bei den Einreibungen mit
Senfspiritus, die 1- bis 2 mal täglich vorgenommen werden sollen, wobei jedoch darauf
zu achten ist, daß keine Blasenbildung eintritt, da diese Blasen erfahrungsmäßig nur
langsam heilen. Auch in der Form des Pflasters bzw. in der der Senfpackungen
(s. später) wird das in ihnen zur Entwicklung gelangende bzw. vorhandene Senföl
äußerlich zur Anwendung gebracht, die zum mindesten außerordentlich schmerzlindernd
wirken (s. o.). Daß außer den genannten Mitteln noch eine ganze Reihe, die Haut
mehr oder weniger reizender Linimente, Extrakte usw. in Gebrauch ist, so z. B. das
Antiphiogistine — enthaltend Aluminiumsilikat, Glyzerin, Bor- und Salizylsäure, Jod
und verschiedene ätherische Öle, das Pain expeller, aus Kampfer, Salmiakgeist und
Tct. Mezerei hergestellt u. a. m., brauche ich wohl kaum zu erwähnen. Sie alle wirken
mehr oder weniger Hyperämie erzeugend und tun, abwechselnd gebraucht —• denn bei
allen chronischen Gelenkentzündungen ist naturgemäß ein wiederholter Wechsel in den
arzneilichen wie auch in den physikalisch-therapeutischen Anwendungen besonders wirk¬
sam und darum notwendig —, immer wieder gute Dienste.
Physikalische Therapie.
Bei den Anwendungsformen der physikalischen Therapie, die für die Behänd-
lang der chronischen Gelenkentzündungen in weit größerem Umfange herangezogen
zu werden pflegt, als die arzneiliche, ist zwischen allgemeinen und örtlichen zu
unterscheiden. Während die ersteren den ganzen Körper betreffen und vor allem
seinen Stoffwechsel beeinflussen sollen, wenden sich die örtlichen, wie der Name
sagt, an die betreffenden Gelenke bzw. an den Sitz der Erkrankung selbst und
unmittelbar.
Bevor ich an die Beschreibung der einzelnen physikalischen Methoden gehe, sei nur
kurz des Einflusses der Witterung bzw. des Klimas Erwähnung getan. Es ist eine alt¬
bekannte Tatsache, daß Witterungswechsel und feuchte — besonders feucht-kalte Witte¬
rung — von den Arthritikern Behr empfanden, vielfach schon vor ihrem Eintritt geahnt
werden. Es ist deshalb von nicht zu unterschätzender Bedeutung, daß bei etwa mög¬
licher Auswahl des Wohnortes auf diesen Umstand geachtet und Orte mit mehr trockenem
Klima dazu gewählt werden. Ein Aufenthalt in rauher Jahreszeit in Egypten, Bisbra
und Algier, oder auch Arco, Meran usw. ist solchen Patienten, wenn es ihre Verhältnisse
gestatten, sehr anzuempfehlen. Bei den arbeitenden Kreisen sind Arbeitsstätten, die
feucht sind und eine Beschäftigung in und mit Feuchtem dringend zu widerraten.
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSfTY OF MICHfGAN
438
Walter Krebs
Hydrotherapie. Von den allgemeinen hydriatischen Anwendungen nenne
ich die heißen Vollbäder, die indifferenten Dauerbäder und die Dampf¬
bäder. Die Technik der Vollbäder würde so sein, daß Temperaturen von
38 bis 40 bis 42° C für 15 bis 20 Min. angewendet werden, bei einer Anfangswärme
von ca. 36° C und schnellen Steigerung auf die obigen Grade, sowie unter Vor¬
nahme der Kopfkühlung mittels kalter Kompressen oder dergleichen. Kranken mit
schwachen Herzen sind Temperaturen von 39 bis 42° C gemeinhin nicht zuträglich,
weswegen eine sorgfältige Herzuntersuchung solchen Verordnungen stets voran¬
geben muß. Die Dauerbäder sollen gewöhnlich in indifferenten, vielleicht auch
etwas darüber hinausgehenden Temperaturen verabreicht werden, also 35 bis 30
bis 37° C und stundenlang am Tage oder gar wochen- und monatelang dauern.
Zu ihrer Vornahme wird man sich im privaten Haushalte in seltenstem Falle
entschließen, da entweder besondere Wannen und Apparate oder eine sehr zeit¬
raubende und wohlgeschulte Bedienung dafür erforderlich sind. Da bei chronischen
Gelenkveränderungen mit erheblichen Bewegungsbeeinträchtigungen aber diese
Bäder von sehr gutem Erfolge begleitet sind, zumal sie gleichzeitig als kineto-
therapeutische oder Bewegungsbäder wegen der größeren Leichtigkeit aller Bewe¬
gungen vermittels des Auftriebs des Wassers zu gebrauchen sind, so empfiehlt es
sich jedenfalls in schweren Fällen sehr, auf diese gegebenenfalls zurückzugreifen.
Die Dampfbäder werden entweder in allgemeinen, mit Dampf erfüllten
Räumen (russischen Bädern) oder noch besser in Dampfkästen, die sowohl für
liegende wie für sitzende Haltung konstruiert werden, genommen. Die Kasten¬
bäder sind vorzuziehen, da der Kopf des Badenden außerhalb dieser bleibt und
so der Patient nicht den heißen, infolge der Schweiß- usw. Ausdünstungen der
Mitbadenden oft unangenehm riechenden Dampf einzuatmen braucht, vielmehr in
kühlerer Atmosphäre sich befindet und kühlere und reinere Luft in sich aufnimmt.
Temperatur bis 40° und 42° C, Dauer 10 bis 15 bis 20 Min. Kontrolle des Pulses
wegen der Gefährdung des Herzens wie bei den heißen Wasserbädern erforderlich.
Von örtlichen Anwendungen kommen lokale heiße Bäder (40 bis 42° C,
30 bis 45 Min. Dauer) ev. unter Zusatz von 4 bis 5 °/ 0 Sole- oder Kochsalz, oder
wechselwarme Gelenkbäder (40° C 50 Sek. + 12° C 10 Sek. in mehrfachem
Wechsel) mit nachfolgender tüchtiger Trockenreibung und Umlegung eines dicken
trockenen ev. Flanell verbandes — bei Ergüssen unter gleichzeitiger Kompression
— oder eines hydropathischen Umschlages in Betracht. Ferner heiße (40 bis
42° C) kurzdauernde oder kalte — 1 Minute höchstens — und wechselarme (letztere
in Temperatur und Wechsel, ähnlich wie die wechselwarmen örtlichen Bäder)
Strahlenduschen, wobei bemerkt wird, daß alle heißen Duschen und Teilbäder
zweckmäßig mit ganz kurzen kalten Anwendungen gleicher Art beendet werden
sollen. Auch heiße Wasserumschläge, die 42° C heiß angelegt und von dicken,
wollenen Tüchern bedeckt, alle 10 Minuten gewechselt und wiederholt am Tage
stundenlang vorgenommen werden, wirken, ebenso wie die sogenannten Dampf¬
kompressen, in vielen Fällen recht günstig. Die Dampfkompressen werden so
angelegt, daß ein mehrfach gefaltetes, wollenes bzw. Flanelltuch auf oder um das
Gelenk gelegt und in dieses hinein ein heißes (45° C) nasses Tuch gelegt wird,
so zwar, daß es nur durch eine Flanellscbicht von der Haut getrennt wird und
nach außen hin die übrigen Schichten zu liegen kommen. So zieht der heiße
□ igitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Zur nichtchirurgischen Behandlung der chronischen Arthriiiden.
439
Dunst in die Poren des weichen Gewebes ein und bildet gewissermaßen eine
Dnnsthülle nm das Gelenk. Auch diese heißen Wasserkompressen werden gemein¬
hin alle 10 Minuten erneut in die Flanelltücher geschoben.
Im Anschluß an alle örtlichen Wärmeprozeduren lasse ich gern dicke, wollene
•oder baumwollene Handschuhe an den Händen, an anderen Gelenken entsprechende
Kappen oder Stauchen Tag und Nacht tragen,, wodurch zum mindesten auf die
Schmerzen recht günstig eingewirkt wird. — Der Einfluß hydropathischer oder
erregender (Prießnitzscher) Umschläge tritt bei chronischen Arthritiden meist nicht
in dem Maße zutage wie bei akuten; setzt man ihnen aber zur Hälfte Alcohol
-absol. hinzu oder nimmt an ihrer Stelle seine Zuflucht zu reinen Alkoholum¬
schlägen, so sind auch die Erfolge solcher Umschläge häufig sehr gut und be¬
sonders bei Rezidiven schnell in die Erscheinung tretend.
Die Anwendung des Wassers in Dampfform geschieht örtlich mittels der
Dusche, der der Dampf entweder aus vorhandenen Dampfleitungen oder auch aus
Kleinen, besonders konstruierten Apparaten (Firma Moosdorf & Hochhäusler-Berlin)
zugeführt wird. Dauer 15 bis 20 Min. Ihre sehr günstige Wirkung kann noch
gesteigert werden durch gleichzeitige Massage, da bei der starken Durchtränkung
der Gewebe mit Blut und Lymphe infolge der Dusche ein Zerkleinern etwaiger
Entzündungsreste und ihr Hineinschaffen in die Zirkulation durch die Massage
besonders gut gelingt.
Über die physiologische Wirkung der thermischen Anwendungen, auch der
hydriatischen, siehe nachher.
Trockene thermo-therapeutische Anwendungen.
Die heißen Luftbäder sowohl in Form der gemeinsamen irisch-römischen
wie auch in derjenigen der modernen, m. E. mehr zu bevorzugenden Kasten¬
bäder, wie auch die Glühlichtbäder, von denen es eine Reihe von Sonder¬
arten gibt, sind geeignet, den Stoffwechsel zu erhöhen und eine verstärkte Zirku¬
lation in den peripheren Geweben und Körperteilen herbeizuführen: sie wirken
weniger erregend auf das Herz wie die heißen Wasser- und Dampfbäder, bedingen
auch nur geringere Wärmestauungen und damit Temperatursteigerungen im Innern
und können deswegen bei höheren Temperaturgraden und für längere Dauer ge¬
nommen werden. Immerhin würde ich empfehlen, sie nicht über Stunde bis
20 Min. auszudehnen — vorausgesetzt, daß die Anfangstemperatur sich bereits
über die der Körperoberfläche erhob, und die Endtemperatur nicht über 45 bis
£0° C zu steigern. Jedenfalls sind die sehr hohen Temperaturen bis 70° C und
darüber — auf deren Erreichung die Patienten oft selbst drängen, nicht erforder¬
lich, ja nicht einmal im Interesse der Herzschonung wünschenswert, zumal das
Schweißoptimum schon bei 50° C liegt und Temperaturen darüber also einer ver¬
stärkten Schweißabsonderung nicht nur nicht zu-, sondern höchstens abträglich
sind. Will man die im Gange befindliche Schweißabsonderung mit der Beendigung
des Bades nicht abschließen, sondern noch einige Zeit fortsetzen, so läßt man die
Kranken, gleichwie nach anderen allgemeinen Wärmeanwendungen, in wollene
Decken gewickelt bzw. gut zugedeckt, auf Ruhebetten V 2 bis 1 Stunde liegen,
nachschwitzen und nachher mit kalter Wasser- oder Spirituslösung flüchtig ab-
waschen oder duschen usw. und darnach trocken reiben.
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
440
Walter Krebs
Zum Gebrauche in liegender Haltung und deswegen bequem im Bett an¬
wendbar ist eine Reihe von Heißluftapparaten konstruiert, von dene^ ich nur den
Hilzingerschen nenne, der nicht nur als Voll-, sondern auch für die verschiedensten
Körperteile als Teilbad zu benutzen ist. Auch sogenannte Lichtmulden, die über
den Liegenden gedeckt und innen mit einer Anzahl von Glühlampen armiert sind,
werden zu gleichen Zwecken und mit gutem Erfolge verwandt.
Die Glühlichtbäder sind den Heißlnftbädera deswegen vorzustellen, weil der Schwei߬
ausbruch — vermöge der in ihnen vorhandenen Wärmestrahlung — bei niedrigeren
Temperaturen und nach kürzerer Zeit gemeinhin erfolgt als bei den Heißluftbädern und
sie infolgedessen für schonender angesehen werden müssen. Den bei manchen Glühlicht¬
bädern gleichzeitig vorhandenen Bogenlampen einen besonderen Wert bei der Erzeugung
von Schweiß und Erhöhung des Stoffwechsels beizumessen, dürfte, m. E., kein Grund
vorliegen.
Einen energischeren, ich möchte sagen, sichtbareren Einfluß als die allge¬
meinen Heißluftprozeduren üben im allgemeinen die thermischen Teilluftan¬
wendungen, die sich unmittelbar an den Sitz der Erkrankung selbst wenden,
auf die chronischen Arthritiden aus. Alle örtlichen Wärmeanwendungen führen
eine mehr weniger aktive Hyperämie herbei, die auf einer Reizung der Vasodila-
toren, unabhängig vom Zentralnervensystem und den großen Nervensträngen, be¬
ruht. Diese Hyperämie beschränkt sich nicht nur auf die äußere Bedeckung,
sondern geht auch allmählich in die Tiefe, vorausgesetzt, daß die Wärmeanwen¬
dung genügend heiß und langdauernd ist. Ihre Wirkung ist eine mannigfaltige:
sie besteht einmal in Steigerung des örtlichen Stoffwechsels, dann aber auch ferner
in der Herabsetzung des Schmerzes, Beschleunigung der Bewegung der Gewebs-
säfte, wie auch der Blutzirkulation und in der Hervorrufung von Schweiß; ferner
werden Ernährung und Resorption gefördert, die Auflösung krankhafter, fester
Stoffe bewerkstelligt und vorhandene Bakterien abgetötet oder abgeschwächt (Bier).
Schaeffer ist freilich auf Grund seiner Untersuchungen geneigt, bei der Hitze nnd
auch bei der Spiritusbehandlung der erhöhten Lymphzirkulation eine noch höhere
Rolle zu zuerkennen als der Hyperämie und betont, daß auf dem Wege des Gas¬
austausches die Hyperämie wob! viel zu leisten vermöge (Erhöhung des Oxyda¬
tionsprozesses), daß für die Wirkung flüssiger Substanzen (besonders Antikörper)
aber doch wohl nur die lymphatische Flüssigkeit in Betracht käme. Es braucht
wohl kaum gesagt zu werden, daß ähnlich wie diesen Wirkungen der örtlich an¬
gewendeten trockenen Wärme auch die der feuchten Wärme sind. Zu bemerken
ist aber, daß die feuchte Wärme, besonders in Form des Dampfstrahls, von hoher
Spannung nach den Anschauungen Briegers, energischer in die Tiefe wirkt und
die durch ihn bewirkte Hyperämie von längerer Dauer ist.
Ob man nun die trockene Wärme in Form der zuerst von Bier angegebenen,
seither in zahlreichen Konstruktionen mit den verschiedensten Abänderungen ver¬
sehenen Heißluftkästen, deren Gestalt meist der Sonderheit eines jeden Gelenks
angepaßt ist, angewendet oder in Form der elektrisch geheizten Elektrotherm-
kastens (Lindemann), dürfte ohne grundsätzliche Bedeutung sein. Jedenfalls
empfiehlt es sich, bei der Vornahme dieser heißen Teilluftbäder, deren Dauer
i/ 2 bis 1 Stunde betragen soll, den Körper sowohl, wie auch besonders das er¬
krankte Gelenk so zu lagern, daß nicht im Laufe der Anwendung selbst und
\
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Zar nichtchirargischen Behandlung der chronischen Arthritiden.
441
hinterher Erscheinungen — wie Kopfschmerzen, Mattigkeit, Übelkeit, Herzklopfen
und anch Schmerzen im Gelenk selbst — auftreten, die oft weniger eine unmittel¬
bare Folge der angewandten Temperatur als vielmehr der falschen Lagerung des
Patienten und des Gelenkes sind. Sind mehrere Gelenke zu behandeln, so wählt
man nach Biers Vorschlag die schlimmsten Gelenke aus und behandelt diese;
dabei mag die mehrfach bestätigte Erfahrung erwähnt werden, daß anch die nicht
behandelten Gelenke sich gleichzeitig oft an der Besserung beteiligen.
Die Temperaturen in den Kästen erreichen sehr bald beträchtliche Höhe,
sind jedoch in den verschiedenen Luftschichten sehr nnterschiedlicb, so daß die
an dem meist in der oberen Fläche angebrachten Thermometer ablesbaren
Temperaturen entschieden weit höhere Grade anzeigen als in der nächsten Um¬
gebung des betreffenden Körpergelenks tatsächlich herrschen.
An Stelle der lokalen Heißluft- oder Lichtkästen werden auch mit gutem
Erfolg die Heißluftdusche (Vorstädter), der Fönapparat — der mittels elektrischen
Stromes die Luft erhitzt —, die Stangerotherme oder Elektrothermkompresse der
verschiedensten Form — chemisch reines Asbestgewebe, in das biegsame, von
elektrischem Strom erwärmte Widerstandsdrähte eingelagert sind, und der Bogen-
lichtreflektor benutzt. Ob neben der Wärme, die der letztere entwickelt und die
besonders im Brennpunkt der vom Hohlspiegel zurückgeworfenen Lichtstrahlen
der Kohlenstiftlampe stark bemerkbar ist, auch die blanen bzw. violetten nnd
ultravioletten Strahlen des Bogenlichts noch eine spezifische, die Hyperämie ver¬
stärkende Wirksamkeit enthalten, steht noch dahin. Dem Bogenreflektor zunächst
steht die Quecksilberquarzlampe, auch künstliche Höhensonne genannt —, deren
Licht kalt, andererseits aber reich an violetten und ultravioletten Strahlen ist —,
nnd nicht nur Hyperämie erzeugend auf den bestrahlten Körperteil, sondern auch
stoffwechselfördernd wirkt.
Aber nicht nur die „künstliche Höhensonne“, sondern auch selbstverständlich
die natürliche Sonne wirkt in hohem Maße günstig auf alle chronischen Gelenk¬
prozesse: in warmer Jahreszeit setzt man die leicht eingefetteten Gelenke 1 / 2 bis
1 Stunde lang der unmittelbaren Sonnenbestrahlung aus, in kühlerer Zeit nimmt
man diese im Zimmer nnweit der geschlossenen Fenster vor.
Auch der elektrische Strom als solcher wirkt erfahrungsgemäß gefäßerweiternd,
damit hyperämisierend und schmerzstillend: sowohl der galvanische und der
galvanofaradische wie auch der faradische Strom, der mittels großer, das Gelenk
zu einem großen Teil umfassenden Elektroden oder aber anch im Vierzellenbad
appliziert wird, besitzen diese Eigenschaft und können bei hartnäckiger Er¬
krankung, bei denen wieder und immer wieder ein Wechsel der Behandlungs¬
methoden vorgenommen werden muß, mit begründeter Aussicht auf einen Erfolg
empfohlen werden (s. a. Mann, Elektrotherapie im Handbuch der physikalischen
Therapie).
Ein in den letzten Jahren besonders viel angewandtes Verfahren darf hier
nicht unerwähnt bleiben, es ist dasjenige der Diathermie, bei der Hochfrequenz-
Wechselströme mittels schmiegsamer Elektroden, die der Haut dicht anliegen
müssen, in den Körper geleitet werden, sich bei Hindurchfließen analog dem
Jouleschen Gesetz in Wärme umsetzen nnd ohne elektrische Beizwirkung auf das
Protoplasma sind. Diese Durchwärmung, die nicht anf dem Wege der Leitung
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
442 W. Krebs, Zur nichtchirurgischen Behandlung der chronischen Arthritiden.
oder Strahlung, sondern auf Grand eines eigentümlichen Umformungsprozesses im
Innern des Körpers entsteht, tritt besonders schnell in den tiefen Geweben ein,
schneller als bei Anwendung jeder anderen Art von thermischen Prozeduren und
wirkt nicht nur ungemein günstig auf die Schmerzen ein, sondern bedingt auch
eine stärkere Durchblutung und somit die Möglichkeit erhöhter Resorption krank¬
hafter Depots. Besonders bei der chronischen Arthritis deformans der Wirbel¬
säule, deren Schmerzen oft so ungemein hartnäckig und quälend sind, hat mir der
Diathermieapparat fast ausnahmslos die besten Dienste bezüglich der Schmerz¬
linderung und Wiederherstellung der Beweglichkeit geleistet.
Auch die Röntgenstrahlen üben auf den Verlauf und die Erscheinungen der
chronischen Arthritiden einen oft unverkennbaren guten Einfluß aus, nicht nur,
daß sich Bewegungen und Schwellungen bessern, sondern sie wirken auch in
besonderem Maße auf die Schmerzen schnell und günstig ein, und zwar auch wieder
infolge von Hyperämiewirkung. Eine Kombination mit hydro-therapeutischen
Anwendungen, die zweckmäßig in unmittelbarem Anschluß an die Bestrahlung
vorzunehmen sind, ist wohl zu empfehlen (Kienböck, Sakolow, Eschrich u. a.).
Im Zusammenhang mit den Röntgenstrahlen sei auch noch gleichzeitig der
Radiumstrahlen gedacht, die gemeinhin in Form der Emanationen — (der gas¬
förmigen Umwandlungsprodukte des Radiums) — zur Verwendung gelangen. Sie
werden außer auf dem selteneren Wege der subkutanen Einspritzung — Braun¬
stein — meist mittels Bäder-, Trink- und Inhalationskuren dem Körper einver¬
leibt, und zwar nicht nur an Ort und Stelle der Gewinnung des Radiums — bzw.
an den Heilbädern selbst, sondern auch zwecks Vornahme von Hauskuren an
jedem beliebigen Orte, da es die Industrie sehr bald ermöglicht hat, diese
Emanationen überall mittels Emanatoren zu erzeugen. Welche Art der Einver¬
leibung vorzuziehen ist, steht noch dahin; bezüglich des Gebrauchs der Radium¬
bäder verdient jedenfalls die Vorschrift Beachtung, daß die Patienten nach dem
Bade nicht abgeduscht oder abgerieben werden sollen, sondern noch ’/a bis 1 Stunde
in einer Badedecke eingeschlagen liegen müssen, damit die Emanation, die sich
auf der Haut niederschlägt, noch längere Zeit auf sie einwirkt; am zweckmäßigsten
geschieht diese Liegekur im Baderaum selbst, damit der Kranke die aus dem
Wasser entsteigende Emanation noch einatmet, wobei erwähnt werden mag, daß
eine Reihe Autoren dieser Einatmung mehr Wert beimißt als der äußerlichen An¬
wendung der Emanation in Bäderform.
In welcher Weise man sich die Wirkung der Radiumemanation vorzustellen hat, ist noch
unklar; die bisherigen Beobachtungen und Erfahrungen lassen aber annehmen, daß sie
auf eine gesteigerte Funktion autolytischer Fermente bei chronischen Entzündungen nicht
ohne Einfluß zu sein scheint, und daß auch der respiratorische Stoffwechsel durch die
Radiogentrinkkur erhöht wird. Die von einigen Autoren gefundene vermehrte Harnsäure¬
ausscheidung im Urin bei der Gicht (Gudzent) und das Verschwinden der Harnsäure
im Blut konnte von anderen (B rüg sch) nicht bestätigt werden. Auch für die obige
Einwirkung auf die Harnsäure wurde von Gudzent die Beeinflussung bzw. Aktivierung
der Fermente des Purinstoffwechsels durch die Radiumemanation als Ursache angenommen.
(Schluß folgt.)
\
□ igitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Berichte Uber Kongresse und Vereine.
443
Berichte über Kongresse und Vereine.
Waffenbrfiderliche Vereinigungen Deutschlands und Österreich-Ungarns.
1.Tagung der medizinischen Abteilungen vom 11. bis 13. Oktober 1917 in Baden b. Wien.
n.
Sitzung vom 12. Oktober 1917 vormittags.
Vorsitzende: Wirkl. Geh. Obermedizinalrat, Ministerialdirektor Prof. Dr. Kirchner,
Landessanitätsreferent Hofrat Dr. v. Hel ly.
Schriftführer: Dr. Thenen, Dr. v. Aufschnaiter.
Geheimer Medizinalrat Professor Dr. W. His (Berlin): Bäder- und Klimabehandlung
der Erkrankung der Harnorgane. Unter den Ursachen der Nephritis nimmt die Erkältung
eine Hauptrolle ein. Eine besondere Form der Nephritis tritt seit Frühjahr 1915 seuchenartig
auf; diese Form ist höchstwahrscheinlich infektiös und setzt der Therapie in vielen Fällen die
größten Schwierigkeiten entgegen. Wenn auch die ärgsten alarmierenden Erscheinungen des
Ödems und der Urämie meist überraschend schnell zu schwinden pflegen, so dauert es in vielen
Fällen sehr lange, bis Heilung eintritt Auch der Übergang in chronische Induration ist nicht
selten. Derartige nach Tausenden zählende Fälle sind es, die eine balneologische oder klima¬
tische Behandlung nahelegen. Heute werden Trinkkuren nur mit großen Einschränkungen und
nur für ganz bestimmte Fälle empfohlen. Mineralwasserkuren üben an sich auf die Heilung
akuter Nierenentzündungen keinen Einfluß aus, dennoch ist es von großem Nutzen gewesen,
daß die Sanitätsbehörden einige geeignete Kurorte speziell zu Lazaretten für Nierenkranke aus¬
gestattet haben. Der Wert eines Kurortes ist ja mit seinen Heilquellen nicht erschöpft; er um¬
faßt außerdem die klimatischen Faktoren, die zur Pflege geschaffenen Einrichtungen und vor
allem tüchtige und erfahrene Ärzte. Daher hat der Senat der Kaiser Wilhelm-Akademie sich
für die Einrichtung besonderer Stationen für Nierenkranke ausgesprochen. Ein besonderes
Wort verdient die klimatische Behandlung langwieriger Nierenentzündungen. Die klimatische
Behandlung kann für ausgewählte Fälle von Nutzen sein, nicht im Sinne einer eigentlichen Heil¬
wirkung klimatischer Faktoren, sondern durch Fernhalten von Schädigungen besonders während
der kalten Jahreszeit Den Mineralwasserkuren kommt eine spezifische Wirkung weder auf die
Diurese noch auf die Abscheidung harnfähiger Bestandteile zu. Dennoch wird man die schwach-
mineralisierten Quellen als leicht resorbierbare Wässer im Lazarett wie auch im Kurort gern
verwenden.
Professor Dr. A. Strasser (Wien): erscheint in extenso.
Professor Dr. Hugo Salomon (Wien): Bezüglich der Ätiologie der Nephritis kann ich
die Bemerkung nicht unterdrücken, daß die Impfung als ätiologischer Faktor doch vielleicht
nicht so sicher zu verneinen ist wie das bisher geschah.
Zumeist ist die Art der akuten Glomerulo-Nephritis ganz derjenigen ähnlich, wie wir sie
nach akuten Infektionen zu sehen gewohnt sind. Ich muß hier meinem geehrten Vorredner
widersprechen, welcher in der starken Neigung zur Blutung und in der starken Diurese der
Feldnephritis eine Besonderheit sieht. Meines Erachtens ist dieselbe Stärke der Blutung bei
zahlreichen postanginösen Nierenentzündungen genau so und die reichliche Diurese erklärt sich
aus der durchgehende sofort angewendeten kochsalzfreien Kost Die Art der Nephritis wäre
also durchaus mit einer durch Bakterientoxine ausgelösten vereinbar.
Die relative Seltenheit des Anschließens . einer Nephritis au die spontan . auftretenden
Heeresseuchen ist wohl auch kein zwingender Gegenbeweis, denn die Impfung wird eben doch
sehr allgemein und wiederholt durchgeführt, ;
Zeit«chr. f. physik. u. diät. Therapie Bd. XXII. lieft 11. 30
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
444
Berichte über Kongresse und Vereine.
In den sehr heißen und trockenen Sommermonaten des Jahres 1917, in denen Nässe und
Kälte als ursächliche Faktoren nur wenig in Betracht kommen konnten, habe ich bei 71 gerade
eingelieferten Nephritikern dem Faktor der Impfung Beachtung geschenkt. Man darf dabei
nicht außer acht lassen, daß bei der Häufigkeit der Impfung (wohl etwa alle halben Jahre)
natürlich jeder Nephritiker nicht allzulange nach einer Impfung erkrankt sein muß. Von den
genanntem 71 Mann waren 31 = 43,6 % nachweisbar innerhalb der ersten acht Wochen nach
der letzten Typhusimpfung erkrankt, 10 = rund 14% innerhalb der ersten 14 Tage.
Es ist übrigens über Albuminurie nach der Impfung mehrfach berichtet worden, kürzlich
zum Beispiel von Eich (Deutsche Medizinische Wochenschrift vom 26. Juli 1917; unter 600 vor
der Typhusimpfung eiweißfreien 3 % Albuminurie).
Was die Car eil kur betrifft, so erscheint sie mir bei ödematösen Nephritikern im Gegen¬
satz zu dem Verhalten der Herzkranken überflüssig. Es genügt einfache salzfreie Kost, da die
mit der Carellkur verbundene und für den Herzkranken wohltätige Einschränkung des Nahnmgs-
volums hier meist überflüssig ist.
Will man aber Carellkur anwenden und hat keine Milch, so erscheint mir in der Tat
die von Jagic und mir (Wiener klin. Wochenschrift 1917) vorgeschlagene Darreichung von 1 kg
Kartoffeln (ohne Salz) und 1 Liter Wasser, resp. Fruchtsaft, als das beste Verfahren. Denn es
erspart die Salzmenge, die in den von Strass er vorgeschlagenen Semmeln enthalten ist, und
gibt außerdem noch durch die in den Kartoffeln enthaltenen Kalisalze einen Anreiz für die
Chlornatriumausscheidung.
Aussprache. Wirklicher Geheimer Obermedizinalrat, Ministerialdirektor Dr. Kirchner
(Berlin): Ich bitte um die Erlaubnis, zu dem Vortrage des Herrn Geheimrates His nur zwei
Bemerkungen machen zu dürfen. Die erste bezieht sich auf die Statistik des Herrn Prof. Salomon,
nach der der Eindruck entstehen muß, als wenn die Kriegsnephritis in zahlreichen Fällen die
Folge der Typhusschutzimpfung wäre. Er führte an, daß 46 % seiner Fälle Patienten betrifft,
die gegen Typhus geimpft waren. Meine Herren! Diese Statistik kann ich als richtig nicht
anerkennen. Wenn sämtliche 10 Millionen Soldaten, die gegen Typhus schutzgeimpft worden
sind, auf die Folgen einer Nephritis untersucht wären und wenn 46 % der Leute an Nephritis
erkrankt wären, dann hätte Herr Salomon recht. Wenn aber zufällig unter seinen Nephritis¬
fällen 46 % an Nephritis erkrankt sind, so beweist das gegen die Typhusschutzimpfung nichts.
Dagegen möchte ich darauf aufmerksam machen, daß wir im Herbst 1914 ziemlich viel Typhus
in der Armee gehabt haben und daß der Typhus wie abgeschnitten war» als wir daran über¬
gingen, die ganze Armee gegen Typhus zu impfen. Was wäre wohl aus uns geworden, wenn
wir diese Maßregel nicht ergriffen hätten? Wir würden sicher nicht hätten siegen können.
Meine zweite Bemerkung richtet sich gegen meinen verehrten Freund, Herrn Geheimrat His.
Herr His hat gemeint, man hätt£ früher viel von der schonenden Behandlung der Nephritis
gehalten und deswegen die klimatischen Faktoren milder Klimate, z. B. in Ägypten, angeführt.
Diese Ansicht ist aber durch Löwy als unberechtigt erwiesen worden. Ich habe mich wieder¬
holt in Ägypten aufgehalten und im Jahre 1905 mich dahin ausgesprochen, die schonende Be¬
handlung sei bei Nephritikern sehr wichtig und sie könne gut durchgeführt werden in Ägypten,
dort hätten zu gewissen Jahreszeiten die Nieren und das Herz sozusagen Ferien. Diese An¬
schauung halte ich aufrecht gegenüber der Arbeit von Löwy, die ich aufmerksam gelesen habe.
Die starke Insolation und viel zu relative Feuchtigkeit der Luft in Ägypten, nebenbei wieder
im Wendekreis, leisten Wunderdinge. Das habe ich wiederholt feststellen können. Da wir von
den südlichen Gegenden jetzt abgeschlossen sind, sollten wir an anderen Orten studieren, ob
da nicht ähnliche Verhältnisse vorhanden sind oder aber geschaffen werden können. Ich möchte
mit einer allgemeinen Bemerkung schließen. Meiner Meinung nach sind unsere Bäder und Kur¬
orte noch lange nicht genug in den Dienst der Therapie gestellt worden. Tch bin äuch der
Ansicht, daß die Regierungen mehr als bisher für den Ausbau der Bäderfürsorge tun sollen.
Die Badeärzte aber würden sich ein Verdienst erwerben, wenn sie nicht nur die Kranken und
Bäder ihrer Kurorte studieren würden, sondern auch alle Heilfaktoren, die dort sind, vor allem
auch die klimatischen, in den Dienst der Kranken stellen würden. Dann würden sie sich um
die leidende Menschheit hochverdient machen.
Regimentsarzt Privatdozent Dr. Julius Schütz (Wien) sieht in den Worten des Vor¬
tragenden, daß Nierenkranke nie felddiensttauglich werden, eine Bestätigung der Ausführungen
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Berichte über Kongresse und Vereine.
445
seiner Publikationen, daß bei einer Reihe von Fällen die Funktionsprüfung ein gesteigertes
Konzentrationsvermögen zeigte. Die Trinkkurbehandlung bei Nephritis scheint heute noch eine
strittige Frage zu sein. Schütz möchte die Aufmerksamkeit auf die kohlensauren Bäder, und
zwar vom Standpunkte der kardialen Therapie, lenken. Besonders dankenswert ist der Hinweis
des Vortragenden darauf, daß wir in den einzelnen Kurorten nicht bloß auf die £urmittel,
sondern auch auf die Tätigkeit des Arztes besonders Gewicht legen müssen. Man darf nicht
vergessen, daß die Mineralquellen erst in der Hand des Arztes zu Heilquellen werden.
Stadtphysikus Dr. Karl Zörkendorfer (Marienbad): Die vor dem Kriege im baineo¬
logischen Institut zu Marienbad durch mehr als ein Jahrzehnt ausgedehnten Beobachtungen
hatten auffallende Erfolge der Marienbader Kurmittel bei Nephritikern erkennen lassen; es lag
nun auf der Hand, auf Grund dieser Beobachtungen die Kriegsnephritis in den Bereich der
balneologischen Behandlung mit Marienbader Quellen einzubeziehen. Dazu kam noch, daß die an¬
dere Gruppe der Nierenerkrankungen, die in das Spezialgebiet der Urologie gehört, schon seit
langer Zeit zum Indikationsgebiet Marienbads gehören, daß ihnen durch Errichtung einer uro-
logischen Klinik Rechnung getragen wurde. Während aber diese letztere Gruppe, die urologische,
mit den erdigen Quellen vom Typus der Rudolfsquelle behandelt wird, ist der günstige Erfolg
bei den Nephritiden und Nephrosen dem Gebrauch der alkalisch-salinischen Wässer, dem Kreuz¬
brunnen- und Ferdinandsbrunnentypus, zuzuschreiben, wobei wir eine Nierenschonung durch
Ableitung auf den Darm annehmen.
Die Fälle von Kriegsnepbritis, die jetzt beobachtet werden, sind fast ausschließlich beinahe
noch im akuten oder im abklingenden akuten und subakuten*Stadium, meist hämorrhagische
Formen, stellen also ein ganz anderes Bild dar, als man sonst in Kurorten zu sehen gewohnt
ist. Ob bei diesen Formen nicht auch die erdigen Quellen oder mehr die alkalisch-salinischen
Quellen vorzuziehen sind, wird durch Beobachtung zu erweisen sein. Solche frischere Fälle
werden aber naturgemäß nach Ablauf des"Krieges verschwinden und dann der definitiven Nieren¬
heilstätte nur chronische Fälle zur Behandlung zufallen, die sich kaum viel von den chronischen
Nephritiden unterscheiden dürften, die wir vor dem Kriege zu sehen gewohnt waren. Da die
Beobachtungen bei solchen chronischen Erkrankungen sich auf ein sehr großes Material stützen,
ist man vollberechtigt, anzunehmen, daß dieselben Erfolge sich auch bei den chronisch gewor¬
denen Kriegsnephritiden einstellen werden und die Nierenheilstätte sich als wichtiges Glied in
die Heilbehelfe einreihen wird. Dabei wird ganz naturgemäß eine Gliederung der Marienbader
Nierenheilstätte in zwei Abteilungen eintreten, wovon die eine, die für Nephritiker, besonders
die Trinkkuren mit Kreuzbrunnen und Ferdinandsbrunnen, die andere, die urologische Abteilung,
besonders die mit den Rudolfsquellen pflegen wird, während die Kohlensäure- und Moorbäder und
die übrigen Heilmittel Marienbads in beiden Gruppen wichtige Unterstützung darstellen werden.
Professor Dr. Winternitz (Halle): Herr Geheimer Rat His hat die Wirksamkeit von
Trink- und Brunnenkuren sowie der klimatischen Faktoren durchaus anerkannt, aber doch ander¬
seits den Standpunkt vertreten, daß es keine eigentlichen Nierenheilbäder gibt. Wir
dürfen dem voll beipfiichten und es begrüßen, wenn diese Auffassung einmal auch klar aus¬
gesprochen wird. Das gibt uns im Heimatland eine sehr erwünschte Stütze bei der so häufig
nötigen begutachtenden Überprüfung von Kuranträgen für nierenkranke Kriegsteilnehmer. Im
Grunde genommen leistet ein Nierenspital in Marienbad, Wildungen o. dgl. für die Nierenkrank¬
heiten sicher nicht mehr als ein entsprechend eingerichtetes Lazarett an irgendeinem anderen
Ort Für die Überweisung in ein sogenanntes Nierenheilbad werden daher nur die besonderen
Umstände des Falles maßgebend sein können.
OA. Dr. Max Löwy (Marienbad und Helouan bei Kairo): Hinweis, daß vielfach die baineo¬
therapeutischen Heilfaktoren indirekt wirken eben auf dem Wege über Nervensystem und
Zirkulation. Bei der Nephritis können ebenfalls Trinkkuren als auf das Splanchnikusgebiet,
Badekuren auf das periphere Gebiet wirksam nützlich werden, ähnlich das Klima. Im ägyptischen
Klima beobachtete Löwy die Verkürzung der dermographischen Reaktionszeit, wie sie bei uns
Vasoneurotiker zeigen.
Geheimer Medizinalrat Professor Dr. Küminell (Hamburg) hat in den Lazaretten der
Westfront eine Mortalität von 3% bei Nephritis konstatiert. In den Lazaretten wurden schwere
und schwerste Fälle mit Urämie und Anurie beobachtet. Bei allen diesen Fällen wurde zu dem
operativen Eingriffe der Entkapselung gegriffen. Auch in Fällen, bei denen die Anurie 4 bis
30*
Digitized by
Go" gle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
446
Berichte Uber Kongresse und Vereine.
5 Tage angehalten hat, hat die Entkapslung manchmal Erfolg gehabt Gestüzt auf die Friedens-
erfahrungen, sind wir auch bei der Kriegsnephritis an die Operation gegangen u. zw. mit gutem
Erfolg. Kümmell spricht nicht von klinischen Heilungen, sondern von der Beseitigung der
lebensgefährlichen Symptome.
Geheimer Medizinalrat Professor Dr. His (Schlußwort): Schutzimpfung ist nicht Ursache
der Nierenkrankheiten; in der türkischen Armee ist ausgiebig geimpft, dennoch fehlt die Kriegs¬
nephritis; bei uns geht die Zahl der Nephritiden zurück, obschon die Impfungen fortwährend
wiederholt werden. Die Genesenden können wieder felddienstfähig werden, müssen aber zwischen
Lazarett und Felddienst eine Belastungsprobe im Heimatdienst durchmachen. Der Nutzen des
Klimas und der Badekuren soll denen zugut^i kommen, die wirklich Vorteil davon haben: den
verzögert Genesenden und den durch langen Lazarettaufenthalt im Allgemeinbefinden Geschwächten;
für chronische Nephritiden gelten die Friedensindikationen.
Professor Dr. K. F. Wenckebach (Wien): BalneoLogische und Heilstätten¬
behandlung herzkranker Soldaten. (Erscheint in extenso.)
Generalarzt Geheimer Medizinalrat Dr. A. Hoffmann (Düsseldorf): Die von Herrn
Wenckebach gewählte Einteilung der Herz- und Kreislaufstörungen ist zum Zwecke der
gegenseitigen Verständigung gewiß praktisch zulässig, doch möchte ich meine Bedenken nicht
verhehlen dagegen, das zum Teil das klinisch funktionelle Verhalten, zum Teil die ätiologischen
Verhältnisse hierbei zum Ausgangspunkt gewählt sind. So zeigen sich namentlich in den
Gruppen 3, 4 und 5 fließende Übergänge unä Kombinationen, so daß eine scharfe Unterordnung
der einzelnen Krankheitsfälle unter eine dieser Nummern nicht möglich ist. Gruppe 1 und 2
umfassen die gewöhnlich „organische Herzleiden“ genannten Krankheitsbilder, 3, 4 und 5 die
funktionellen Herzkrankheiten.
Was nun meine persönlichen Erfahrungen anbertifft, so fällt weitaus die Mehrzahl der bei
Kriegsteilnehmern beobachteten Erkrankungen unter die Gruppe 3 bis 5, wobei wiederum die
Gruppe 5 den allergrößten Prozentsatz stellt. Sie ist von 4 schwer abzugrenzen, denn neben
einer morphologisch feststellbaren Konstitution haben wir auch eine funktionelle, beziehungs¬
weise psychische Konstitution zu unterscheiden.
Die Fälle der Gruppen 1 und 2 haben ihr Hauptkontignent unter den höheren Lebens¬
altern der Heeresangehörigen, besonders auch unter den älteren Offizieren, die, zum Teil schon
verabschiedet, aus Anlaß des Krieges wieder reaktiviert wurden. Die meisten verdanken ihr
Leiden nicht den Einwirkungen des .Krieges, sie waren vorher schwerkrank; aber ihre Krank¬
heit verschlimmerte sich unter jenen. Zu diesen gehören meiner Ansicht nach auch recht viel
abnorm Fettleibige. Gerade die Adipositas sollte bei der Beurteilung der Dienstfähigkeit be¬
sonders beachtet werden, denn die Herzen Fettleibiger neigen besonders zum Versagen.
Die Behandlung aller zu 1 und 2 gehörigen Fälle kann in Kurorten stattfinden und hier
sind die natürlichen Heilquellen besonders indiziert Wir besitzen in Deutschland und Österreich-
Ungarn zahlreiche Orte, die zur Behandlung solcher Kranker geeignet sind und an vielen Stellen
ließen sich kohlensaure Quellen mehr für solche Behandlungszwecke nutzbar machen, um der
schädlichen großen Anhäufung solcher Kranker an einzelnen Orten entgegenzuwirken.
Meine in höherem Aufträge ausgeführten Besuche von bekannten Herzbädern zeigten mir
aber, daß die dort untergebrachten kreislaufkranken Heeresangehörigen meist den Gruppen
3 bis 5, besonders 5 angehörten. Die erzielten Heilresultate waren aber nach eigener Angabe
der Ärzte recht unbefriedigend, besonders bei den Tachykardien, den sogenannten Herzklopfern,
die weitaus die größte Zahl bildeten. Diese Leute bilden ebenso wie einst die Zitterer unter
den Nervenkranken eine besondere therapeutische Schwierigkeit für uns. Ich möchte sie zu
jenen ganz in Parallele stellen. Auch hier handelt es sich um Fixation von körperlichen Re¬
aktionen auf Affekte. Nur hier liegen die Dinge besonders eigenartig. Während bei den
hysterischen Affektionen sich die Fixation auf im Bereich der willkürlich beweglichen Muskulatur
sich abspielende Affektreaktionen beschränkt, werden hier Organe betroffen, deren Innervation
von dem der Willkür nicht unmittelbar unterliegenden sympathischen und parasympathischen
autonomen Nervensystem erfolgt. Aber auch dies ist einer mittelbaren willkürlichen Beeinflussung
unterworfen. Bekannt sind die Selbstversuche Tarchanoff s, der sich eintibte, den Puls willkürlich
zu beschleunigen oder zu verlangsamen. Dies aber geschah auf dem Umweg über einepsychische
Vorstellung. Auch in der Hypnose gelingt es, den Puls zu beschleunigen und zu beruhigen.
V
Digitized by
Goc.gle
original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Berichte über Kongresse und Vereine. 447
Wir müssen gerade für diese Kranken eine individuelle Behandlungsmethode erstreben,
bei der die psychische Einwirkung das wesentliche ist, um über den Weg von Vorstellungen
der Fixation der Affektreaktion entgegenzuarbeiten.
Nicht eine mehr oder weniger schematische Bäder- und Übungskur ist hier wirksam,
sondern eine dem Einzelfall angepaßte Psychotherapie, wozu auch nützliche Beschäftigung ge¬
hört Natürlich kann dies auch in Badeorten geschehen; aber man muß sich dabei klar machen,
daß nicht die Quelle, sondern der Arzt heilt: non medicina sed medicus curat
Leider fehlt es bei uns bei der zerstreuten Unterbringung dieser Herzneurotiker an der.
Möglichkeit zu ausgedehnten Versuchen. Ein diagnostisches und therapeutisches Trommelfeuer,
wie es in manchen Badeorten auf die Patienten losgelassen wird, ist nicht am Platze, wohl
aber die beruhigende Einwirkung eines erfahrenen Arztes, dem es gelingt, die fixierten Befürch¬
tungen zu bannen und den Weg zur Unterdrückung der Reaktionen zu weisen.
Regimentsarzt Priv.-Doz. Dr. Rudolf Kaufmann (Wien): Über die Behandlung der
Herzerweiterungen mit kohlensauren Bädern. Als Chefarzt der Herzstation des k. k.
Reservespitales 16 in Wien habe ich reichlich Gelegenheit, die Wirkung der kohlensauren
Bäder, über welche die Station verfügt, auf im Feld erworbene oder verschlechterte Herzleiden
zu beobachten. Wenn ich heute nur über die Wirkung kohlensaurer Bäder auf eine Form der
Herzschädigungen, nämlich auf Herzerweiterungen, spreche, so geschieht das aus zwei Gründen,
erstens lassen bei uns eine Reihe von Erkrankungen, obwohl die Kranken und wir eine Besse¬
rung im Sinne einer Zunahme von Leistungsfähigkeit konstatieren, objektiv nachweisbare Ver¬
änderungen nach der Kur nicht konstatieren; bei Herzerweiterung aber sind wir mitunter tat¬
sächlich in der Lage, einen nachweisbaren Erfolg, nämlich eine Verkleinerung des Herzens
, unter dem Einfluß der Kurbäderbehandlung mit Hilfe von exakten Teleaufnahmen festzustellen.
Zweitens hat die Bedeutung der großen Herzen, welche so häufig bei den aus dem Feld heim¬
gekehrten Soldaten nachweisbar sind, noch keine einheitliche klinische Auffassung gefunden.
Die Vergrößerung der Herzen wird häufig, auch wenn sie einen höheren Grad erreicht, als
physiologische Reaktion auf die Feldstrapazen betrachtet. Daß das nicht der Fall ist, zeigte
eine Serie von 50 Teleaufnahmen der Herzen von Soldaten, welche 2 bis 3 Jahre ohne Herz¬
beschwerden Frontdienst geleistet haben und beschwerdefrei zurückgekommen sind. Diese
Herzen sind normal groß, manche eher klein; nur eine leichte Stufe am Übergang des linken
Vorhofs in die linke Ventrikelkontur zeigt eine von den Anstrengungen herrührende Hyper¬
trophie der Wand dieses Ventrikels an. Im Gegensatz dazu läßt sich an einer Serie von
50 Fällen von Herzvergrößerungen zeigen, daß diese Herzen, und zwar ein Teil derselben
in toto, ein Teil nur im linken Anteil, eine so starke Volumenzunahme aufweisen, daß
dieselbe sicher nicht allein durch Wandverdickung, sondern daß sie nur durch Wand¬
verdickung und Höhlenerweiterung oder auch durch Höhlenerweiterung allein erklärt werden
kann. In allen diesen Fällen waren im Feld Herzbeschweden aufgetreten, bei vielen erst
nach längerer Zeit. Obwohl über die Zukunft dieser Herzen gegenwärtig noch nichts Ab¬
schließendes gesagt werden kann, viele derselben wahrscheinlich nicht krank sind, so sind
doch die kleinen oder normal großen Herzen die leistungsfähigeren und es ist deshalb sicher
als ärztlicher Erfolg anzusehen, wenn es gelingt, Verkleinerungen von Herzerweiterungen
zu erzielen. Die Anzahl der Verkleinerungen, welche sich nach wochen- oder monate¬
langem Bestehen der Erweiterungen noch erzielen lassen, ist keine große. Sie ist immer¬
hin, wie darauf gerichtete exakte Untersuchungen an der Herzstation gezeigt haben, bei An¬
wendung von kohlensauren Bädern, wie bei Anwendung großer Digitalisdosen, größer als wenn
die Herzen sich selbst überlassen bleiben, und der Grad der Verkleinerungen kann ein be¬
trächtlicher sein. Die Erfahrungen an der Herzstation haben Anhaltspunkte gegeben, welche
es erleichtern, die Fälle von reinen Höhlenerweiterungen, welche bessere Chancen bei Ver¬
kleinerungsversuchen ergeben, von den Fällen dilatativer Hypertrophie zu sortieren. Die Er¬
weiterungen sind nämlich meist allseitige Vergrößerungen; sie gehen meist mit lauten weichen
Geräuchen an der Herzbasis einher und finden sich öfter bei schwächlichen Leuten, welche nicht
an Anstrengungen gewöhnt waren und es nicht lange im Feld ausgehalten haben. Es handelt
sich meist um junge Leute. Die Anwendung der kohlensauren Bädertherapie ist bei solchen
großen Herzen angezeigt und verspricht, je früher solche Fälle zur Behandlung kommen, desto
bessere baineotherapeutische Erfolge.
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
448
Referate über Bücher und Aufsätze.
Dr. Michael Guhr (Tätra Szäplak) stützt sich auf die klimatotherapeutische Erfahrung,
daß die Inzuffizienz des thyreotoxischen Herzens durch die Höhenluft (1000 m Meereshöhe, 48
bis 49° Breite) auch in den schwersten Fällen günstig beeinflußt wird.
Dieser Umstand ist bei der Behandlung basedowerkrankter Krieger ins Auge zu fassen.
Es gibt in Höhenkurorten auch spezielle Anstalten dafür.
Professor Dr. K. F. Wenckebach (Schlußwort) erklärt die Ansichten Hoffmanns als
zu optimistisch. Als ich an der Front 100 Leute untersuchte, fand ich bei vier Personen wirkliche
Veränderungen am Herzen. Diese Ziffer ist scheinbar gering, doch mit Bezug auf eine Armee
erreicht sie eine erschreckende Höhe. Leider haben wir auch in unserer Herzstation mit
500 Betten alle Formen der schweren Herzkrankheiten in großer Zahl zu behandeln gehabt.
Allzuleicht darf man aber die Sache nicht nehmen.
Referate über Bücher und Aufsätze.
A. Diätetisches (Ernährnngstherapie).
G. Klemperer und L. Dünner (Berlin),
Bemerkungen zur Diagnose nnd Therapie
der infektiösen Darmerkrankungen. Ther.
der Geg. 1917 H. 9.
Die Schwierigkeit, die echte Ruhr von der
akuten Enteritis zii unterscheiden, ist groß und
dadurch bedingt, daß die erstere nicht immer
mit Tenesmen und blutig-schleimigen Ent¬
leerungen einhergeht, während solche Stühle
bei der Enteritis auch ohne Geschwürsbildung
auftreten können. Im Krankenhaus Moabit
wurden vom 1. Juli bis 15. August 1917 448 Fälle
diarrhoischer Darmerkrankungen aufgenommen,
wovon 122 als Ruhr, 826 als Enterocolitis dia¬
gnostiziert wurden. Von den 448 Fällen sind
59 = 13,2 % gestorben, wobei das Überwiegen
der Todesfälle im hohen Alter deutlich in Er¬
scheinung trat: zu 70—80 Jahren 47,4 %, zu
40 —50 Jahren 14,6 %, zu 30—40 Jahren 1,7 %,
zu 20—30 Jahren 0 %. Von den 35 obduzierten
Fällen waren 11 Fehldiagnosen: 5mal war
statt Enteritis Ruhr und 6 mal umgekehrt dia¬
gnostiziert worden. Dadurch wird bestätigt,
daß die klinische Diagnose der Ruhr auf
Sicherheit keinen Anspruch machen kann. Die
bakteriologische Hilfe hat fast ganz ver¬
sagt. Unter 152 Fällen (darunter 78 klinischen
Rühren) wurden Ruhrbazillen nur 5 mal ge¬
funden. Da die bakteriologische Untersuchung
in keinem Falle gleich zu Anfang der Er¬
krankung angestellt werden konnte, ist anzu¬
nehmen, daß die spezifischen Ruhrbazillen im
Dickdarm von uncharakteristischen Coliarten
überwuchert wurden. Vielleicht würden in
frisch untersuchten Fällen die Resultate besser
sein. Immerhin ist es fraglich, ob sich der
praktische Arzt bei der Ruhrmeldung aut die
bakteriologische Stuhluntersuchung stützen
kann.
Die serologische Untersuchung (des
Blutserums auf Agglutination) ergab bessere
Resultate. Bei 15 Fällen von Enteritis war
die Agglutination 12 mal negativ, 3 mal positiv.
Bei 27 klinischen Rühren ergaben sich 16 posi¬
tive und 11 negative Resultate. Also 16 mal
Bestätigung, während die 11 negativen Agglu¬
tinationsproben ebensowenig gegen Ruhr ver¬
wendet werden dürfen, wie der negative Widal
gegen Typhus. Die serologische Untersuchung
sichert also die Diagnose nur in 60 % der
Fälle, die Diagnose Ruhr ist nur in schweren
Fällen klinischmit einiger Sicherheit zu stellen.
Über die Ursachen der Häufung der
Darmerkrankungen war nichts mit Sicher¬
heit festzustellen, Verfasser sind nicht der
Ansicht, daß es sich um Einschleppung durch
zurückkehrende Feldsoldaten handelt, sondern
um eine herabgesetzte Widerstandsfähigkeit
des Darmkanals bei einem großen Teil der Be¬
völkerung; ferner dürfte auch die abnorme
Hitze des Juli in Betracht kommen. Die Be¬
schaffenheit des Brotes ist nicht anzu¬
schuldigen, nur einige Fälle scheinen durch
verdorbenes Brot verursacht zu sein. Auch
das Trinkwasser ist nicht im Spiel, sein Ab¬
kochen deshalb überflüssig; es genügt persön-
Original fro-m
university of michigan
Digitized by
Go igle
Referate über Bücher und Aufsätze.
449
liehe Reinlichkeit. Die Fliegenplage scheint
an der Übertragung Anteil zu haben.
Die Rektoskopie hat sich nicht bewährt,
auch bei sicheren Rühren wurden keine Ge¬
schwüre festgestellt. Die Methode ist außer¬
dem für frische Fälle zu angreifend. Bei
Enterocolitis findet sich eine geschwollene
Mukosa, mit Schleim bedeckt, gelegentlich
oberflächliche Geschwüre, die gewöhnlich
schnell heilen, aber auch noch nach Wochen
bei vollkommenem Wohlbefinden bestehen
können.
Behandlung: Stets Abführmittel, am
besten Rizinus, aber auch Calomel ist sicher
unschädlich zu 2 mal 0,3 g. Bei starken Te-
nesmen 10—20 Tropfen einer 1 0 / 00 \gen Atropin¬
lösung 2 X tgl. Bei starken Durchfällen Tct-
Opii. Sonst die übliche Diät und warme Leib¬
umschläge. Bolus alba eßlöffelweise, Erfolg
schwer zu beurteilen, günstige Beeinflussung
ebenso wie durch Tierkoble wahrscheinlich.
Daneben können noch Tanninpräparate ge¬
geben werden, auch als Dannspülung mit
500 ccm Vs %>§> er Lösung, bei reichlicher
Blutung mit Adrenalinzusatz. In den ersten
Tagen nur Tee mit Kognak und Schleimsuppen.
Später wird Milch meist gut vertragen, even¬
tuell mit Kalkwasser gemischt Allmähliche
vorsichtige Zulage von Eiern, Weißbrot mit
Butter, zartes Fleisch. Die größte Bedeutung
kommt der Krankenpflege zu. Auch die
Beaufsichtigung der Rekonvaleszenz ist von
großer Wichtigkeit, da nach anscheinend
leichten Ruhrfällen eine erhebliche allgemeine
Schwäche, besonders auch des Herzens, sowie
Neigung zu örtlichen Rückfällen im Verdauungs¬
apparat Zurückbleiben kann.
W. Alexander (Berlin).
v. Hansemann (Berlin), Über den soge¬
nannten langen russischen Darm. Med.
Slinik 1917. Nr. 36.
Schon früher hatten verschiedene Autoren
gefunden, daß der Darm der Russen und
Esthen um einige Zoll länger ist als der
deutsche. Besonders das S-Romanum sei un¬
gewöhnlich lang. Während früher dieser Be¬
fund als Rasseneigentümlichkeit gedeutet
wurde, hat Taren et zky ihn auf die Ernäh¬
rung zurückgeführL Wenn auch Messungen
über die Darmlängen großen Fehlerquellen
unterworfen sind, so kann auch nach Ver¬
fassers Erfahrung über die Tatsache kein
Zweifel bestehen: sie fällt unmittelbar bei der
Sektion auf und zwar besonders durch die
Länge, Weite und Beweglichkeit des S-Roma¬
num. Verfasser fand nun, daß auch Letten,
Juden und Deutsch-Kurländer den langen Darm
hatten, ja, auch deutsche Soldaten, die längere
Zeit im Osten waren. Der lange Darm ist also
sicher eine funktionelle Anpassung, erworben
durch die Art der Nahrung, die aus großen
Mengen nährstoffarmer, schwerverdaulicher
Stoffe besteht.
Das Mesenterium des S-Romanum fand
Verfasser fast stets sehnig verdickt, retrahiert,
so daß es zu einer Annäherung der beiden
Schenkel dieses Darmabschnittes kommt, wo¬
durch die Torsionsgefahr erhöht ist Aller¬
dings erträgt das S-Romanum erstaunliche
Torsionen ohne Strangulation. — Ein an die
eben geschilderte Nahrung gewöhnter langer
Darm nutzt aber nun eine ausreichende aber
quantitativ geringere Nahrung nicht aus, so
daß Abmagerung und Kachexie eintritt.
Beim Hinzutreten von Anstrengung, leichter
Bronchopneumonie oder dergleichen kann der
Tod eintreten: die Sektion ergibt dann als
typischen Befund Kachexie mit braunem
Herzen und kleiner brauner Leber. Dagegen,
daß solche Leute verhungert sind, spricht die
reichliche Anfüllung des Darmkanals mit In-
gesta. In dem langen und weiten Darm halten
sich die Kotmassen übermäßig lange auf und
es ist möglich, daß die Kachexie auch durch
Resorption abnormer Gärungsstoffe bedingt ist.
Trotz der durch die Länge des Darmes be¬
dingten Länge des Mesenteriums findet man
Enteroptose sehr selten, die vielleicht durch
die im Kriege straff entwickelte Bauchmusku¬
latur verhindert wird, die die Entstehung eines
Hängebauches ausschließt. Die Verlängerung
des Mesenteriums erhöht die Gefahr der Torsion.
Während Verfasser in 30 jähriger anatomischer
Tätigkeit nur zweimal eine totale Nekrose des
Dünndarms aus diesem Anlaß gesehen hat, hat
er sie in einem Jahr unter 500 Sektionen drei¬
mal beobachtet Durch die abnorme Beweg¬
lichkeit des Colon kommt es zu Umlagerungen
des Coecum in alle möglichen Bauchgegenden.
Die geschilderten Störungen, zu denen der
lange Darm Veranlassung geben kann, sollten
dazu ermahnen, schon im Kindesalter den
Darm nicht übermäßig anzufüllen. Dann ist
die ursprünglich im Säuglingsalter erworbene
Verlängerung des Darms ausgleichbar. Es ist
auch mit Sicherheit anzunehmen, daß die durch
den langen Darm eventuell entstehende Kach¬
exie zur Ausbreitung einer bestehenden Tuber¬
kulose führen kann: daß die Tuberkulose auch
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
450
Beferate über Bücher und Aufsätze.
durch die Kachexie entstehen kann, dafür
liegt noch kein beweiskräftiger Fall vor.
W. Alexander (Berlin),
8« Fr&nkel, B. Bienenfeld u. E. Führer
(Wien), Kritische Studie zur experi¬
mentellen Therapie maligner Tumoren.
VIII. Mitteilung. W. kl. W. 1917. Nr. 86.
Nach dem Ausfall von Versuchen bei ma¬
lignen Impftumoren besteht bezüglich des.
Geschwulstwachstums kein Unterschied, ob man
die Batten und Mäuse mit Eiweiß und Fett
oder mit Kohlehydraten oder normal füttert,
auch wenn man mit der spezifischen Diät schon
eine Woche vor der Impfung einsetzt. Dem¬
nach muß man nach Ausschaltung des Er¬
nährungsfaktors in anderen Determinanten den
individuellen Wachstumsreiz oder die indi¬
viduelle Wachstumshemmung für die Tumoren
suchen. J. Buhe mann (Berlin-Wilmersdorf).
F. Böen heim (Rostock), Über Anomalien
der Magensaftsekretion als Sp&tfolge von
Buhr und Unterleibstyphus. Med. Klinik
1917. Nr. 48.
Nach Buhr und Typhus kommt es in einem
nicht kleinen Prozentsatz der Krankheitsfälle
zu einer Magensekretionsanomalie, die in zwei
Dritteln der Fälle zu einem allmählichen Ver¬
siegen der Sekretion führt. Diese Anomalie kann
sich unmittelbar der eigentlichen primären Er¬
krankung anschließen oder auch nach einer
kürzeren oder längeren Zeit vollständigen Wohl¬
befindens einstellen, oft ohne sichtbare Ursache*
Die subjektiven Beschwerden sind meist gering«
in einzelnen Fällen fehlen aber auch nicht
Durchfälle, Erbrechen usw. Die Anomalie der
Magensaftsekretion wird hämatogen oder neu¬
rogen ausgelöst, während eine direkte lokale
Beeinflussung unwahrscheinlich ist
W. Alexander (Berlin).
B. Stähelin, Die Behandlung des Diabetes
mellitus. Korrespondenzblatt f. Schweizer
Ärzte 1917. Nr. 44.
Das Wichtigste ist und bleibt die sorg¬
fältige Ausarbeitung der Diätvorschriften und
ihre rücksichtslose Durchführung; ganz im
Hintergründe steht die medikamentöse Be¬
handlung. Die Toleranzbestimmung bildet den
Beginn jeder Diabetesbehandlung und die
völlige Zuckerfreiheit im Harn ist das nächste
Ziel der Behandlung, das, wo es angeht, anzu¬
streben ist. Für alle Formen, die in solche
mit leichter, mittelschwerer und schwerer
Glycosurie zu scheiden sind, ist auf Grund der
Toleranzfähigkeit gegenüber den Kohlehy¬
draten bzw. bei den schweren Formen auch
auf Grund der Bildung von Harnzucker aus
dem Eiweiß die individuelle Diät zu bestimmen.
Der Wert der Hunger-, Gemüse- und Hafertage,
ihre Anwendung für die mittelschweren und
schweren Formen, die Vermeidung von Hafer¬
kuren bei den leichten Formen, die Bedeutung
des Alkohols, die Alkalitherapie und die vor¬
sichtige Kohlehydratzufuhr bei Azidosis er¬
fahren präzise Beleuchtung.
J. Buhemann (Berlin*Wilmersdorf).
A. Ohly (Kassel), Die Ruhr mit besonderer
Berücksichtigung Ihrer Therapie. Therap.
Monatsh. 1917. September.
Ohly bespricht eingehend den Charakter
der Buhr, ihr Entstehen durch die Enta¬
moeba coli, sowie die „Bazillenruhr“, die
„ruhrähnlichen 1 * Erkrankungen. Viele Autoren
schieben in den Vordergrund disponierende
Faktoren wie einseitige Nahrung, verdorbene
Nahrungsmittel, Übermüdung, gleichzeitige Er¬
kältungen. Die Buhrbazillen finden sich fast
ausschließlich in den Blut- und Schleimteilchen,
nicht im Stuhle selbst. Ohly setzt dann aus¬
einander, weshalb der Bazillennachweis so oft
nicht gelingt Die serologischen Methoden
haben wenig fördernd gewirkt. Serologisch
möglich ist nur ein Unterschied zwischen Buhr
und Pararuhr, nicht aber zwischen den einzel¬
nen Buhrstämmen.
Dann geht Ohly zur Symptomatologie der
Buhr über. Die Buhr tritt entweder als
schwere langdauernde Erkrankung oder als
kurzdauernder fieberhafter, teils schwerer teils
leichter Darmkatarrh auf. Komplikationen
sieht man bei schweren und mittelschweren
Fällen und zwar Bheumatismus, Polyneuritis,.
Nephritis, Myocarditis, Blasenstörungen, Pleu¬
ritis nnd Abszesse des periproktitischen Ge¬
webes. Sehr ernst ist die Myocarditis. Alle
Fälle können in einen chronischen Zustand
übergehen. Von Nachkrankheiten nennt Ohly
noch Neuralgien, Neuritiden, Lähmungen, chro¬
nische Bindehautentzündungen mit Beteiligung
der Iris, Blasenstörungen in Form von Urin¬
drang, schwere Anämie.
Zum Schluß wird die Behandlungbesprochen.
Die ersten zwei bis drei Tage ist am besten Buhe
bzw. ein heißes Bad und reichlich lokäle Wärme,
evtl, herzanregende Mittel, Opium und Bella¬
donna gegen den Stuhldrang mit oder ohne
Morphium. Die Abführmittelfrage wird ver-
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Referate über Bücher und Aufsätze.
451
schieden besprochen. Adstringierende und ab¬
sorbierende Mittel kommen erst in Frage,
wenn die stürmischen Erscheinungen nachge¬
lassen haben und die Herztätigkeit sich ge¬
bessert hat. Jedem therapeutischen Einlauf
ist ein Reinigungsklistier voranzuschicken. Von
medikamentösen Einläufen sind zu empfehlen:
physiologische Kochsalzlösung, essigsaure Ton¬
erdelösung 5—10,0 :1000,0, Argentum nitricum
1 :10000, Alsol 0,2— 0,5 :1000, Milchsäure
1:20,000, Gelatineeinläufe, Bolus alba 2 bis
10 Eßlöffel auf ein Liter laues Wasser usw.
Bei chronischen Fällen empfiehlt Oh ly Ichthyol
1 % und Collargol 1 % Dermatolemulsion.
Dazu kommen oral angewandte Astringentien,
besonders Bolus alba mit Tierkohle. Außer¬
ordentlich wichtig ist die Ernährung, zuerst
vor allem vollkommene Nahrungsenthaltung.
Ruhrkranke vertragen noch monatelang fette
und zellulosehaltige Speisen schwer.
Eingehend wird die Serumbehandlung be¬
sprochen. Bedingung ist eine voraufgegangene
Infektion mit dem Kruse-Shiga-Bazillus. In
Frage kommen polyvalente Sera, intramusku¬
lär eingespritzt in Mengen von 20 bis 10P ccm.
Intravenös darf nur injiziert werden, wenn der
Kranke nie vorher eine Seruminjektion (Diph¬
therie, Tetanus), erhalten hat.
Jeder Arzt hat die Pflicht, einen Ruhr¬
kranken immer als infektiösen Kranken anzu¬
sehen, bei dem entsprechende Vorsichtsma߬
regeln angewandt werden müssen.
E. Tobias (Berlin).
v. Pirquet (Wien), Quantitative Ernährungs¬
therapie. Therap. Menatsh. 1917. Oktober.
v. Pirquet beklagt, daß fast immer nur
auf die qualitative Auswahl bei der Ernährung
Wert gelegt wird; den Kernpunkt der Er¬
nährungstherapie, die quantitative Vorschreibung
der Nährwerte, beherrscht fast kein Arzt der
jüngeren Generation. Störungen des Appetits
sind Krankheitserscheinungen, die bisher viel
zu wenig gewürdigt worden sind. Nach
v. Pirquet liegt die Gefahr der tuberkulösen
Infektion hauptsächlich in der damit ver¬
bundenen krankhaften Verminderung des Ap¬
petits. Fieber bei chronisch kranken Patienten
darf keine Indikation zur Einschränkung der
Nahrungsmenge sein. Erbrechen bei guten
Stühlen ist kein Magenkatarfh, sondern nervöses
Erbrechen.
Wir brauchen vor allem eine richtige
Grundlage für die quantitative Ernährung. Die
Vorschreibung nach dem Körpergewicht ist
Digitized by
Go igle
grundsätzlich unrichtig. Als mathematisches
Äquivalent der resorbierenden Darmfläche
können wir das Quadrat der Sitzhöhe verwen¬
den und zur Nahrungsaufnahme in Beziehung
bringen, v. Pirquet nimmt dabei die mensch¬
liche Milch als Nabrungseinheit. Die Er¬
nährungsnormen beruhen auf den Begriffen des
Maximums, Minimums und Optimums. Wichtig
ist zweckmäßiger Eiweißgehalt der Nahrung,
die nicht weniger als 10 und nicht mehr als
20 Prozent enthalten soll, wichtig ist ferner
die Festlegung von Nahrungszeiten. Eine Vor¬
bedingung muß eine vollkommene korrekte
und verständnisvolle wissenschaftliche Küchen-
gebahrung sein. Zum Schluß macht v. P i r q u e t
auf die Ersparungen aufmerksam, die sein Vor¬
gehen mit sich bringt E. Tobias (Berlin).
B. Elektro-, Lieht- and Röntgen¬
therapie.
A. Saenger (Hamburg), Über die Röntgen¬
behandlung von Gehirn- und Rückenmarka-
geschwülsten. Neurolog. Zentralbl. 1917.
Nr. 19.
In einem Fall von Paraplegie durch Rücken-
marksgeschwulst, die sich als inoperabel bei
der Operation erwies und mikroskopisch als
Neuroepitelioma gliomatodes festgestellt wurde,
bewirkte die über 2 1 /« Jahre durchgeführte
Röntgenbestrahlung einen Rückgang aller Er¬
scheinungen bis zur Arbeitsfähigkeit. — Ein
anderer Rückenmarkstumor, der Operation ver¬
weigerte, wurde durch lange Röntgenbe¬
handlung objektiv gar nicht beeinflußt, sub¬
jektiv leicht gebessert. In diesem Fall fiel es,
ebenso wie in einem dritten ähnlichen auf, daß
die Krankheit keinerlei Fortschritt machte. —
Ein Kleinhirnbrückenwinkeltumor wurde inner¬
halb von 6 Monaten mit 53 Einzelbestrahlungen
behandelt ohne feststellbare Veränderung. Die
spätere Operation und Sektion zeigte einen
Tumor an der rechten Ponsseite, grauweiß, von
auffallend weicher Konsistenz. — Bei 2 Akro¬
megaliefällen mußte wegen heftiger Kopf¬
schmerzen nach der Bestrahlung diese Be¬
handlung abgebrochen werden. In einem Falle
von Kleinhimtumor treten nach der Bestrahlung
kurze Erregungszustände auf. Aus seinen Be¬
obachtungen zieht Verfasser folgende Schlüsse:
1. Daß die Tiefenbestrahlung bei Tumoren über¬
haupt wirksam ist. 2. Da die Erfolge der Hirn¬
chirurgie hinter den früher gehegten Erwar.
tungen zurückgeblieben sind, da ferner nicht
8eiten ein operativer Eingriff bei Hirn- und
Original fro-m
UNIVERSITf OF MICHIGAN
452
Referate über Bücher nnd Aufsätze.
Rückenm&rksgeschwülsten abgelehnt wird, so
ist es gerechtfertigt, die Tiefenbestrahlung an¬
zuwenden. W. Alexander (Berlin.)
H. Wlntz (Erlangen), Die wirksame Böntgen-
energle ln der Tiefentherapie nnd ihre
Messung. M. m. W. 1917. Nr. 28.
Zusammenfassung: 1. Die „Halbwertschicht“
ist ein exakter physikalischer Begriff, der nur
in Messungen reiner Primärstrahlung ange¬
wendet werden darf. 2. Für praktische Messun¬
gen kommen nur solche in Betracht, die unter
Berücksichtigung der Streustrahlung ausgeführt
werden. Die Werte können mittels des „Dosen¬
quotienten“ oder der „prozentualen Tiefendosis“
angegeben werden. 3. Eine allgemeine Einigung
über die Ausführungstechnik ist dringend nötig.
L. Katz (Berlin-Wilmersdorf).
Ferdinand Scheminzky (Wien), Strah¬
lungserscheinungen. Wien. klin. Rundschau
1917. Nr. 27/28.
Verfasser bespricht in diesem Artikel die
Erscheinungen der Kathoden-, Röntgen- und
Radiumstrahlen sowie schließlich die Ema¬
nation, die er im v. Reich enbachschen Sinne
auffaßt und im Gegensatz zu der Ansicht an¬
derer Autoren, die sie als materiell ansehen,
für eine Ätherschwingung, für eine neue Form
der Energie hält. Die Emanation hat mit der
Radioaktivität nichts zu tun, letztere stellt
durchaus nicht eine allgemeine Eigenschaft der
Materie dar. L. Katz (Berlin-Wilmersdorf).
H. E. Schmidt (Berlin), Der gegenwärtige
Stand nnd die Aussichten der Röntgen¬
therapie ln der inneren Medizin. B. kl. W*
1917. Nr. 27.
Sammelreferat, das die angewandte Röntgen,
technik in der inneren Medizin sowie ihre
Verwendung bei Bluterkrankungen, Morbus
Basedowii, bei Asthma bronchiale, Lungen¬
tuberkulose, bei chronischen Arthritiden, Ischias,
Neuralgien, Syringomyelie, Ulcus ventriculi,Thy-
mushypertrophie, bei tuberkulösen Bronchial¬
drüsen, Arteriosklerose, bei Gefäß- und Herz¬
muskelerkrankungen, Morbus Addisonii, Akro¬
megalie berücksichtigt.
L. Katz (Berlin-Wilmersdorf).
Max Steiger (Bern), Physikalische Notizen
über Entstehung und Natur der Röntgen¬
strahlen. Korrespondenzblatt f. Schweizer
Ärzte 1917. Nr. 27.
Vortrag, gehalten in der Sitzung des med.-
pharm, Bezirksvereins der Stadt Bern am 11. Jan.
1917, der die neuesten Kenntnisse auf dem Ge¬
biete der Physik der Röntgenstrahlen in sach¬
licher Weise zur Darstellung bringt.
L. Katz (Berlin-Wilmersdorf).
W. Bauermeister, (Braunschweig), Über
die röntgenologische Darstelluug der
Hirschsprungschen Krankheit. Zentralbl.
f. Röntgenstr. 1917. H. 11/12.
Da die Hirschsprungsche Krankheit mit
ihrer Atonie der röntgenologischen Abbildung
mittels Kontrasteinlauf oft unüberwindliche
Schwierigkeiten bietet, so hat Verfasser einen
anderen Modus gewählt und das Kontrastmittel
per os verabreicht und zwar gibt er am ersten
Tage 200 g Citobaryum-Kontrastmittel und an
den beiden folgenden noch je 100 g Cito-
baryum. Diese Methode erscheint sehr brauch¬
bar und liefert lückenlose Darmbilder. Daß
die Beobachtung der sukzessiven Entwicklung
der Einzelbilder und Bildfolgen für die Auf¬
fassung des ganzen Krankheitsbildes sehr in¬
struktiv, für die Differentialdiagnose oft aus¬
schlaggebend wirken kann, wird an der Hand
eines in extenso mitgeteilten Falles dargetan.
L. Katz (Berlin-Wilmersdorf).
G. Miesch er, Über Röntgeuscbutzpasten.
Korrespondenzblatt f. Schweizer Ärzte 1917.
Nr. 39.
Um in der Röntgentherapie die gesunden
Gewebe gegen die Einwirkung der Strahlen
zu schützen, bedient sich die Röntgentechnik
der Lokalisatoren (Tubus) und des Bleis und
machte bisher nur in seltenen Fällen von
Röntgenschutzpasten Gebrauch. Ein solches
Schutzmittel muß folgende Bedingungen er¬
füllen: 1. Es muß ein hohes Absorptions¬
vermögen besitzen, 2. es muß sich leicht und
gleichmäßig auf die Haut auftragen lassen und
ebenso leicht wieder zu entfernen sein; 3. es
darf keine toxische Wirkung haben. Auf Grund
seiner experimentellen Untersuchungen, die so¬
wohl die Frage nach der Natur des geeignetsten
Schutzstoffes als nach der erwünschten Schicht¬
dicke beantworten sollten, kommt Verfasser
zu der Überzeugung, daß sowohl Bismuth. sub-
nitr, als auch Lithargyrum sehr brauchbar sind
und er empfiehlt folgende Rezepte:
1. Lithargyr. anglic. Pulv. 85
01. Paraffini .... 2
Vaselin, flav.13
2. Bismuth. subnitr. . . 70
Vaselin, flav.30
Mischungen von Blei- und Wismutpräparaten
bieten keine besonderen Vorteile dar.
L. Katz (Berlin-Wilmersdorf).
Original from
UNIVERSITV OF MICHIGAN
□ igitized by
Google
Referate Aber Bacher und Aufsätze.
453
G. Serum- und Organotherapie.
Seligmann (Berlin), Fortschritte in der
Berliner Diphtheriebek&mpfnngr. B. kl. W.
1917. Nr. 23.
Die ganze Diphteriebekämpfung ist in
Berlin jetzt anf eine breitere Basis gestellt;
sie beschränkt sich nicht mehr auf die Schul¬
kinder, sondern umgreift die ganze Berliner
Bevölkerung. Ermöglicht wurde dieses Resul¬
tat durch die Einstellung von besonderen
Diphtherie-Fürsorgeschwestern. Auf Grund der
Schulmeldungen sendet das Medizinalamt diese
Schwestern in die Familien, in denen Schul¬
kinder oder deren Angehörige an Diphtherie
oder Diphtherieverdacht erkrankt sind. Stellt
die Schwester fest, daß ein Arzt nicht zuge¬
zogen ist, so hat sie dies zu betreiben oder
die Überweisung ins Krankenhaus zu veran¬
lassen. Ferner hat sie die Familie über hygie¬
nische Maßnahmen aufzuklären und evtl, die
laufende Desinfektion zu überwachen. Bei
Diphtherieverdacht hat sie UntersuchungBma-
terial zur bakteriologischen Diagnose zu ent¬
nehmen und auch die Materialentnahme zum
Zweck der Ermittelung von Bazillenträgern zu
veranlassen.
Das Resultat dieser Organisation ist ein
sehr erfreuliches. Schon im ersten Vierteljahr
bat ein Sinken der Mortalität stattgefunden,
das seitdem dauernd angehalten hat
Freyhan (Berlin).
Boehncke, Ruhrschutzimpfung im Kriege«
Med. Klinik 1917. Nr. 41.
Nachdem die umfangreichen hygienischen
Vorbeugungs- und Abwehrmaßnahmen sich in
der Verhütung und Bekämpfung der Ruhr im*
Felde als wenig befriedigend erwiesen haben,
liegt es nahe, auch bei der Ruhr, wie bei
Typhus und Cholera, die spezifische Prophylaxe
mit heranzuziehen. Die bisher in Deutschland
in dieser Richtung angestellten Versuche sind
nicht sehr ergebnisreich. Das ist um so be¬
dauerlicher, als die Ruhr zurzeit hinsichtlich
der Morbidität unter den Kriegsseuchen weit¬
aus die größte Rolle Bpielt; daß eine Mortalität
von 2 bis 10 % für die akute, von 40 bis 50 %
für die chronische Ruhr nicht bedeutungslos
genannt werden kann. Da sich nun in ver¬
schiedenen Gegenden verschiedene Ruhrerreger
und andererseits in manchen Gegenden alle
durcheinandergemiscbt finden, kann nur ein
polyvalenter Impfstoff als erfolgversprechend
in Frage kommen. Das Ergebnis ausgedehnter
Tierversuche, deren Resultate sieb z. T. un¬
mittelbar auf den Menschen übertragen ließen,
ist ein Ruhrimpfstoff, der zusammengesetzt
ist aus Dysenteriebazillen (d. h. echten und
Pseudoruhrbazillen), Dysenterietoxin und Dy¬
senterieantitoxin (Dys. bac. TA). Er wird im
Serumwerk Ruete-Enoch in Hamburg herge¬
stellt Es sind bisher etwa 50 000 Personen
in * etwa 130 000 Einzelimpfungen gespritzt
worden. Der Impfstoff hat sich als unschädlich
erwiesen, die Allgemein- und Lokalreaktionen
hielten sich zumeist in sehr mäßigen Grenzen.
Am ersten Tage werden 0,5 ccm, am 5. Tag
1 ccm und am 10. Tag 1,5 bis 2,0 ccm injiziert.
Falls besondere Beschleunigung der Impfung
geboten ist, kann man auch mit zwei Impfungen
zu 1 und 2 ccm im Verlauf von sechs Tagen
auskommen. Die Allgemeinreaktion war dann
oft etwas stärker, aber im ganzen mild. In
der Regel ist die dreizeitige Schutzimpfung
auszuführen. Über die Wirksamkeit kann bis
jetzt noch kein sicheres Urteil abgegeben
werden. Doch sprechen die zurzeit vorliegenden
Berichte sich für Beibehaltung und Fortführung
der vom Chef des Feldsanitätswesens ge¬
nehmigten Schutzimpfung in der Umgebung
größerer Ruhrherde in der Truppe und in der
Bevölkerüng aus, da der bisherige Eindruck
ziemlich ausnahmlos der war, daß die
Ruhrausbreitung nach genügend vor¬
genommener Umgebungs Schutzimpfung
mit dem Disbactaimpfstoff in kurzer
Zeit tatsächlich zum Stehen kommt
Das Ergebnis der serologischen Unter¬
suchung des Blutserums (Widalreaktion) ist in
der größten Zahl der Fälle ein positives ge¬
gen Dysenterie- und Pseudodysenteriebazillen
gewesen, was jedenfalls auf einen spezifischen
Reaktionseffekt hinweist
W. Alexander (Berlin).
J« Kabelik (Mob. Epidemiespital I), Über
RekonvaleszenteiiblultransfUsioii bei Ty¬
phus exantbematicus« W. kl. W. 1918. Nr. 2.
Zur Blutentnahme wurden sonst ganz gesunde
Rekonvaleszenten bald nach der Entfieberung
herangezogen. Mit einer 20 cm 3 enthaltenden
Spritze, die 2 cm 3 4%iger Natrium-citricum-
Lösung in physiologischer Na Cl-Lösung enthält,
wird das Blut direkt der Vene des Spenders
entnommen und nach mehrmaligem Umdrehen
der Spritze dem Kranken intravenös injiziert. An
6 Temperaturkurven von so behandelten Fleck¬
typhuskranken wird der Erfolg gezeigt, von dem
es nach dem Verfasser unsicher ist, wie weit
Digitized by
Go igle
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
454
Referate über Bücher und Aufsätze.
er durch die spezifischen Eigenschaften des Re-
konvaleszentenserums hervorgerufen ist, oder
inwiefern man mit normalem Blut ein ähnliches
Resultat erzielen kann. Die Methode verdient
jedenfalls Nachprüfung.
Roemheld (Hornegg a. N.).
Chrostek (Wien), Über das Kropf herz«
W. kl. W. 1917. Nr. 21.
Schilddrüsenstoffe bewirken beim Menschen
unter bestimmten Bedingungen Erscheinungen
von seiten des Zirkulationsapparates. Ihre
Wirksamkeit ist geknüpft an eine gewisse
Dauer der Verabreichung, vor allem aber an
eine bestimmte Beschaffenheit der jeweiligen
Zirkulationsorgane. Ihre Wirkung äußert sich
in erster Linie auf die Schlagfolge durch Be¬
schleunigung der Herzaktion; nicht erwiesen
ist ihr Einfluss auf das Zustandekommen von
Hypertrophie des Herzens, nicht sichergestellt
ein Einfluß auf die Vasomotoren. Die Existenz
eines rein mechanischen Kropfherzens ist nicht
erwiesen, wenn auch die Möglichkeit einer Be¬
einflussung des Herzens durch die Tracheal¬
stenose zugegeben werden muß. Nicht alle
Symptome von seiten des Zirkulationsapparates,
die wir bei Kropfigen finden, sind auf die
Schilddrüse zu beziehen. Im Gegenteil ist das
Kropfherz eine seltene Erkrankung. Die ge¬
genteiligen Angaben beruhen zum Teil darauf,
daß vielfach Zustände verschiedener Art ein¬
gerechnet werden, nur weil sie sich zufällig bei
Kropfigen finden, und weil die Manifestationen
der degenerativen Anlage zu Verwechslungen
Anlaß gaben. Freyhän (Berlin).
W. Fließ (Berlin), Ein neuer Symptomen-
komplex der Hypboptaysis cerebrl. Med.
Klinik 1917. Nr 36.
Als Hyphophysisinsuffizienz faßt
Verfasser eine Anzahl von Symptomen zu¬
sammen, die sich vorwiegend beim weiblichen
Geschlecht zeigen, manchmal im Anschluß an
die Schwangerschaft, aber auch bei Störungen
in den Eierstöcken auftreten. Die Symptome
bestehen in Schmerzzuständen (Ischias, Hinter¬
hauptschmerz), anfallsweise sich steigernder
Mattigkeit, Konzentrationsunfähigkeit und an¬
deren psychischen Veränderungen. Es bestehen
auch Beziehungen zur Polydipsie, Polyurie,
Enuresis und Schilddrüsensymptomen. Die
Erkrankung zu kennen, hat nicht nur theore¬
tisches Interesse, sondern auch ein erhebliches
praktisches, weil bisher jede Hilfe versagte;
Verfasser ist es gelungen, durch Verfütterung
von Hypophysistabletten (evtl, in Kombination
mit Schilddrüsentabletten) hervorragende Er¬
folge zu erzielen. Die Hypophysistabletten
ließ Verfasser aus dem Vorderlappen der
Hypophyse herstellen wegen des bekannten
Einflusses dieser Substanz auf das normale
und pathologische Körperwachstum.
W. Alexander (Berlin).
K. Glaeßner (Grinzing), Wirkung von
Hypophysenextrakten anf nephritische
Prozesse. W. kl. W. 1917. Nr. 38.
Von 6 schweren Fällen von akuter Glo¬
merulonephritis, die mit Verminderung der
Harnmenge, Blutbeimengung, Blutdruckstei¬
gerung, Ödemen einhergingen und die teils
intravenös, teils intramuskulär mit Pituglandol
behandelt wurden, da sie gegen alle anderen
Mittel refraktär waren, zeigten 4 deutlichen
Effekt, einer blieb unbeeinflußt, einer wurde
schlecht beeinflußt Die günstige Wirktmg
äußerte sich in vermehrter Diurese, Absinken
des Eiweißgehaltes, Verschwinden des Blutes;
das spezifische Gewicht des Urins änderte
sich nicht wesentlich.
Roemheld (Hornegg a. N.)
D. Verschiedenes.
P. W. Siegel (Freiburg i. B«), Gewollte und
ungewollte Schwankungen der weiblichen
Fruchtbarkeit usw. Mit 33 Kurven. Julius
Springer 1917. 197 S.
Siegel zeigt an der Hand eines fort¬
laufenden zehnjährigen Beobachtungsmaterials
der Frauenklinik Freiburg i. Breisgau, daß die
Annahme von Grub er zu Recht besteht, daß
auch die ungewollte Fruchtbarkeitsverminderung
'bei der Abnahme der Geburtsziffer eine nicht
zu unterschätzende Rolle spielt und daß dies«*
Fruchtbarkeitsverminderung weit weniger bei
der Landbevölkerung wie bei der Bevölkerung
großer Städte hervortritt. Eine Erhöhung der
Geburtenziffer hätte dann in gewissem Sinne
eine geeignete Dezentralisation zur Vorbe¬
dingung.
Siegel hat dann die durch die Kriegs¬
verhältnisse . gegebenen Beobachtungen über
zeitlich engbegrenzte Kohabitationstermine be¬
nutzt, um die für die Abnahme der Geburten¬
ziffer nicht unwichtige Frage zu untersuchen,
ob, wie beim Tiere in der Brunstzeit, bei den
Frauen eine ähnliche temporäre Steigerung
ihrer Empfängnisfähigkeit besteht Er zeigt,
daß in der Tat, wenn auch nicht immer sehr
deutlich, so doch ausgesprochen eine gestei-
Digitized by
Go igle
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Referate über Bücher und Aufsätze.
455
gerte Empfängnisfähigkeit während und kurz
nach und eine verringerte Empfängnisfähigkeit
wischen den Menstruationen besteht, die den
Verhältnissen bei den Tieren vergleichbar ist.
Die hohen Verluste der Männer im Welt¬
krieg veranlagten auch die Frage, ob nicht
doch eine gewisse Häufung von Knabenge¬
burten möglich wäre. Die Prüfung dieser
Frage ist ungewöhnlich schwierig. Vorbe¬
dingung für das Beobachtungsmaterial sind:
1. möglichst durch amtliche Listen fest¬
gestellte Dauer des Urlaubs mit Anfangs- und
Abgangsdatum;
2. ein möglichst kurz befristeter Urlaub,
am besten nicht über 5 Tage Dauer, und
3. genaueste Daten über Beginn und Ende
der letzten Menstruation. Von dem Beob¬
achtungsmaterial Siegels (4000 Fälle) er¬
füllten nur 180 alle Bedingungen. Bei diesen
180 Fällen war die Abhängigkeit gesteigerter
Knaben- resp. Mädchengeburten vom engbe¬
grenzten Kohabitationstermin so auffallend, daß
gewisse Schlußfolgerungen gezogen werden
konnten. Über die Vorgänge der Erzielung von
Knaben und Mädchen äußert sich Siegel wie
folgt:
Die Bildung des Mädchens ist wie folgt
zu erklären: Nach der letzten Menstruation
findet regelrecht zwischen dem 10. bis 15. Tage
der Follikelsprung statt Am 16. Tage nach
Menstruationsbeginn ist die einmalige Koha-
bitation markiert. Nach Höhne und Behre
findet die eventuelle Kopulation von Sperma¬
tozoon und Ovulum spätestens am 18. Tage
statt. Die Menstruation bleibt aus. t)ie Be¬
fruchtung hat also tatsächlich stattgefunden,
und zwar spätestens am 18. Tage. Das Ei
war jung. Der Erfolg dieser Schwangerschaft
war ein Mädchen.
Die Bildung des Knaben ist wie folgt zu
'erklären: Nach der vorletzten Menstruation
fällt regelmäßig zwischen dem 10. bis 15. Tage
der Follikelsprung. Zwischen Follikelsprung
und nächster Menstruation findet keine Men¬
struation statt Es tritt am 29. Tage eine
letzte Menstruation ein. Das Ei überdauert
diese letzte Menstruation. Am 5. Tage nach
Beginn der letzten Menstruation tritt spätestens
die eventuelle Kopulation von Spermatozoen
mit dem die Menses überdauernden, jetzt über¬
reifen 21 Tage alten Ovulum ein. Die Ovulation
erfolgte. Es besteht Schwangerschaft mit dem
Erfolg eines Knaben.
Will man einen Knaben bekommen, so
müßte der Verkehr zu den Zeiten stattfinden,
wo überreife Eier zu erwarten sind, d. h. vom
1. bis 9. Tag nach Menstruationsbeginn, auch
kurz vor der nächsten Menstruation. Will man
ein Mädchen bekommen, so muß man den
sexuellen Verkehr auf die Zeiten verlegen, in
denen junge, frische Eier zu erwarten sind,
d. h. auf den 15. bis 23. Tag nach Menstru¬
ationsbeginn. Die Angaben beziehen sich auf
regelmäßig in vierwöchentlichem Zyklus men¬
struierende Frauen. E. Tobias (Berlin).
Friedrich Kraus und Theodor Brugsch
(Berlin), Spezielle Pathologie und Thera¬
pie Innerer Krankheiten. Lief. 71 bis 75,
VII. Bd. Berlin, Wien 1916. Urban & Schwar¬
zenberg.
Erkrankungen der Harnröhre, Blase, Prostata,
Hoden, Nebenhoden und Samenblasen, von
Prof. L. Caspar (Berlin).
Die Zystoskopie und der Ureterenkatheterismus,
von Prof. L. Casper (Berlin.)
Funktionelle Nierendiagnostik, von . Prof.
P. F. Richter (Berlin).
Akute Nephritiden, von Prof. H. Strauß
(Berlin).
Casper gibt in dem knappen Rahmen
von 104 Seiten eine kurze, klare Darstellung
der Erkrankungen der Harnröhre, Blase, Pro¬
stata, Hoden, Nebenhoden und Samenblasen.
Referent kann bei der Gonorrhöe Caspers ab¬
solute Verwerfung jeden Versuchs einer „ab¬
ortiven“ Kur nach seinen Erfahrungen aller¬
dings nicht teilen.
Bei seinem Kapitel: „Die Zystoskopie und
der Ureterenkatheterismus“ ist ebenfalls die
kurze, klare und dabei erschöpfende Darstellung
hervorzuheben. Leider treten aber darin die
alten Differenzen zwischen Nitze, dem Schöpfer
der Kystoskopie, und L. Casper wieder zu¬
tage. Referent hat dazu zu bemerken: Die
Benutzung der Edisonlampe ist nicht, wie
Casper angibt, 1887 von Dittel erst einge¬
führt worden, sondern schon 1886 von Nitze
selbst geschehen. Ferner: Das Ureteren-
kystoskop ist im Prinzip und Ausführung
eine Schöpfung Nitzes aus dem Jahre 1894;
die sekundäre Modifikation der technischen
Ausführung des Prinzips dagegen, die Casper
1895 angab und als Beginn der Methode des
Ureterenkatheterismus hier wie in früheren Dar¬
stellungen bezeichnet, hat Casper bekanntlich
selbst später zugunsten einer Modifikation
Albarrans, den sogenannten beweglichen
Finger, verlassen. Aber auch diese Modifikation
hat Nitze für sein Instrument, das die wei-
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
456
Referate über Bücher und Aufsätze.
teste Verbreitung in der Welt gefunden hat,
lange vor Casper angenommen. Nitze ist
und bleibt der Schöpfer des Ureterenkathe-
terismus. Auch betreffend der Infektionsmög*
lichkeit durch den Ureterkatheter kann Re¬
ferent, gleich Nitze, nicht den leicht darüber
hinweggleitenden Standpunkt Caspers teilen.
P. F. Richter bringt eine vorzügliche
informierende Schilderung der funktionellen
Diagnostik.
H. Strauß gibt eine ausgezeichnete Dar¬
stellung über Begriff, Einteilung und Ätiologie,
pathologische Anatomie, Klinik und Therapie
der akuten Nephritis unter Bezugnahme auf
die Nephrosen, sowie mit einer Beschreibung
seines Vorgehens zur funktionellen Prüfung
der Nierenfunktion.
Die Ausstattung des Buches durch den
Verlag ist gut.
Alfred Rothschild (Berlin).
Tb. Kahn und G. Steiner (Str&ßburg),
Über die Ursachen der multiplen Sklerose.
Med. Klinik. 1917. Nr. 38.
Nach Anführung einer Anzahl von Tat¬
sachen aus der Klinik und der pathologischen
Anatomie der multiplen Sklerose, die schon
die Vermutung stützten, daß es sich um eine
Infektionskrankheit oder um den Folgezustand
einer solchen handeln müsse, beschreiben die
Verfasser Tierversuche, in denen es ihnen ge¬
lang, Meerschweinchen mit frisch entnommener
Spinalflüssigkeit von relativ frühen Fällen
multipler Sklerose erfolgreich zu impfen. Beim
Meerschweinchen gelang die intraperitoneale
Impfung; diese versagte beim Kaninchen, hier
aber ging die intraokulare an. Da der Liquor
mit Blut vermengt war, maßte man entscheiden,
ob der erstere oder das letztere wirksam
waren. Liquor ohne Blut war in weiteren
Versuchen wirkungslos, während durch
Venenpunktion gewonnenes Blut die Krank¬
heit übertrug. Die Tiere starben nach
Tagen oder Wochen an fortschreitender Läh¬
mung. Die Weiterimpfungen vom erkrank¬
ten Tier gelangen bis zu vier Passagen.
Die Sektion der Tiere ergibt mikroskopisch
außer Hyperämie der Leber nichts, auch am
Gehirn und Rückenmark nicht. Die mikrosko¬
pische Untersuchung ist noch nicht abge¬
schlossen. Verfasser fanden in dem denkranken
Tieren entnommenen Blut Spirochäten,
die im Dunkelfeld, im Blutausstrich nach
Giemsa und mit Löfflerscher Geißelfärbung
nachweisbar waren, von denen sich besonders
die letztere bewährte. Auch konnten die Er¬
reger im Schnitt *nach Levaditi gefärbt
werden. Als positiv wurden nur Versuche an¬
gesehen, bei denen zwei der Methoden positiv
waren; in einzelnen Fällen waren sogar alle
drei positiv.
Die Spirochäte ist schlank und ähnelt nach
Größe und Form derjenigen der Weil sehen
Krankheit. Sie bewegt sich mäßig lebhaft.
In der Leber liegt die Spirochäte nie im Ge¬
webe, sondern stets in Blutgefäßen, von denen
in jedem Schnitt immer nur einige wenige
befallen sind.
Der Nachweis der Spirochäte beim Menschen
ist bisher nicht geglückt.
W. Alexander (Berlin).
M Sr oben (Wiesbaden), Der Hysteriebegriff
bei den Kriegsneurosen« Auf Grund neuerer
Gefangenenbeobachtnngen. B. kl. W. 1917.
Nr. 51.
Wenn von vielen Autoren statt „funktionell*
einfach „hysterisch* und „psychogen“ gesagt
wird, so schießt das nicht nur über das Ziel
hinaus, sondern es entsteht eine nicht unbe¬
denkliche Begriffsverwirrung, die auch eine
große praktische Bedeutung hat Bei Ge¬
fangenen sind zwar psychisch bestimmte
„hysterische“ Neuroseformen eine große Selten¬
heit, aber es ist zweifellos, daß man bei ihnen
und zwar in einer überraschend großen Anzahl
von Fällen den Tatbestand der „Reflexlähmung“
erheben muß. Mörchen konnte in mindesten»
10% derartiger Lähmungszustände rein neu¬
rotischen Ursprung oder eine neurotische
Überlagerung anatomischer Läsionen feststellen.
Auffallend ist jedenfalls das fast gleichhäufige
Vorkommen von Reflexlähmungen gegenüber
dem fast vollständigen Fehlen anderer Kriegs¬
neurosen. Die besondere Situation der Ge¬
fangenen verhindert die Entwicklung der
psychogenen Neuroseformen fast völlig; die
somatisch-funktionellen Formen, bei denen die
für jene verantwortlich gemachte „Erkrankung
des Vorstellungslebens“ schon an sich weniger
naheliegend schien, kommen auch bei Ge¬
fangenen häufig vor, sind also als unmittelbare
somatische Schockwirkungen aufzufassen.
Auch in der Terminologie muß zum Ausdruck
kommen, daß zwischen dem Organischen im
Sinne der pathologisch-anatomischen Ver¬
änderung und dem Psychogenen eine wohl-
charakteriaierte Form der nervösen Störung
als somatischfunktionelle Leitungsänderung
steht. E. Tobias (Berlin).
X
Digitized by
Google
Original fro-rn
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Referate über Bücher und Aufsätze.
457
A. Reinhart (Bern), Anatomische Unter¬
suchungen über die Häufigkeit der Tuber¬
kulose. Korrespondenzblatt für Schweizer
Ärzte 1917. Nr. 36.
Die vom Sommer 1915 bis 1. Januar 1917
im Institut vorgenommenen Sektionen wurden
in solche Fälle gesichtet, bei denen Tuberkulose
der Hauptbefund war (letale Tuberkulosen) und
in solche, bei denen Tuberkulose und zwar in
noch fortschreitender oder nicht fortschreitender
Form als Nebenbefund eruiert wurde. Bei N eu
geborenen (28 Fälle) wurde niemals Tuberkulose
konstatiert Von 72 Kindern waren 29,16 %
tuberkulös. Wo Tuberkulose als Nebenbefund
(9 mal) gesehen wurde, zeigten alle Fälle deut¬
liches Fortschreiten der Infektion. Bei Er¬
wachsenen (360 Sektionen) beobachtete Ver¬
fasser ganz annähernd dem Nägelischen Ergebnis
96,38% 4er Fälle; von diesen waren 32,5%
als noch fortschreitende und 63,9 % als in¬
aktive Formen zu bezeichnen. Wieder wird
die Tatsache, daß die Mehrzahl der akquirierten
Tuberkulosen ausheilt, illustriert Ob die In¬
fektion immer schon vor dem 20. Jahr erfolgt
und dann schon zu anatomischen Läsionen
führt, erscheint zum mindesten zweifelhaft.
J. Ruhe mann (Berlin-Wilmersdorf).
Otfr. Müller (Tübingen), Über Rheumatis¬
mus. I. Teil. Med. Klinik. 1918. Nr. 13.
Der alte klinische Begriff „Rheumatismus“
bedarf einer erheblichen Einschränkung. Das
Prototyp desselben ist der akute und
chronische Mnskelrheumatismus: Myalgie.
Er tritt bei besonders disponierten Menschen
plötzlich auf, meist nach Erkältung, führt zu
vermehrter Muskelspannung („Furchtkontrak¬
tur“) und hinterläßt oft im Muskel gewisse
Resistenzen; er zeigt ausgesprochene Neigung
zu Rückfällen. Die Theorien von Gold¬
scheider (diese Zeitschrift 1916) und
A. Schmidt (diese Zeitschrift 1916), welche
die Myalgie als Neuralgie der sensiblen
Nervenendigungen im Muskel definieren, haben
viel Bestechendes. Ebenso die Theorie von
Quincke, der vasomotorische Störungen
nach Art des Quincke sehen Ödems als
Grundlage der Myalgie und Neuralgie ansieht,
Neben dieser Form der Erkrankung gibt es
eine andere, bei Nichtdisponierten vor¬
kommende, als Folge intensiverer und länger
andauernder Kälteeinwirkung, die auch funkio-
neller Natur sein muß, da sie keine Folgezu¬
stände hinterläßt. Ganz davon zu trennen ist
die Myositis, mit den Tonsillen als Eintritts- I
pforte, Fieber, Endokarditis; sie hinterläßt
.Schwielen und Atrophien. Dasselbe gilt von
der gonorrhoischen MyoBitis. Klinisch ähnlich,
aber ihrem Wesen nach heterogen ist der
Turnschmerz, der wohl auf mechanischer Schä¬
digung der Muskelfasern beruht Auch die
toxischen Muskel- und Nervenschmerzen
(Alkohol, Blei, Gicht, Typhus usw.) haben
• mit dem eigentlichen Muskelrheumatismus
nichts mehr zu tun.
Dem akuten Gelenkrheumatismus
geht in 80% der Fälle eine Tonsillitis voran.
Der Erreger ist noch nicht bekannt Die
lymphatische Konstitution wirkt disponierend.
Die akuten septischen und pyämischen
Gelenkaffektionen mit ihren bekannten Erregern
sind ganz davon zu trennen; ebenso die Ge¬
lenkerkrankungen bei Infektionskrankheiten
(Scharlach, Typhus usw.).
Bei den chronischen Gelenkrheumatismen
ist zunächst der sekundäre, aus dem akuten
hervorgegangene zu erwähnen, dessen infektiöse
Ätiologie außer Frage steht. Im Gegensatz da¬
zu entwickelt sich die primäre, progressive,
deformierende Arthritis schleichend ohne
akutes Stadium. Bei dem Malum coxae
senile, einer Osteoarthritis deformans, handelt
es sich um regressive Veränderungen primär
im Knochen. Die Heb erden sehen Knoten
finden sich außer bei chronischem Pseudo¬
rheumatismus auch bei der Gicht. Letztere
ist eine Stoffwechselerkrankung, die mit dem
Gelenkrheumatismus nichts zu tun hat. Die
verschiedenen Formen der chronischen
Wirbelsäulen Versteifung schließen sich
teils an die echte Polyarthritis der
Wirbelgelenke an, teils stellen sie ein
primäres Knochenleiden dar, teils sind sie
myogenen Ursprungs. Die neurogenen
Gelenkerkrankungen (Tabes, Syringomyelie)
ähneln anatomisch mehr der Osteoarthritis
deformans. Die Gelenkneuralgie zeigt
keinen objektiven Befund, tritt anfallsweise
auf und darf nicht mit rheumatischen Prozessen
verwechselt werden.
Als rheumatisch sollte man aus dem
großen Reiche der Muskel- Nerven-, und Ge¬
lenkerkrankungen nur diejenigen aussondern,
die irgendeine Beziehung zur Erkältung
haben. W. Alexander (Berlin).
Otfr. Malier (Tübingen), Über BhenmatU-
mus. II. Teil. Med. Klinik. 1918. Nr. 16.
Welche tatsächlichen Vorgänge liegen dem
Begriff der Erkältung zugrunde? Man versteht
Original from
UNIVER3ITY OF MICHIGAN
Digitized by
Google
458
Referate über Bücher und Aufsätze.
darunter reflektorische Schädigungen entfernter
Körpergebiete, besonders im Innern des
Leibes, von sonst bedeckt getragenen oder
überhitzten Hautstellen aus. Müllers Unter¬
suchungen selbst haben gezeigt, daß durch den
Kältereiz eine Blutverschiebung von der Peri¬
pherie in die Tiefe hin stattflndet; daß also
ein Antagonismus zwischen den äußeren und
inneren Gefäßen besteht Die Verschiebung
erfolgt um so ausgiebiger, je stärker die ge¬
reizte Stelle kälteentwöhnt ist. Allein durch
solche abnormen Durchblutungsverhältnisse
können schon Gewebsschädigungen gesetzt
werden. Wichtiger als diese ist aber noch
der Umstand, daß, wenn an der betreffenden
, Stelle Entzündungserreger vorhanden sind,
diese mobilisiert und so richtige entzündliche
Veränderungen angefacht werden können.
Gegen die besprochene Form der „Er¬
kältung“ wirkt prophylaktisch die Abhärtung
im Sinne Dettweilers, d. h. Herabsetzung
der Reizempfindlicbkeit durch Gewöhnung an
steigende Reize. Der Krieg hat so abhärtend
gewirkt, daß Erkältungskrankheiten bei den
Feldtruppen selten sind, viel häufiger in der
Ausbildungszeit oder nach längerem Lazarett¬
aufenthalt.
Außer den reflektorisch bedingten Erkäl¬
tungen gibt es durch direkte Kälteeinwirkung
hervorgerufene Gewebsschädigungen in allen
Graden bis zur Erfrierung. Hiergegen gibt es
keine Abhärtung, weil der Reiz zu stark ist.
Die akuten und chronischen Myalgien
werden mit reflektorisch wirksamen
Mitteln behandelt: Faradisation mit dem
Pinsel, Massage, Einreibungen. Ebenso
wirken die meisten Bäder, von denen z. B. bei
den Wildbader Thermen die Radiumwirkung
dazukommt. Die Wirkungsart dieser letzteren
ist noch unbekannt; für ihre Wirksamkeit
spricht — außer vielen Erfolgen — auch die
als Reaktion bekannte, anfängliche Ver¬
schlimmerung. Ferner kommen einfache lokale
und allgemeine Wärmqapplikationen in Betracht.
Auch Injektionen von physiologischer Koch¬
salzlösung haben Bich als nützlich erwiesen.
Salizylate wirken schmerzlindernd, aber nicht
so spezifisch, wie beim akuten Gelenksheuma¬
tismus, leisten aber zur Anregung der Diapho-
rese gutes.
Bei den direkten Kälteschädigungen sind
besonders Sol- und Wildbäder wirksam. Die
entzündlichen Myositiden reagieren prompt
auf Salizylate. Das letztere gilt besonders
für die akute Polyarthritis, und zwar so
weitgehend, daß diese Reaktion bei Zweifeln
sogar differentialdiagnostischen Wert hat.
Müller empfiehlt große Dosen, schubweise
gegeben, dann aussetzen bis zur Erkrankung
neuer Gelenke. Ferner Einpackungen der Ge¬
lenke und bequeme Lagerung in halber Beuge¬
stellung. — Bei der chronischen, sekun¬
dären Arthritis gibt Müller nicht dauernd
innere Mittel. Hier ist mit Einreibungen,
Bi er scher Stauung, Wärme und Bädern vor¬
zugehen. Auch Radium-Trinkkuren sind zu
versuchen. Rechtzeitig Übung und Muskel¬
massage!
Bei rezidivirenden Arthritiden ist die
Feststellung und Entfernung des Infektions¬
herdes von großer Wichtigkeit. Hier kommen
kariöse Zähne .und — nach Päßler — be¬
sonders die Tonsillen in Betracht. Die Aus-
drückung der Mandeln genügt meist ebenso
wenig wie die Schlitzung, die Tonsillektomie
ist als die einzige spezifische Therapie
anzusehen.
Die Gelenkveränderungen bei Gonorrhoe,
Tuberkulose und Syphilis sind spezifisch zu
behandeln.
Was die Aggravation von Rheumatis¬
mus anbetrifft, so ist es zweifellos, daß auch
ohne Befund erhebliche Beschwerden bestehen
können. W. Alexander (Berlin).
Aufruf!
„Es wird das Jahr stark und scharf herffehn. Aber man muß die Ohren steif halten,
und Jeder, der Ehre und Liebe fürs Vaterland hat, muß alles daran setzen.“ Dieses Wort
Friedrich des Großen müssen wir uns mehr denn je vor Augen halten. Emst und schwer ist
die Zeit, aber weiterkämpfen und wirken müssen wir mit allen Kräften bis zum ehrenvollen
Ende. Mit voller Wucht stürmen die Feinde immer aufs neue gegen unsere Front an, doch
stets ohne die gewollten Erfolge. Angesichts des unübertrefflichen Heldentums draußen sind
aber der Daheimgebliebenen Kriegsleiden und Entbehrungen gering. An alles dies müssen wir
denken, wenn jetzt das Vaterland zur 9. Kriegsanleihe ruft. Es geht ums Ganze, um Heimat
und Herd, um Sein oder Nichtsein unseres Vaterlandes. Daher muß jeder
Kriegsanleihe zeichnen!
W. Büxenstein Druckerei und Deutscher Verlag G. m. b. H., Berlin SW.48.
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
FÜR
PHYSIKALISCH E « DIÄTETISCHE
(Begründet von E. v. Leyden und A. Goldscheider)
MIT ARBEITER:
r. A RIER (Perlin), A. BtiM (Wien', R. RDXBAUM (Wien). A, CZERNY (Berlin), II. EICH HOBST (Zürich).
M. EINHORN (New York). W. El. KRB (Heidelberg). F. FHANKKNHAUSIsK (Beriin-StegliU). K, FRANZ
(Berlin), P. \V. FÜR.BRINGKR (Berlin), J. GAT) (K&nigsfein i, T.). I. OLAX (Abbatia), J. 0. L. HKOBNER
ilAMichwilt). \\, I MS (Bbrlin). F. A. HOFFMANN (Lcifiiig), R. v. JAKSCtl (Prag), M. IMMELMAXN (Berlin).
O K LFMPEB KR (Berlin), K KRADS (Berlin), L. KBTTNKR.(Berlin), A. LAQHKUR (Berlin), V. J.AZARUS
(Berlin). M, LEVYDQP.N (Berlin'.. I.. MANN (Breslau). 3. AlA BOISE (Ebenliausen), F.MARTIUS Rostock),
M. MATTHES (Königsberg i. Br.), F. MORITZ (Köln). FR. v. WHl,LEß (München). K. v. NOOBÜE.V (Frank¬
luri a. M.l, P. K. PKL (Amsterdam), M. PRIBBAM (Prag), H.J. Ql'INCKE (Frankfurt a. M.). Th. ROSKNHEIM
(Berlin), M. RUBNKR (Berlin). H. SAHLI (Bern). J. .SCHREIBER (König*bergi. Pr ), H. STRAUSS (Berlin).
Al), v. -STRÜMPELL (Lciprig). E. ZANDER (Slockiiolm), N. ZUNTZ (Berlin).
HERAUSGEGEBEN
VON
A. GOLDSCHEIDER L. BRIEGER
A. STRASSER
REDAKTION; W. ALEXANDER
BERLIN V, FRlEDRICHAFi LH ELM-STRASSE 18
2 W EI UN A N Z! GSTER BAND (1918)
ZWÖLFTES HEFT (Dezember)
Leipzig 1918 * Verlag von Georg Thieme, Antonsirasse 15
Grigirtptjjrpr
Verlag von Georg Thieme, Leipzig
1919
Peiths-MedizinBl- Kolen der
(Börner)
Herausgegeben von Geb, S»a.-Kat Prof. Schwalbe, Berlin
Taschen!» H€h 4 Quartals» «,
' nebst
gebunden 2 Beiheften
5 Hark
Go gle
J N [VE R SITY ÖF < {äfiCH t GAN''
\
ZEITSCHRIFT
FÜR
PHYSIKALISCHE UND DIÄTETISCHE
THERAPIE
Begründet von E. v. Leyden und A, Goldscheider
Herausgeber:
A. GOLDSCHEIDER jU BRIEGER A. STRASSER
Öft ytc A»V£X.AN iiil H;. .ilr.iHo'. x •». • »■ .h -■< >. v •>
. 4 -pti .. W.. A$ti*»'«•$**; -'l$ct$ 7 r'W«
Vitbei«rAir**$# ;ify pwUitftbf; v»t5c4tfif: .die , öiis .Öteatexrfciri» «Ity^Wö b&d ff
tV. A SitÄis-yt^; -{X*. Wn\f £ilta'4. ?o *tvdtm. 01$ gtwUescbfcr Äo.rjipi >?oq Son
Uc au? vten KoPiVkuir vefsi^^W ; tin\&mg*RüfcVi geitefaru Ahßildi/ng
*uf br&uii^rfn ftifcilevtHoi£ht i t* ri*.^ r Aartu£Xriph iipd io reprsduHnot.^labi^t» Awirbrjtfcg ?l?tgb<4j
INHALT
l Original «• Arbeiten.
I. &ur Äeiiafniliuiir ciui* K rieg«nüphritW itt ^^ial liÄzatfetleö. Von 'Ur. Ernst jMoslor. Harlin., ,*
U ^«r ntfttife.Hiturßlfioheh Beb»ndlt>ng d«r cbföniÄürhen Arthritiden, Von Walter Krebse, AaobC»
^ . . . . • . . . . ■> \ - • . _ . ’ .. . . .. ^
11. Berichte «her Kongresse and Vereine.
IIÄffel.»^ri'Mlfer|i4fetvVereinigung n DeutsoUI&mls und Oß&fcrreieh-Ungarns, 1. Tagung der mVUiÄHiihphifi
AbteT|l>tig^n yüt# 11 Ms 13, OK lobet 1911 in Buden b. Wien- ^briJHdannß) < . ,
Kurhaus (KiosternosM öüflitlwaf/Kälte)
*>& tf $c rwr £**.fi x * wie 4 jj $V u. 0. Ifl,
V'ür Hot'Äs ,, iyarriH, i
Sioffwccit scl» a nd Nervenkrank SQfrdc &r H q
keü&rfnge «a usse nci tu men •irtfekiij» Erkrankte). — Ph)^tLä)techfc Hviinuttql
jeritefter \n ~ TVoTef^pun, — ^Vor^ gllch« Einricb tnn.gfen für W lii Wkqreni
Professor Df - Ootorrrmrin Professor Dr. Edens
Ijtäm der ’fcMbslic-a d«, Kßfhuiikiü Aerztlidrer teilte de*
pTtff, pr* l^^rnraniv virid Prof. Pv. F.dcjv» vftHrcfcn sien g*gHr>Mttig ; ). — *4#bwr£-daioh den i*iu*r>€
IrR Vf'iBlrrr gcur,cmwitin? Kbekr föö Lül-utniteifn.
J3Ö1 IJ'lgijhfty
Euclie*rkr»itWre<i* hifert>n-
,unö .Öia.senl: 3 Td#n
Wo eip 5 Km iö te SairfefiiM nlcf.i dfiiÄii^g.
• 1 'iÄttär KaestUTon mit Oberbrunriftti üI j
K ronenqueBte lianreri age^a© D««iraia
bei Katarrhen der
Atmur.ßs- und Verdauungen
organ®, tnfluenaa, Asthma,
Emphysem? auch oei Stoff-
:: wecheelerkranküngen ::
fFerdfTi tnatnonjinrü fcr! drrAo»»im8dii-lE;Apiodl!IOK fluriölf M«m«. Berlin 3 W, Bre^lÄnVB^den, t«öfflpei
dojf?,■i &m ^awtborf, Köln>. feti.,. Leipai& Mavrdeburß ^aimneim. Alöncbin; ;4üfbber#
?.a r? 'Wai^wban.BaseLZttricb. lnsmUjnssrüfH xin&hY&r'iv
Ox^äilr'CJke Tlieraiplfc. Bi.ec XÜ13 Btrfi W
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
I
•Original-Arbeiten.
i.
Zur Behandlung der Kriegsnephritis in Spezial-Lazaretten.
Von
Dr. Ernst Mosler,
zurzeit landstnrmpflicbtiger Arzt an einem Kriegslazarett,
Assistenzarzt an der Kgl. Universitätspoliklinik zu Berlin.
(Dir. Geb. Hed.-Rat Prof. Dr. Goldscheider.)
Es ist heute eine nicht mehr zu bestreitende Tatsache, daß die an der
sogen. Kriegsnephritis Erkrankten am besten in Speziallazaretten untergebracht
sind. Man braucht nur die Aufsätze von Goldscheider 1 ) und Robert 3 ) zu
lesen, um sich zu überzeugen, daß eine Absonderung der Nierenkranken von den
anderen Kranken geboten erscheint. Daß diese Speziallazarette am besten und
für die Kranken am nützlichsten möglichst dicht hinter der Front im vordersten
Teil der Etappe einzurichten sind, wird ebenfalls in diesen Arbeiten überzeugend
dargelegt. Bringt doch selbst der kleinste Transport, mag er noch so schonend
ausgeführt werden, eine wesentliche Verschlimmerung eines schon auf dem Wege
der Besserung befindlichen Leidens, eine Verschlimmerung, die den Kranken
häufig genug um viele Wochen zurückwirft. Auch scheinen, wie Goldscheider
ausgeführt hat, diejenigen Nephritiden bedeutend verzögerter zu verlaufen, die
einen längeren Transport im Anfang ihrer Erkrankung durchgemacht hatten. Es
muß auch besonders betont werden, daß die Ernährungsverhältnisse in der Etappe
sich durch geschickte Rationierung an die verschieden Erkrankten so günstig
gestalten, daß der Nephritiker fast friedensmäßig ernährt werden kann, jedenfalls
aber so, daß ihm unter Zuführung einer Kalorienmenge, wie sie ein mittelschwer
arbeitender Mann im Heimatgebiet augenblicklich erhält, nur Nahrungsmittel zu¬
geführt werden, die nach dem Stande der modernsten Wissenschaft auch dem
Nephritiker erlaubt sind.
Dem Arzt, dem die Aufgabe zufällt, solche Speziallazarette einzurichten,
und später zu leiten, erwachsen naturgemäß anfangs ungeheure Schwierigkeiten.
Wenn wir diese hier in der Etappe bei der X. und Y. Armee trotzdem über¬
wunden haben, so liegt das in erster Linie an dem nicht hoch genug anzu¬
erkennenden Interesse, das sämtliche militärischen Vorgesetzten, vor allem aber
der Chefarzt, der Kriegslazarettdirektor und der Konsultierende Innere gerade
dieser Erkrankung entgegengebracht haben. Bevor der leitende Arzt als Ab¬
teilungs-Vorstand an die Einrichtung eines Nieren-Spezial-Lazarettes geht, muß
*) Zeitschrift für diät. u. phys. Therapie 1918, Bd. 22.
*) Mediz.-Klinik 1916, Nr. 31.
Zeitschr. f. physik. *. dttt. Therapie Bd.. XXII Heft 12. 31
Digitized by
Go igle
'
UNIVERSETY OF MICHIGAN
460
Ernst Mosler
er mit großer Umsicht geeignetes Wartepersonal aussuchen. Ich denke da vor
allem an das weibliche Pflegepersonal, an das bei der Pflege von Nierenkranken
besonders schwere und außerordentlich verantwortungsvolle und moralische Auf¬
gaben gestellt werden. Den eingelieferten Schwerkranken, den Urämiker, zu
pflegen, wird heute nach fast vierjährigem Kriege wohl kaum einer Kranken¬
schwester mehr Schwierigkeiten darbieten. Wohl aber habe ich häufig Schwierig¬
keiten in der Zeit kommen sehen, in der die Kranken dem lebensbedrohlichen
Stadium entrückt, nunmehr in das lange, oft über Mo.nate hinaus sich erstreckende
Stadium der Genesung eingetreten sind. Ich behaupte nicht zuviel, wenn ich
sage, daß der Krankenschwester in dieser Zeit das Hauptverdienst an der weiteren
günstigen Gestaltung des Leidens zukommt. Die lange bevorstehende Bettruhe
und die lange außerordentlich eintönige Diät machen den Kranken schon früh¬
zeitig mißmutig, unwirsch und häufig genug auch mißtrauisch. Wie stark der
Drang im Menschen ist, sich irgendwie körperlich zu betätigen, sei es auch nur,
nm für einige Stunden verbotenerweise das Bett zu verlassen; wie gierig manche
Kranken nach farbreicherer und gewürzterer Kost sind; wie häufig direkt Ge¬
schmackshalluzinationen nach irgendwelchen • pikanten, ausgefallenen Gerichten
auftreten, das vermag nur der Stationsarzt zu beurteilen, der ja im Verlaufe der
Monate zu seinen Kranken in ein freundschaftliches Verhältnis tritt. Wieviel
kann hier eine verständige Schwester ausrichten, wieviel eine unverständige ver¬
derben! Ich kenne Schwestern, die mit wahrer Engelsgeduld monatelang dem
Kranken schluckweise die eintönige Nahrung zuführten, ihn immer wieder er¬
munterten und ihm durch die Aussicht auf baldige Genesung die Speisen schmack¬
haft zu machen versuchten; wieder andere, die sofort beschwerdeführend zum
Arzt liefen: „Der Kranke verweigere die Nahrung, er wolle durchaus gewürztere
Kost haben.“ Ein derartiges Personal, wie ich es zuletzt beschrieben habe, ist
natürlich von vornherein als für die Nierenstation ungeeignet, möglichst schnell
nach einer anderen Station zu versetzen.
Außerordentlich günstige Erfahrungen habe ich mit fortlaufender Belehrung
gemacht. Ich habe in gewissen Zeitabständen den versammelten Kranken kleinere
Vorträge über das Wesen und die Art der Kriegsnierenentzündung gehalten. Bei
diesen belehrenden Vorträgen habe ich ihnen populär auseinandergesetzt, aus
welchen Gründen man zu dieser gewiß nicht angenehmen Kost schreitet, aus
welchem Grunde man ferner die strenge Bettruhe verordnet. Ich habe ihnen
weiter Kurven von Leuten gezeigt, die bereits im Lazarett unter meiner Aufsicht
schwere körperliche Arbeit verrichten, die früher aber einmal in demselben
Krankheitsstadium, auch in derselben mürrischen Stimmung gewesen sind. Man
zieht durch diese Art von Belehrung eine mitarbeitende Kraft unter den Kranken
groß, die man nach meinen Erfahrungen unter gar keinen Umständen missen
darf, und ohne die eine segensreiche Behandlung überhaupt nicht möglich ist.
Ich möchte fast sagen, daß der glückliche Enderfolg von dem Geist abhängig
ist, der in dem betreffenden Lazarett herrscht. Ein einziger böswilliger Querulant
kann einen ganzen Saal verderben. Ein gutes Beispiel zieht immer wieder gute
Beispiele nach sich. Selbstverständlich hat der Arzt alles zu tun, um den Kranken
leichter über diese Schwierigkeiten und die trüben Gedanken hiuwegzubringen.
So halte ich es für absolut erforderlich, daß die weiter Vorgeschrittenen die
Digitizea
Google
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Zur Behandlung der Kriegsnephrjtis in Spezial-Lazaretten.
461
Mahlzeiten nicht mit Denjenigen zusammen einnehmen, die noch an Bettruhe und
strengste reizlose Diät gekettet sind. Die angenehmen Düfte der sogen. I. Form
wirken psychisch aufregend und können krankheitsverschlimmernd wirken. Ganz,
abgesehen davon, daß der Arzt dem Kranken nicht gerade dadurch eine Hand¬
habe zu geben braucht, seine Befehle zu durchkreuzen, daß er ihm anderes als
für ihn bestimmtes Essen vor die Augen hält. Daß starke seelische Erschütterungen
zu wieder beginnender-Blut- und Eiweißausscheidung führen können, habe ich des
öfteren gesehen. Ich denke besonders an einen Kranken, den plötzlich ein un¬
geheures Heimweh packte, so daß er sich nächtelang ruhelos umherwarf; auch
an einen anderen, einen Ingenieur, der plötzlich durch seine Frau über einen
großen Vermögensverlust benachrichtigt wurde. In beiden Fällen trat eine
wesentliche Verschlimmerung ein, deren ich aber durch größere Gaben Brom und
Codein sowie durch gutes Zureden in kurzer Zeit Herr werden konnte.
Ein weiterer wichtiger Faktor in der Behandlung ist das harmonische Zu¬
sammenarbeiten des Stationsarztes mit der Küche. Der Küchenzettel wild von
einer besonders erfahrenen Koohschwester mit dem Arzt zusammen aufgestellt,
so daß nach Möglichkeit eine bestimmte Kalorienzahl (2100 bis 2300 Kalorien)
täglich erreicht wird. Für abwechslungsreiche Kost muß der Inspektor, für ab¬
wechslungsreiche Zubereitung die Kochschwester ständig Sorge tragen. Auch
muß selbst in den größten Betrieben die Kochschwester stets willig bereit sein,
für eine geringere Zahl von schwer zu behandelnden Kranken extra zu kochen
und besondere Gerichte zu „erfinden“. Ich kann von unseren hiesigen Koch¬
schwestern nach dieser Richtung hin nur das Rühmendste sagen.
Wie freundschaftlich sich auch Arzt und Schwester gerade den Nieren¬
kranken gegenüber stellen sollen, so unerbittlich streng andererseits müssen sie
im Interesse der Sache sein. Selbst kleinste Konzessionen in bezug auf Er¬
weiterung der Kost oder in bezug auf das Aufstehen sind vor der Zeit für den
Kranken unheilvoll. In großen Betrieben, wo 300 bis 500 Nierenkranke behandelt
werden, muß man natürlich eine gewisse Schematisierung innehalten, ohne die
eine Ordnung nicht möglich ist. Immerhin aber ist ein Individualisieren mehr
wie notwendig. Bei unserer täglich von neuem zusammengestellten und genau
berechneten Einheitskost lassen sich je nach der Schwere des Falles mit Leichtig¬
keit Zulagen oder Abzüge dergestalt verabreichen, daß Eiweißgehalt und Salz¬
gehalt in der Nahrung Veränderungen erleiden. Ich möchte dies an der Hand
eines Kostzettels für einen bestimmten Tag des Näheren erläutern:
375 g Brot
90 g Butter
800 g Kaffee
Speise-Zettel:
70 g in Natur zum Brotaufstrich;
20 g sind in den Speisen enthalten
10 Uhr vormittags: 30 g Marmelade
12 Uhr mittags: 100 g Grießsuppe
150 g Buttergraupen
100 g Kartoffeln
(evtl. Fleisch- oder Quarkzulage).
6 Uhr nachmittags: 200 g Haferflockensuppe.
über den Tag
31*
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSETY OF MICHIGAN
462
Ernst Moaler
Diese Kost enthält unter Berechnung der Straußschen Zahlen:
41,9 g Eiweiß
2,5 g gewachsenes Salz
2332 Kalorien
— Fleisch.
Ans dieser salzarmen und fleischlosen Kost lassen sich non am Krankenbett
bei der Visite leicht folgende Umänderungen durch Zulagen schaffen:
Art der Kost
Eiweiß
g
gewachse¬
nes Salz
g
Kalorien
salzarm und fleischlos . . .
. . . .
.
41,9
2,5
2332
Butter
Ei
Milch
Fleisch
g
8t.
L.
g’
20 (155)
42,1
2,5
2487
1(71)
48,2
2,7
2403
V* (168)
50,4
2,9
2500
V. (335)
58,2
3,3
2667
25 (58)
51,0
2,5
2390
50 (115)
60,1
2,6
2447
75 (173)
69,2
2,6
2505
100 (231)
78,3
2,7
2563
Die eingeklaminerten Zahlen bedeuten die Kalorienmenge.
Das Muster einer solchen Einheitskost mit den betreffenden Zulagen hat der
Arzt bei der Visite für den betreffenden Tag ausgerechnet stets bei sich.
Andererseits läßt sich durch Abzüge leicht d6r Eiweißgehalt noch um fol¬
gende Werte verringern:
Art der Kost
Eiweiß
g
gewachse¬
nes Salz
g
Kalorien
salzarm und fleischlos ..
41,9
2,5
2332
bei Abzug von
75 g Brot
37,2
2,5
2153
100 g „
35,7
2,5
2094
150 g „
32,6
2,5
1975
200 g „
29,5
2,5
1856
Den fehlenden Kalorien wert ersetzt man dann durch Zucker, Marmelade oder
durch die ja immerhin sehr eiweißarme Butter. Es ist uns in solchen Fällen
stets technisch möglich gewesen, außer den 90 g Butter in besonderen Fällen
noch 30 g Butter zur Verfügung zu haben. Auf diese Weise erhält trotz einheit¬
lich geführter Küche fast jeder Kranke eine andere Nahrung. Es ist selbstver¬
ständlich, daß Fleisch, Butter, Salz, Zucker usw. auf Grammwagen ordnungsgemäß
abgewogen werden. An die Gewissenhaftigkeit und die Ausdauer der Schwester
wird hierbei eine große Anforderung gestellt.
"Digitizea by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Zur Behandlung der Eriegsnephritis in Spezial-Lazaretten.
463
Hat sich die genesende Niere der Zuführung einer gewissen Eiweißmenge
und Salzmenge angepaßt, so geht man schrittweise vorwärts. Am besten legt
man immer nur einen Nahrungsstoff zu. Man gebe also niemals an einem Tage
Zulagen verschiedener Nahrungsmittel, z. B. Fleisch- nnd Salzzulage. Die nächste
Zulage gebe man erst dann, wenn die erkrankte Niere die frühere Zulage reak¬
tionslos vertragen hat. Erfahrungsgemäß geht man am besten folgendermaßen
vor. Wenn das schwere Anfangsstadium, in dem ein Eiweißminimum und an
Salz nur das an die Speisen gewachsene Salz zugeführt wurde, glücklich über¬
wunden ist, so lege man allmählich grammweise Salzmengen zu, bis der Kranke
3 g Salzzulage, also eine Gesamtsalzmenge von 5 bis 6 g inkl. des gewachsenen
Salzes toleriert. Erst jetzt schreite man zu größeren Eiweißgaben. Auf Milch¬
zulagen lasse man Eierzulagen folgen nnd fange dann endlich mit Fleisch¬
zulagen an. Folgendes Schema möge diese Ausführungen erläutern, indem wir
wieder von dem obigen, für einen bestimmten Tag vorgesehenen KoStzettel
ausgehen.
Eiweiß
ff
Fleisch
(Ei, Milch)
ff
Salz
(gewachs.)
bzw. Zulage
ff
Kalorien
Verordnungen bezgl.
Bettruhe, Aufstand, Turnübungen
usw.
41,9
_
2,5
2332
Bettruhe
41,9
3,5
2332
41,9
4,5
2332
0
41,9
—
5,5
2332
»
50,4
V, L. Milch
5,9
2500
»
a 48,2
1 Ei
5,7
2403
*
S ( 51,0
25
5,5
2390
n
% 51,0
25
5,5
2390
2 Stunden Aufsitzen
“j 1 51,0
25
5,5
2390
2 „ Aufstand
3 60,1
50
5,5
2447
2 „ v
gleichzeitig
60,1
50
5,5
2447
4 „
Stehtibung, be-
60,1
50
6,5
2447
4 „
ginnend mit
60,1
50
7,5
2447
4 „
5 Minuten täg-
68.2
75
7,6
2505
4 „
lieh, allmählich
68,2
75
7,6
2505
6 r
steigend auf
68,2
75
8,6
2505
6 r
30 Minuten.
78,3
100
8,7
2563
6 * *
78,3
100
8,7
2563
ganzen Tag Aufstand
78,3
100
*,7
2563
» « r
10 g Salzprobe
78,3
100
8,7
i 2563
v r «
Skoliose-Übungen
78,3
100
8,7
2563
n rt v
Lordose „
78,3
100
8,7
2563
leichte körperliche Arbeit
78,3
100
8,7
2563
kalte Abreibungen
versucbsw. I. Form, d. h. eine Kost, die dnrchschn entb.:
70-80 |
1
14-18 |
3000-3400
Beschäftigung mögt.
in der Berufsarbeit
endgültig I. Form
n
Alkoholbelastnng(Va L. Bier od. y, Fl.Wein)
»
rt
kaltes Fußbad
n
n
lstflnd. Marsch in feldmarschmäß. Ausrtistg.
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
464
Ernst Mosler
So nützlich sich auch die schematische Behandlang der Nierenkranken er¬
wiesen hat, so möchte ich doch ausdrücklich betonen, daß der Arzt, znmal der
jüngere Mediziner, nicht etwa in den Fehler verfallen darf, seine ärztliche Visite
an toten Tabellen anstatt am Krankenbett zu machen, an dem ihm die Tabelle
nur ein gutes und bequemes Hilfsmittel sein soll.
Während der ganzen Zeit ist die Salzeinnahme und -ausscheidung genau
zu bestimmen, wie dies bereits in den Arbeiten von Goldscheider, Robert
und von Falkenhausen 1 ) des näheren ausgeführt ist.
Hat man den Kranken nach verschieden langer Zeit auf eine Diät einge¬
stellt, die also 40 bis 50 g Eiweiß insgesamt, 25 g Fleisch und 5 bis 6 g Salz
insgesamt enthält, dann erst beginnt man erfahrungsgemäß mit der physikalischen
Belastung. Unter Beibehaltung der genannten Diät, die wir fernerhin als „Mittel¬
form“ bezeichnen wollen; weil sie zwischen der strengen Nierenkost und der
I. Form steht, erlaube man dem Kranken, 2 Stunden am Tage sich neben seinem
Bett auf einen bequemen Stuhl zu setzen. Dieses Aufsitzen von 2 Stunden
steigere man, nachdem der Kranke es vertragen hat, zu einem zweistündigen
Aufstehen, bei dem es ihm erlaubt ist, im Saal etwas herumzugehen, und gehe
endlich zu 4 Stunden Aufstand über.
Sind auch diese 4 Stunden Aufstand reaktionslos vertragen worden, so
steigere man wieder Fleisch- und Salzgaben derart, daß man auf 50, 75 und
endlich 100 g Fleischzulage kommt und von 5 g Salz allmählich eine Gesamt¬
salzmenge von 8 bis 9 g erreicht. Bei einer Nahrung, die bereits 75 g Fleisch
und 7 bis 8 g Salz insgesamt enthält, erhöhe man den Aufstand auf 6 Stunden.
Bei einer Nahrung, die 100 g Fleisch und 8 bis 9 g Salz insgesamt enthält,
erlaube man dem Kranken bereits, während des ganzen Tages sich außerhalb
des Bettes aufzuhalten. Die 10-g-Salzprobe, d. h. die einmalige Zuführung von
10 g Salz haben wir am zweckmäßigsten dann eingefügt, wenn wir bereits bei
100 g Fleisch und 8 g Salz angelangt waren. In sehr vielen Fällen konnten
auch wir, wie schon von Falkenhausen, nach der 10 g Salzprobe eine starke
überschüssige Salzausscheidung feststellen, die oft sogar das Zwei- bis Dreifache
der Salzzufuhr betrug; ein Symptom, das nach meinen Erfahrungen als günstig
anzusehen ist. ,
Bald, nachdem wir dem Kranken erlaubt hatten aufzustehen, begannen wir
mit physikalischen Übungen. Wir ließen anfangs den Kranken 5 Minuten gerade
stehen und dehnten dieses Stehen dann allmählich auf 30 Minuten hintereinander
aus. Wenn der Kranke bereits den ganzen Tag aufstehen durfte, so hatte er jene
Stehübungen von 30 Minuten jedenfalls gut vertragen. Wir gingen dann zu den
Skoliose- und den Lordose-Übungen sowie anderen Freiübungen über. Während
der ganzen Zeit der Rekonvaleszenz wurden natürlich des öfteren Wasserbe-
lastungs- und Konzentrationsversuche ebenso wie Jodkaliproben angestellt.
Selbst bei nur ganz geringfügigen Steigerungen findet man oft genug, wie
Goldscheider dies auch schon betont hat, eine Verschlimmerung insofern, als
in dem bereits von Eiweiß und Blut freigebliebenen Urin abermals Blut oder
Eiweiß auftreten. Nichts wäre unrichtiger als nun den Kranken sofort wieder
') In.-Diss. Berlin 1917.
x
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Zur Behandlung der Kriegenephriti9 in Spezial-Lazaretten.
465
in die frühere Diätform oder das frühere Stadium physikalischer Belastung
zurückzuwerfen. Gewöhnlich paßt sich bei so langsamer Steigerung, wie es da«
Schema zeigt, die Niere sehr rasch dem veränderten Plus von diätetischer oder
physikalischer Belastung an, so daß auch unter Beibehaltung derjenigen physi¬
kalischen Mehrbelastung, die die Verschlimmerung verursacht hat, nach 1 bis 2
bis 3 Tagen wieder der günstige Status quo ante erreicht ist.
Ist alles dies ordnungsgemäß nach unserem Schema durchgeführt worden, ohne
daß eine länger andauernde Störung der Nierenfunktion aufgetreten ist, dann wird
dem Genesenden endlich jene gemischte Kost verabreicht, die wir als I. Form
bezeichnen, selbstverständlich unter beständiger Kontrolle des Urins auf Eiweiß
und des Sediments auf Blut. Zur Abhärtung haben wir bereits vorher mit täg¬
lichen kalten Abreibungen begonnen.
Unser Schema kann auch annähernd als Richtschnur gelten in Fällen, wo
eine wesentliche Besserung nach längerer Zeit strengster Behandlung nicht auf¬
getreten ist. Eine Chronizität soll man aber erst annehmen und damit gleich¬
zeitig die Hoffnung auf eine weitgehende Besserung fallen lassen, wenn man
wirklich viele Wochen lang keine Fortschritte zu verzeichnen hatte. Es ist
natürlich bei diesen Kranken nicht möglich, eine strenge, reizlose Kost Monate oder
gar Jahre lang durchzuführen. Man ist vielmehr gezwungen, diätetische und phy¬
sikalische Konzessionen nach der Richtung hin zu machen, wie unser Schema es
zeigt. Wir müssen uns dann eben mit dem Erreichbaren begnügen und schon zu¬
frieden sein, wenn eine diätetische oder physikalische Mehrbelastung keinen
Schaden zugefügt hat. Man wird es auch in diesen traurigeren Fällen fast stets
erreichen, den Kranken auf unsere Mittelform und auf 4 bis 6 Stunden Aufstand
während des Tages zu bringen, vielleicht sogar in dieser Zeit geringere körper¬
liche Arbeiten verrichten zu lassen.
Ich habe mich bemüht, eine möglichst einheitliche physikalische Belastung
für die Nierenkranken auszuarbeiten, da Aufstand, Freiübungen usw. doch bei
den verschiedenen Individuen wohl auch bis zu einem gewissen Grade verschiedene
Belastungsproben darstellen. Denn es ist klar, daß der Lebhafte während
seines Aufstandes seine Muskeln mehr in Bewegung setzen wird, als der Phleg¬
matische und daß der Jüngere die Lordose-und Skoliose-Übungen energischer be¬
werkstelligen kann, als der Ältere. Möglichst gleichmäßige Bedingungen schafft
nun m. E. eine physikalische Belastung, wenn man dem Körper Zentrum, also auch
den Nieren, durch vollkommenes Abbinden der Beine für eine gewisse Zeit die
Bewältigung einer größeren Blutmenge zumutet. Ich schaffte eine künstlich er¬
zeugte Plethora vera des Torso folgendermaßen:
Dem auf dem Rücken liegenden Kranken werden beide Beine bei gestrecktem
Knie im Hüftgelenk so weit wie möglich nach oben bewegt. Dann wird das
venöse Blut sorgfältig aus beiden Oberschenkeln und Unterschenkeln herausmassiert
und nunmehr beide Oberschenkel sofort nacheinander an der Grenze zwischen
dem oberen und mittleren Drittel mittels Esmarchschen Schlauches 20 Minuten
lang abgebunden. Es werden nunmehr der übrige Körper, vor allem aber die
Baucheingeweide, also auch die Nieren, eine vermehrte Blutzufuhr erhalten.
Dieser Versuch schafft annähernd gleichmäßige Bedingungen; denn die aus den
Beinen verdrängte Blutmenge wird stets dasselbe Verhältnis zur Gesamtblut-
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
466 Ernst Mosler, Zur Behandlung der Eriegsnephritis in Spezial-Lazaretten.
menge, zur Körpergröße und zum Körpergewicht haben. Jedenfalls sind durch
diesen Versuch exaktere physikalische Bedingungen geschaffen, als wie durch
unsere anderen physikalischen Übungen gegeben sind. Ähnlich wie bei anderen
physikalischen Belastungsproben konnte ich nun auch hier in einer Reihe der
Fälle sofort nach dem Versuch verstärkte Eiweißausscheidung und erneute
Blutausscheidnng feststellen. Nach einem, spätestens nach zwei Tagen ging,
wenn es überhaupt zu einer Schädigung gekommen war, diese wieder vorüber.
Die Fälle, in denen bei diesem Versuch keine weitere Schädigung erfolgte, glaube
ich als besonders günstig in bezug auf gute Ausheilung hinstellen zu können.
Jedenfalls konnte ich bei diesen sehr schnell diätetisch und physikalisch weiter¬
gehen, ohne daß sich eine schadhafte Reaktion zeigte. So einfach das Verfahren
auch zu handhaben ist und so harmlos es auch ist, wie ich mich anfangs au
Gesunden, später an Nierengenesenden überzeugt habe, so möchte ich doch nicht
seiner Einführung das Wort reden, da die ganze Prozedur als lästig und von
etwas wehleidigen Kranken als recht, schmerzhaft empfunden wird.
Die „Leute der I. Form“ werden von einem Feldwebel beaufsichtigt, dem
nun zusammen mit dem Arzt die Aufgabe zufällt, eine geeignete Beschäftigung
für die Leute zu finden. Möglichst sollen sie sich in ihrer Berufsarbeit betätigen
oder jedenfalls für ihre spätere Berufsarbeit widerstandsfähig und wiedergeeignet
gemacht werden. So haben wir hier Schusterwerkstätten, Schneiderstuben, Ra¬
sierstuben, Tischlereien, Holzschuhmachereien eingerichtet, haben Landwirte mit
der Schweinemast oder mit Gartenarbeit betraut. Haben die Leute bereits
mehrere Wochen lang diese Arbeit unter Darreichung der I. Form gut vertragen,
ist ihnen auch die sehr beliebte Toleranzprobe gegen Alkohol (V 2 L. Bier oder
Va Fl. Wein) gut bekommen, so geben wir als weitere Belastung ein kaltes
Fußbad bis zu einer halben Stunde und lassen die Leute endlich in feldmarsch¬
mäßiger Ausrüstung eine Stunde marschieren.
Es kann natürlich nicht verheimlicht werden, daß selbst bei diesem schritt¬
weisen Vorwärtsgehen auch dann noch Rückfälle aufgetreten sind. Doch sind diese
Rückfälle, die ja wagen der dauernden Kontrolle des Urins sofort bemerkt werden,
niemals ernster Natur gewesen. Findet man bei einem bereits Genesenen 2 oder 3-
Tage hintereinander wieder Blut im Sediment, so genügt meistens Bettruhe von
wenigen Tagen unter Verabreichung unserer Mittelform, um diese neue Schädigung
zu beseitigen und um den Betreffenden bald wieder reif für die vorher verrichtete
Arbeit zu machen, die er nun gewöhnlich ohne weitere Schädigung vertragen wird.
Eine solche Behandlung und spätere Beaufsichtigung der an Nierenentzündung
erkrankt gewesenen Mannschaften dauert natürlich viele, viele Monate lang. Sie
stellt, wie ich auseinandergesetzt habe, eine außerordentlich hohe Anforderung
an die Geduld des Stationsarztes und des ganzen Personals, nicht zuletzt an den
Kranken selbst. Der Erfolg aber, den wir durch unsere Behandlung bei der
überwiegend großen Anzahl unserer Kranken zu verzeichnen haben, ist für die
aufgewandte Mühe eine entsprechend schöne Belohnung.
Ölgitizea by
Gougle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Zur nichtchirurgischen Behandlung der chronischen Arthritiden.
467
i
/
n.
Zur nichtchirurgischen Behandlung der chronischen Arthritiden.
Aas dem Landesbad der Rheinprovinz (Chefarzt Dr. Krebs).
Von
Walter Krebs
in Aachen.
(Schloß.)
Balneotherapie.
Im weitesten Maße wird schon seit alters von den Heilbädern bei der Be¬
handlung der. chronischen Gelenkentzündungen Gebranch gemacht. Viele, be¬
sonders unserer heißen Bäder, sind schon vor Jahrtausenden den „gicht“kranken
Menschen wegen ihrer guten Wirkung bekannt gewesen und von ihnen deswegen
aufgesucht worden. Und nach wie vor üben die Wild-, Kochsalz- und Solbäder
ihre Anziehungskraft auf alle, die an sogenannten gichtischen und rheumatischen
Beschwerden leiden, aus. Im Rahmen einer kurzen Abhandlung die Wirkungs¬
weise dieser Bäder näher darzutun, ist unmöglich, doch sei nur soviel gesagt,
daß auch sie vor allem den Stoffwechsel fördern, sei es, daß dies nun durch die
Höhe der Temperaturen, sei es durch den Radiumgehalt — besonders bei den
salzarmen Wildbädern — oder den Salzgehalt der Kochsalz- und Solbäder ge¬
schieht (Heubner). Es sei dabei gleich bemerkt, daß die Dauer der Badekuren
gegen chronische Arthritiden nicht zu kurz bemessen ist. Nur in leichteren Fällen
wird man schon mit 4 Wochen zum. Ziel gelangen, in der Mehrzahl dürften aber
längere Fristen erforderlich werden, zumal oft wiederholte Kurunterbrechungen
durch interkurrente, reaktive Verschlimmerungen bedingt sind.
Die bei den Badekuren gleichzeitig angewendeten Trinkkuren unterstützen
die ersteren nach mehr als einer Richtung und werden an den verschiedenen
Orten verschieden gehandhabt. Jedenfalls drängt sich, je länger und genauer
man den Einfluß des Trinkens von Thermalbrunnen bei gleichzeitigen Badekuren
zu beobachten Gelegenheit hat, die Überzeugung immer mehr auf, daß der inner¬
liche Gebrauch des betreffenden Wassers von außerordentlicher Bedeutung ist und
daß — wenn es die Verhältnisse des Magendarmkanals und die Beschaffenheit
des Wassers irgendwie gestatten — möglichst nicht zu kleine Mengen gegeben
werden sollten. Im besonderen in Aachen-Burtscheid, wo das Thermalwasser so
warm getrunken zu werden pflegt, als es erträglich ist, empfiehlt es sich dringend
nicht unter 1 ’/a - 2 Liter trinken zu lassen. Der berühmte Badearzt Blondei
in Aachen vor ca. drei Jahrhunderten ließ bis 4 Liter täglich trinken! Nicht
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSETY OF MICHIGAN
468
Walter Krebs
nur wird durch den Genuß des heißen Wassers die Erzeugung von Schweiß und
die Erhöhung des Stoffwechsels erheblich gefördert, sondern es muß auch eine
— ganz abgesehen von etwaiger spezifischer Einwirkung, z. B. auf die fermentative
Wirkung der Verdauungsorgane, deren einwandfreier-Nachweis in manchen Bädern
noch .aussteht — Durchträukung des Muskelgewebes (Magnus) mit Wasser
— salzhaltigen und -armen — angenommen werden. Bei der allmählichen Wieder-
ausscbwemmung des Wassers aus diesen Muskeldepots ist anzunehmen, daß ein
nicht unerheblicher Säftestrom im Gewebe entsteht, der bei den bekannten engen
Zusammenhängen zwischen Muskel- und Gelenkernährung, nicht ohne Bedeutung
für die benachbarten Gelenke sein kann.
Wenn dazu noch wie in einzelnen Wildbädern — so in Ragatz — die
mechanische Einwirkung der Dusche im Wasser selbst tritt, so ist es wohl
möglich, Erfolge zu erzielen, die den von alters her bestehenden Ruf solcher
Bäder zu stützen und neu zu fördern vermögen.
Ganz besonders technisch entwickelt ist die Art der Duschenverabreichung
in Verbindung mit gleichzeitiger Massage in Aix les Bain und ihr ähnlich in
Aachen; letztere sei, weil sie in dieser Weise nur wenig bekannt, mit einigen
Worten kurz geschildert.
Die Badewanne enthält durchschnittlich 700—1000 Liter, ist im Boden eingelassen,
wird deshalb mittels einer nach unten führenden Treppe bestiegen und zumeist von
Patienten in sitzender Haltung gebraucht. Je nach dem Leiden nnd dem Körperteil, der
gednBcht werden soll, steht oder sitzt der Patient beim Dnschen, während der Dnschenr
ihm gegenüber ebenfalls i n der Wanne seinen Platz nimmt. Unter gleichzeitiger Anwen¬
dung der beweglichen von der einen Hand geleiteten Strahldusche wird nun der betreffende
Körperteil meist mit der anderen Hand massiert, ein gewandter Badediener vermag jedoch
mittels des über seine Schulter gelegten Schlauches, dessen Strahl er durch entsprechende
Bewegungen der Schulter dorthin leitet, wo er gleichzeitig massiert, mit beiden Händen
die Massage vorzunehmen. Die Dauer der Dusche beträgt gemeinhin 10 Min.,* ihre
Temperatur 38 bis 39° C. Der Patient bleibt nach der Dusche in der Wanne, die sich
durch das Duschewasser meist genügend gefüllt hat, oder, ist dies nicht geschehen, bis
zum Überlauf hinterher gefüllt wird — Temperatur des nachfolgenden Bades 36 bis 37° C.
Gesamtdauer der Bäder einschließlich der Duschemassage 20 bis 25 Min. Bei sehr
empfindlichen Patienten gehe ich so vor, daß ich ihnen erst mehrere Unterwasserduschen
geben oder sie geben sie sich selbst in gefüllter, Wanne, sodann übergehe ich zur Über¬
wasserdusche in leerer Wanne mit gebrochenem Strahl — ein Finger des Duscheurs
teilt den Strahl an der Rohröffnung fächerförmig und mildert bo die mechanischen Ein¬
wirkungen — ohne gleichzeitige Massage, dann die Massage hinzunehme, und schließlich
den ungebrochenen Strahl mit Massage — Duschemassage — verordne. Daß diese Kur
sehr anstrengend ist und eine nicht unerhebliche Energie seitens des Patienten voraus¬
setzt, ist offenbar, daß wir aber auch mit einem solchen Verfahren allgemeine, •— und
örtliche Wirkungen auszuüben vermögen, die ihresgleichen suchen, und die wir zu unserer
Freude selbst bei den hartnäckigsten Fällen immer wieder noch auftreten sehen, bedart
andererseits wohl auch kaum der Betonung.
Außer den allgemeinen Bädern empfiehlt es sich noch tägliche Teilbäder für die
distalen Gelenke von J / 2 ständiger Dauer und mit Temperaturen von 40 bis 42° C
zu verordnen, denen stärkere Trockenfrottierungen und Bedeckungen mit wollenen
oder baumwollenen Kleidungsstücken s. o. — folgen. Auch nächtliche Kompressen,
mit heißem Thermalwasser (42° C) angelegt und von einer dicken Flanellschicht
überdeckt, sind in vielen Fällen von recht guter Wirkung.
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Zur nichtchirurgischen Behandlung der chronischen Arthritiden.
469
Außer den Wild-, Kochsalz- und Solebädern sind noch als weitere, gegen
chronische Gelenkentzündungen wirksamen Heilbäder die Moor- und Schlamm¬
bäder zu nennen. Bei beiden kommt vor allem weniger die chemische Zusammen¬
setzung in Betracht, als vor allem ihre physikalische Beschaffenheit, die wegen
ihrer großen Wärmekonstanz und durch ihre spezifische Wärme und Wärme¬
kapazität günstig auf alle alten Gutzündungsherde wirken.' Sie können wegen
ihrer geringeren Wärmekapazität als Wasser in höheren Temperaturen und für
längere Dauer als Wasserbäder angewendet werden und üben aueh durch die
Schwere ihrer Masse einen merklichen, komprimierenden und massierenden Druck
auf den Körper des Badenden aus. Neben diesen thermischen nnd mechanischen
Wirkungen sind jedoch besonders bei mineralischen Moorbädern — Eisen-,
Schwefel-, salinische Moorbäder — die chemischen Einwirkungen durch die in ihnen
vorhandenen Säuren und Salze auf die Haut nicht völlig von der Hand zu weisen,
die ihre stärkere Durchblutung durch den Reiz auf die Vasomotoren begünstigen.
Außer den allgemeinen Moor- und Schlammbädern, bei denen Temperaturen von
meist 38 bis 42° C angewandt und dadurch mehr oder weniger starke Schweißab¬
sonderungen und Stoffwechselsteigerungen erzielt werden —, gelangen auch Teil¬
bäder, sowie Umschläge und Packungen zur Anwendung. In den letzten Jahren
sind besonders die Fangopackungen viel angewandt worden, die auch in der
Häuslichkeit der Kranken selbst vorgenommen werden können. Auch bezüglich
des Fangos, der mineralischer Natur und vulkanischer Herkunft ist, war der große
Krieg ein trefflicher Lehrmeister, insofern, als der früher meist aus Italien
bezogene Schlamm (Battaglia in Ober-Italien) nun ersetzt wird nnd zwar in
durchaus vollgültiger Weise durch den aus der vulkanischen Eifel stammenden.
Den Packungen, mit denen leicht eine starke Verschmutzung der Umgebung
verbunden ist, werden vielfach Fangoteilbäder vorgezogen, die in Eimern oder
anderen entsprechenden Gefäßen genommen werden, deren Inhalt bei demselben
Patienten unbedenklich mehrere Male hintereinander — von neuem erwärmt und
mit heißem Wasser oder Thermalwasser zu dickbreiiger Konsistenz verrührt —
gebraucht werden kann.
Der zu Bade- nsw. Zwecken benutzte Schlamm wird als Niederschlag in schwefel-
nnd kochsalzhaltigen Quellen oder am Strande von Meeren nnd Seen (besonders am
Schwarzen Meere) gefunden nnd gewonnen, aber fast nur an den Orten der Gewinnung
selbst zu therapeutischen Zwecken verwandt. Es dürfte jedoch nur eine Frage der
Technik bzw. des Vertriebes sein, daß auch diese Schlammsorten in pulverisiertem
trockenen Zustande, ähnlich wie der Fango, zur Vornahme von Hauskuren usw. versandt
wird. Jedenfalls dürfte dann auch der Schlamm von der Kurländischen Küste bzw. von
Ahrensburg auf der Insel Ösel sich in Deutschland seinen Markt erobern, gleichwie er
schon seit langem in den Küstenländern Deutsch-Bußlands viel gebraucht und hoch ge¬
schätzt wird.
Schließlich sei noch der Sandbäder gedacht, die bei chronischen Arthritiden
vielfach besonders geschätzt werden. Außer den natürlichen, in südlichen Gegenden
im Freien genommenen Bädern, z. B. in dem Sande des Meeresstrandes, sind in
Deutschland vor allem die Sandbäder mit künstlicher Erwärmung, deren Tempe¬
ratur 50 bis 55° C sein darf, in Gebrauch; für 1 Stunde und noch länger gegeben,
wirken sie gleich den Moor- usw. Bädern durch ihren mechanischen Druck und
rufen andererseits wegen ihrer hohen Temperatur starke Schweißabsonderung und
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
470
Walter Krebs
somit Flüssigkeitsabgabe hervor. Auch hier sehen wir wieder, wie die Tempera¬
turen der Bäder, nm so höher sein dürfen, je trockener das Medium bzw. je größer
die Möglichkeit ist, den an der Körperoberfläche ausgetretenen Schweiß zu ver¬
dunsten, was bei den Wasser-, Schlamm-, Moorbädern nicht möglich ist. Daß auch
die Sandteilbäder — in kleinen Eimern o. dgl. genommen — durch den mechanischen
Druck einerseits und die Höhe der Temperatur andererseits starken Einfluß auf
erkrankte Gelenke ausznüben vermögen und u. a. eine erhebliche Hyperämie er¬
zeugen, soll nur noch kurz erwähnt werden.
Zweckmäßig ist es, alle heißen Süßwasser- und Heilbäder ungefähr nach der
dritten Woche am Schluß des jedesmaligen Bades auf 32 bis 30° C event. noch
tiefer schnell abzukühlen, wobei die Kranken, falls sie dazu in der Lage sind,
Schwenkbewegungen machen sollen. Einmal wird dadurch das im Anfang der
Behandlung meist durchaus erwünschte und beabsichtigte Nacbschwitzen gehemmt
und eingeschränkt, und eine Schwächung des Organismus, die bei dem anhaltenden,
profusen Schwitzen zu gewärtigen ist, verhindert. Ferner wird aber auch eine
abhärtende Wirkung durch die kurze Schlußabkühlung erzielt, die sehr nötig er¬
scheint, da ohne sie nach derartigen thermischen Kuren die Kranken allen er¬
kältenden Einflüssen wegen der Erschlaffung und des herabgeminderten Tonus der
Hautgefäße mehr ausgesetzt sind, als vorher. Und was die Erkältungsgefahr
gerade für Menschen mit chronischer, primärer und sekundärer Arthritis zu be¬
deuten hat, ist ja bekannt. Bei den Moor-, Schlamm- und Sandbädern wird die
Schlußabkühlung naturgemäß in den ihnen nachfolgenden Reinigungsbädern, in
denen die Kranken, meist bei 35 bis 36° C noch 15 bis 20 Minuten zu liegen
pflegen, vorgenommen.
Die örtliche Anwendung der Breiumschläge bei den chronischen Arthri¬
tiden ist eine Form der Einwirkung, die ebenfalls althergebracht und weit ver¬
breitet ist. Sie alle werden mit weichen Breimassen — die auf 40 bis 42° 0
erwärmt werden — gefüllt und so angelegt, daß sie längere Zeit liegenbleiben
können, also gut mit dicken Tüchern bedeckt, um, wenn ihre Temperatur ge¬
sunken ist, durch neue Umschläge ersetzt zu werden. Als Füllung werden meist
Leinsamen, Kartoffeln und andere die Wärme gut beibehaltende Materialien, als
Umhüllung kleine besonders angefertigte Säckchen oder mehrfach gefaltetes altes
Leinen genommen. — Unmittelbar auf die Haut in dicker Schicht gestrichen und
ebenfalls von dicken Tüchern bedeckt, stellen die Umschläge von Moor, Fango
(s. oben) oder auch von Lehm und Ton, die alle vorher fein gesiebt und mit
heißem Wasser oder Thermalwasser zu breiartiger Konsistenz verrührt sein müssen,
vortreffliche Mittel zur Erzeugung von Hyperämie und zur Beseitigung der
Schmerzen dar. Ganz besonders möchte ich hierbei Packungen aus heißem Senf¬
mehl empfehlen, die allerdings nur 10 Minuten liegen bleibeu und von hydro-
pathischen Umschlägen gefolgt sein sollen. Ihre Wirkung ist meist außerordentlich,
so daß nur täglich einmal eine derartige Packung nötig ist, die so oft wiederholt
werden soll, als der Zustand der Haut dies zuläßt und das Leiden es bedingt.
Die Frage nach der Diät der an chronischen Arthritiden leidenden Patienten, ist
nicht so ohne weiteres zn beantworten. Handelt es sich nm eine gichtische Grundlage,
so ist naturgemäß auf eine sachgemäße Ernährung Gewicht zu legen. Daß bei den
heutigen Anschauungen über die große Bedeutung der purinhaltigen Kost bei Entstehung
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Zur nichtchirnrgischen Behandlung der chronischen Arthritiden.
471
der Gicht danach zu streben ist, die Einführungen derartiger Nährmittel möglichst zn
beschränken, liegt auf der Hand. Freilich muß man sich dessen bewußt bleiben, daß
viele Menschen dauernd einen relativ hohen Blutharnsäuregehalt zeigen und fast täglich
die schlimmsten Exzesse quantitativer und qualitativer Art in der Nahrungsaufnahme be¬
gehen, ohne daß sie je einen typischen Gichtanfall gehabt oder gichtische Gelenkerkran¬
kungen aufzuweisen haben, während andererseits viele Gichtkranke trotz schärfster Diät
und Enthaltsamkeit in Essen und Trinken von gichtischen Attacken nach wie vor heim¬
gesucht werden. Es müssen deshalb noch andere Gründe und Umstände angenommen
werden, die zu der Blutharnsäure hinzutreten müssen, um die gichtischen Erscheinungen
im Organismus hervorzurufen. Daß dabei der von Heilner (s. o.) angenommene spezi¬
fische Gelenkschutz eine wichtige Rolle spielt, ist anznnehmen. — * Immerhin empfiehlt
es sich in allen Fällen einwandfrei festgestellter Gelenkgicht die Blutharnsäure auf ein
Minimum zurückzuschrauben und das gelingt nur auf dem Wege der Diät mittels
purinfreier bzw. -armer Kost (auch die fleischfreie Kost enthält in manchen Nahrungs¬
mitteln noch Purinstoffe — so Spinat, Erbsen, Linsen, Steinpilze, Pfifferlinge usw.).
Einen guten Anhalt bei der Auswahl der Speisen bietet die Nahrungsmitteltabelle von
Schall und Heisler, Würzburg bei Kabitzsch. Diese Diätverordnungen unter den
jetzigen Verhältnissen längere Zeit — und mit wenigen Wochen ist nicht viel erreicht —
durchzuführen, ist außerordentlich schwierig, wenn nicht unmöglich. Aber auch in fried¬
lichen Zeitläuften scheitert man sehr häufig an den äußeren Lebensbedingungen der
Kranken und an ihrer mangelnden Einsicht und Energie, die zumal der so besonders
notwendigen Einschränkung der Nahrungsaufnahme in quantitativer Hinsicht Hindernisse
in den Weg legen. Nach' einer streng pürinfreien Diät von 2 bis 3 Monaten erscheint
es jedenfalls in vielen Fällen durchaus angängig, 2- bis 3 mal, späterhin bis zu 6 mal
wöchentlich Fleisch (täglich 150 g) zu gestatten, wobei aber die zellreichen Organe wie
Briesen, Leber, Hirn, Nieren, Lunge auszuschließen sind. Von Getränken meide man
nicht nur Alkoholgetränke — am ungünstigsten wirken nach meinen Erfahrungen Bur¬
gunder-, Rheinhessische, Ahr- und Naheweine, Sekte und selbstverständlich der Schnaps
in jeglicher Form, sowie die schweren Biere, besonders das englische, weniger ungünstig
leichte Mosel-, Saar-, Ruwer-, Rheingau- und Bordeauxweine mit Sauerbrunnen verdünnt
— sondern auch Tee und Bohnenkaffee, wenn sie nicht sehr dünn getrunken werden,
da der Übergang der in ihnen enthaltenen Methylpurine in Harnsäure keineswegs aus¬
geschlossen ist. Naturgemäß sind Malzkaffee und ähnliche Surrogate des Bohnenkaffees,
ebenso wie Kakao völlig unschädlich. Als Tafelgetränk kommen Limonaden, kohlensaure
Wasser, wie Aachener Kaiserbrunnen, Burtscheider Sprudel, Selterser, Wildunger Georg-
Viktorquelle u. a. m. in Betracht, von denen täglich ungefähr 2 Liter zu trinken sind.
Vor dem reichlichen Genuß alkalischer Wasser wird von manchen. Seiten, so auch .von
Brugsch gewarnt, da sie ebenso wie forcierte Obstkuren — Zitronen-, Traubenkur usw.
— geeignet seien, entzündliche Uratherde zu begünstigen.
Bei der Festsetzung der Diät ist auf den jedesmaligen Ernährungszustand des
Patienten zu achten. Da Gicht nicht selten mit Fettleibigkeit einhergeht, so ist auf diese
nicht nur mittels anderer physikalischer Mittel, sondern auch durch entsprechende Kost
einzuwirken, ebenso wie andererseits bei etwa heruntergekommenen Körperkräften bei der
Kostanordnung diesen Rechnung zu tragen ist.
Die Diät bei der chronischen primären und sekundären Arthritis bedarf im allge¬
meinen keiner besonderen Regelung — doch ist bei vollblütigen Personen, besonders wenn
gesteigerter Blutdruck vorhanden ist, die im Jahr mehrfach zu wiederholende lakto-vege-
täbilische Ernährung auf die Dauer von 4 bis 5 Wochen sehr zweckmäßig und eine Be¬
rücksichtigung des jeweiligen Allgemeinzustandes des Patienten bei der Kostfestsetzung
stets geboten. Im übrigen gelten auch hier die bei der Gicht erwähnten Vorschriften
falls Fettleibigkeit — besonders bei Erkrankungen der Gelenke der unteren Extremitäten
— oder andererseits Unterernährung das Krankheitsbild komplizieren. Besteht Subazi¬
dität des Magens, wie von anderer Seite und auch von mir in zahlreichen Fällen nach¬
gewiesen ist, so erscheint es angebracht, dieser in der Kost- auch in der medikamentösen
Verordnung, sowie in den Vorschriften der Trinkkur Rechnung zu tragen.
Digitized by
Go igle
UNIVERSETY OF MICHIGAN
472
Walter Krebs
Mechanotherapie. Die Bedeutung der Massage fdr die Behandlung chronisch
erkrankter Gelenke ist m. E. allen anderen mechanotherapeutischen Anwendungen über¬
legen, vorausgesetzt, daß sie von einem Personal vorgenommen, das nicht nur gut unter¬
richtet und geschnlt ist, sondern auch Zeit genug besitzt, sich in Ruhe und mit Sorgfalt
des einzelnen Falles anznnehmen. Ist dagegen der Masseur überlastet nnd kann er dem
einzelnen Kranken nur wenige Minuten widmen, wie in vielen Anstalten leider Gebrauch,
so erscheint naturgemäß der Erfolg. solch flüchtiger Massagen, bei denen der Masseur
nicht einmal die Eigenheiten der betreffenden Gelenkerkrankungen wahrnehmen kann, zum
mindesten zweifelhaft. Ferner ist es durchaus unzweckmäßig, wenn etwa der Masseur bei
jeder Massage wechselt, da ein mit den Sonderheiten der betreffenden Gelenkerkrankung
vertrauter Masseur naturgemäß beim nächsten Mal ganz anders einwirken wird als ein
neuer, unorientierter. Es ist nicht Zweck dieser Zeilen, die einzelnen Handgriffe und
Manipulationen, die bei der Massage chronischer Arthritiden in Betracht kommen, hier
anzugeben und zu beschreiben. Auf einige Punkte jedoch muß ich hier eingehen, da sie
mir von großer Bedeutung für den Erfolg der Massage zu sein scheinen.
Einmal darf in keinem Falle verabsäumt werden, die einleitende Massage
der zentralwärts gelegenen Muskeln und Sehnen vorzunehmen, da sie für die
Beschaffenheit der Blut- und Lymphbahnen und für die Strömungsverhältnisse in
ihnen von außerordentlichem Wert ist; aber auch im Interesse der oft vor¬
handenen Atrophien der Muskulatur ist diese Muskelmassage unbedingt von
Nöten, da vielfach wegen der gleichzeitig dadurch herabgesetzten Leistungsfähig¬
keit der Muskeln der Gebrauch der Gelenke aufs empfindlichste verzögert und
erschwert wird.
Ferner muß den reibenden, mit überstrecktem Endgliede der Finger vor¬
genommenen Massagebewegungen, die nicht nur eine Zerkleinerung der Ent¬
zündungsprodukte zum Ziel haben, sondern auch ungemein schmerzstillend
wirken, mit Nachdruck das Wort getedet werden. Aktive und passive Wider¬
standsbewegungen der Gelenke sollen dann, sofern die letzteren beweglich und
keine frisch entzündlichen Beizungen vorhanden sind, den Schluß der Massage
darstellen. — Abgesehen von diesen örtlichen Eingriffen wird eine Ganzmassage
des Körpers zur Förderung des Ges^mtstoffwechsels, der ja besonders bei der
Gicht, aber auch bei der Osteo arthritis deformans und den anderen chronischen
Arthritiden von hoher Wichtigkeit ist, ebenfalls stets von Nutzen sein.
Ein weiterer Ausbau der eben genannten Widerstandsbewegungen bzw. eine
Ergänzung ist in der Anwendung der Mediko-Mechanik zu sehen, die aktiv und
passiv bei vielen chronischen Gelenkentzündungen außerordentlichen Segen stiftet,
und es ist erstaunlich, wie häufig noch Patienten mit chronischen Arthritiden zur
Behandlung gelangen, die aus Besorgnis vor Schmerzen genau das Gegenteil von
dem tun, die Gelenke bewegungslos und still halten und so früh einsetzende Ver¬
steifung veranlassen.
Die Frage, ob Bewegung, ob Ruhe bei der Behandlung der chronischen Arthri¬
tiden zweckmäßig sei, ist freilich nicht so ganz einfach und grundsätzlich zu be¬
antworten. Auch hierbei liegt die Entscheidung allein im örtlichen Befunde. So
sehr die unbelasteten Pendelbewegungen bei zahlreichen Arthritiden noch Gutes
zu stiften vermögen, selbst in Fällen, bei denen im Röntgenbilde ein stärkerer
Schwund des Knorpelübet zuges der Gelenkenden festzustellen ist, und bei denen
etwaige Ergüsse oder Kapselschwellungen durchaus keine Kontraindikation dar¬
stellen, so sehr können sie auch wiederum schaden in den Fällen, wo starke
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Zur nichtchirurgischen Behandlung der chronischen Arthritiden. 473
.Deformitation bis zu Subluxation bestehen und wo auch in der Ruhe die Patienten
nicht schmerzfrei sind und jede Bewegung — auch die unbelastete — starke
Schmerzen evtl. Temperatursteigerungen und Ergüsse hervorruft oder letztere ver¬
mehrt. Hier sind zeitweise ruhig stellende oder extendierende Verbände ange¬
zeigt, unter denen manchmal schon in einigen Tagen, meist aber erst in Monaten
oft wesentliche Besserungen erzielt werden können, wobei bemerkt sein möge,
daß eine Massage und Faradisation der Muskeln und Gelenke mit dieser Ruhig¬
stellung zweckmäßig einhergehen soll.
Die Befürchtung, daß unter den die Gelenke ruhig stellenden, r extendierenden
Verbänden die später so schwer zu beseitigende Muskelatrophien auf treten bzw.
etwa schon vorhandene noch weiter zunehmen würden, erscheint unbegründet,
besonders auch im Hinblick auf den nachstehend beschriebenen Fall: mit zuneh¬
mender Ausheilung der Gelenke nimmt auch die Muskulatur an Umfang zu, selbst
wenn sie nur wenig oder fast gar nicht betätigt wird. Ein Beweis mehr für die
Richtigkeit der Auffassung, daß z. B. bei Kniegelenksleiden die Atrophieen der
Oberschenkelmuskulatur nicht so sehr eine Folge der Inaktivität sind, als von
subkortikalen, reflektorisch oder automatisch vermittelten, aus unbewußter Angst
vor etwaigen Schmerzen hervorgerufenen Hemmungen der normalen Innervation
(Goldscheider, Weintraud) herrühren.
Ein Beispiel des guten Erfolges eines solchen Verbandes sei hier kurz
wiedergegeben:
D., 25 Jahre alt, sonst gesund nnd erblich unbelastet, erkrankte vor fünf Jahren
an akuter multipler Gelenkentzündung. Sechs Monate Bettruhe, Aspirin, Fango. Später¬
hin Heißluftbehandlung, Antistreptokokkenserum, Bäder. Nachkur in Teplitz. Zeitweise
Besserungen und Verschlechterungen danach. 1916 Kur in Aachen. Aufnahmebefnnd:
Elender, energieloser, stark nervöser, bettlägeriger Mann. Schwellung der verschiedensten
Gelenke, besonders der Knie, die im Röntgenbild starke Verschmälerung der Gelenk¬
spalten und nur wenig hypertrophische Veränderungen an den Seitenflächen der Ober-
schenkelkondylen sowie chronische Knochenatrophie zeigten. An den Mandeln Eiter-
pfröpfe. Thermalbäder, ThermalduschenmasBage, Arseninjektionen, nach denen eine auf¬
fallende Besserung des Allgemeinbefindens und Hebung der Körperkräfte eintrat. Nach
zweimonatiger Kur Anlegung von Streck-Gehverbänden an beiden Beinen, da die Knie
trotz aller angewandten Mittel bis dahin ohne Besserung waren. Nach fünfmonatiger
Knr Abreise. Rückkehr 1917, fünf Monate später. Allgemeinbefinden tadellos, Aussehen
frisch. Knie abgeschwollen, Muskulatur der Oberschenkel, die im Vorjahr stark atrophisch,
jetzt wesentlich kräftiger und umfangreicher. Eine Mandel exstirpiert. Röntgenologisch:
Verbreiterung der Gelenkspalte gegen Vorjahr, Gelenkumrisse fast gerade, während sie
1916 noch recht rauh und uneben waren. Gehvermögen in dem Apparat recht gnt.
Also wesentliche subjektive und objektive Besserung, die Bich auch in der fortgeschrittenen
Regeneration des Knorpels an den Kniegelenken ausspricht. 1918 geht der Patient
ohne Apparat in völlig normaler Weise.
Ist die Mechanotherapie verordnet, so erscheinen einige Winke am Platze.
Daß der Arzt — nnd kann es der behandelnde nicht, so soll es nachträglich der
dirigierende Arzt der betreffenden Anstalt tun — schriftlich genaue Anweisungen
über die Art der zu benutzenden Apparate und über die Dauer der Benutzung
gibt, ist die erste Forderung: die zweite, daß das Personal, in übel angebrachtem
Entgegenkommen, den Patienten nie gestatten darf, auch noch andere, als die
verordneten Apparate, zu benutzen; wenn Mißerfolge eintreten, so sind sie zumeist
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
474 W. Krebs, Zar nichtchirurgischen Behandlung der chronischen Arthritiden.
die Folge nicht detailliert genug gegebener Anweisungen und unzureichender
Aufsicht während der Ausführung der verordneten Übungen.
Als weitere mechanische Einwirkungen, die z. T. vortreffliche Erfolge zu
zeitigen vermögen, sind die von Bier angegebenen Stauungen mittels Gummi¬
binden und die Erzeugung von Hyperämie mittels Saugglocke. Die Stauung er¬
zeugt im Gegensatz zur Tbermotherapie eine venöse Hyperämie, wobei die
Arterien nicht beteiligt sind und hat eine Ödembildung im Gefolge, die zwar
weniger sinnfällig als die Hyperämie, aber von nicht geringerer Bedeutung ist
als diese. In ähnlicher Weise wirkt die Saugglocke, bei deren Anwendung ähn¬
liche Verhältnisse bzw. Folgen in Betracht kommen wie bei der Stauungsbehand¬
lung mittels Gummibinden.
Die Erfahrung hat es gelehrt, daß die Verbindung mehrerer physikalisch
therapeutischer Anwendungen meist sehr günstig auf den Heilungsverlauf einwirkt
besonders die Vornahme hyperämisierender Teilanwendungen — Dampfstrahl,
Teil-Luft- und Lichtbäder, Fango- usw. Packungen vor der Massage und vor
mediko-mechanischen Übungen ist durchweg ungemein förderlich; denn eine bessere
Durchblutung der geschrumpften- und starren Sehnen, Kapseln, Bänder usw. gibt
ihnen eine größere Dehnbarkeit und Nachgiebigkeit und setzt auch die Schmerz¬
haftigkeit, die bei der Vornahme der Massage und der aktiven und passiven Be¬
wegungen der Gelenke so besonders hinderlich ist, herab.
Es erscheint deshalb von großem Wert, daß selbst auch mittlere Kranken¬
häuser, Sanatorien, Kur- und Badehäuser sich nicht nur auf ein oder das andere
physikalische Heilmittel stützen, sondern eine möglichst große Auswahl von Bädern,
Apparaten und Hilfsmitteln zur Behandlung chronischer Gelenkerkrankungen be¬
sitzen. Sind die Anschaffungskosten vielleicht auch nicht ganz gering, so dürfte
doch die Zahl der die vorhandenen Hilfsmittel benutzenden Kranken von Mal zu
Mal zunehmen und das aufgewendete Kapital verzinsen. Jedenfalls stellt die
Behandlung der chronischen Arthritiden, so langwierig und schwierig sie auch ist,
kein so ganz undankbares Feld der Tätigkeit für den erfahrenen Arzt dar, der in
der Kombination der ihm zur Verfügung stehenden therapeutischen Mittel oft Er¬
folge zu erzielen vermag, auf die der Patient kaum noch zu hoffen wagte.
Digitized by
Go igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Berichte über Kongresse und Vereine.
475
c
Berichte über Kongresse und Vereine.
Waffenbrüderliche Vereinigungen Deutschlands und Österreich-Ungarns.
1. Tagung der medizinischen Abteilungen vom 11. bis 13. Oktober 1917 in Baden b. Wien.
III.
Sitzung vom 12. Oktober 1917 nachmittags.
Vorsitzender: Geheimrat Prof. Dr. Kümmell.
Schriftführer: Dr. Thenen, Dr. v. Aufschnaiter.
OStA. Prof. Dr. Spitzy (Wien): Chirurgische Nachbehandlung. An der Hand des
großen Materials des „Orthopädischen Spitals und der Invalidenschulen 11 , in denen bisher über
18 000 Fälle in Behandlung standen, werden die üblichen Nachbehandlungsarten erörtert und
insbesondere die operativen Methoden hervorgehoben. Der Redner macht darauf aufmerksam,
daß durch die schoirim Frieden ausgearbeiteten und jetzt durch das große Kriegsmaterial ver¬
tieften orthopädischen Operationsmethoden eine große Anzahl der der Nachbehandlung zu¬
geführten Patienten in viel kürzerer Zeit wieder dienst- oder arbeitsfähig gemacht werden
können, als es durch andere Behandlungsmethoden möglich ist. Um diese Scheidung durchzu¬
führen, sind orthopädisch geschulte Ärzte notwendig und wird es die Aufgabe der Zukunft
sein, der Heranbildung von jungen Ärzten in der funktionellen Behandlung und Nachbehandlung
ein größeres Augenmerk zuzuwenden. Gegenwärtig suchte man sich damit zu helfen, daß man
Ärzte in Kursen soweit notdürftig ansbildete, um dem gesteigerten Bedarf nachzukommen.
Die t Durchbildung in Kursen, von denen im orthopädischen Spital bereits 10 gehalten wurden,
(mit 119 teilnehmenden Ärzten und 22 Massagekurse mit 539 Pflegern und Pflegerinnen), kann
naturgemäß keine umfassende sein und vermag die planmäßige Ausbildung von Fachorthopäden
in keiner Weise zu ersetzen. Es ist deshalb notwendig, daß die Nachbchandlungsanstalten
von einem Fachmann besichtigt und beraten werden, ähnlich wie in Deutschland jedem Armee¬
kommando Fachärzte als beratende Orthopäden zugeteilt sind. Diesen würde es dann obliegen,
den leitenden Ärzten helfend zur Seite zu stehen, mit ihnen das Material zu sichten und die
Behandlung zu einer einheitlichen und den modernen Grundsätzen entsprechenden zu gestalten.
Das Material gliedert sich den Hauptgruppen nach in Kontrakturen, Lähmungen,
Amputationen und Knochendeformitäten, von welchen jede Gruppe ihrer gesonderten
Spezialbehandlung bedarf.
Der Redner greift aus dem Ganzen hauptsächlich die operative Behandlung heraus und
demonstriert an der Hand von Tabellen Zahl und Ergebnisse der verschiedenen Operations¬
arten, wie sie zur Behebung der einzelnen Krankheitsformen notwendig sind. Falsche
Stellungen der Gelenke beanspruchen häufig einen operativen Eingriff, sei es, daß dieser
Wiederherstellung von knöchern verwachsenen Gelenken, in der Entfernung von knöchernen
Widerständen, in der Durcbtrennung oder Verlängerung von verkürzten Weichteilen, Muskeln
oder Sehnen oder in der jetzt mit großem Erfolg durchgeführten Transplantation von
Sehnen besteht. Auch die Nervenverletzungen (Lähmungen) sollen in erster Linie operativ
angegangen werden, da die Prozentzahlen der Heilung hohe sind und die damit erzielten
Resultate in jeder Beziehung zufriedenstellen. Aber auch jene Fälle, bei welchen durch
Nervennähte, Nervenlösungen kein Resultat zu erreichen ist, können durch Sehnen- und in
manchen Fällen durch Knochenoperationen brauchbare Gliedmaßen erlangen. Auch bei Am¬
putationen sind in sehr vielen Fällen nachfolgende Verbesserungen nötig, um den Stumpf
bewegungs- und belastungsfähig zu machen. Den größten Fortschritt verzeichnen wir mit der
Verwendung der Muskelreste am Stumpfe; sei es, daß dies durch die im orthopädischen Spital
Zeluchr. f. physik. u. diät Therapie Bd. XXII. Heft 12. 3*2
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSETY OF MICHIGAN
476
Berichte über Kongresse und Vereine.
übliche Methode der „Muskelunterfütterung“ oder durch die bekannten Methoden Sau erbrach»
oder Vanghettis ausgeführt wird, immer bandelt es sich darum, die noch lebensfähigen
Muskelreste unmittelbar mit einer technisch gutdurchdachten Prothese zu einer Art lebendiger
Maschine zu verbinden. Knochendeformitäten, schlecht oder nicht geheilte Knochen, müssen
durch Osteotomien oder Pseudarthrosenoperationen wieder gebrauchsfähig gemacht werden*
Diese Operationen geben funktionell bessere Resultate als die besten Apparate, mit denen doch
nur eine viel geringere Arbeitsfähigkeit erlangt werden kann.
Nach Ausscheidung der operativen Fälle bleibt natürlich immer noch der weitaus größere
Teil für die übrigen Heilmethoden. Die Erfahrungen, die an der Hand des großen Materials
gemacht wurden, zwingen zu folgenden Schlüssen: Für die ambulatorische mediko-mecbanische
Behandlung eignen sich von den Kontrakturen nur ungefähr 20%, leichte Geldnksversteifungen,
die einer ein- oder mehrmaligen zanderähnlichen Behandlung, verbunden mit Massage, weichen.
Alle übrigen benötigen eine Dauerbehandlung, und zwar muß für diese Fälle der ganze Tag
für die Behandlung eingeteilt werden, Dauhrapparate müssen stundenweise getragen werden,
wechselnd mit medikomechanischer Behandlung, aktivem Turnen und der vom Redner einge¬
führten Arbeitstherapie. Durch die Betätigung in der gewohnten Arbeit gelingt es viel rascher.
Bewegungsbehinderungen zu überwinden, die der sonstigen Behandlung getrotzt haben.
Besonders handelt es sich hier um Reste von Bewegungsbehinderungen, die auch nach
* sorgfältiger ärztlicher Behandlung noch bleiben. Deshalb werden im Spital, sobald es die
ärztliche Behandlung gestattet, Arbeitstherapie und Beschäftigung in den einzelnen Gewerben
der Invalidenschulen zwischen die Behandlungszeit eingeschaltet. Andererseits wird eine große
Anzahl, über 400, in Außenbetriebe eingestellt, um an ihren gewohnten Arbeitstischen in der
Arbeitseinteilung der Fabrik diese Krankheitsreste zu überwinden und gleich produktive Ar¬
beit zu leisten. Andere werden, wenn sie bereits arbeitsfähig sind, der Volkswirtschaft
zurückgegeben und auf längere oder kürzere Zeit rückbeurlaubt. Die damit gewonnenen Re¬
sultate sind ausgezeichnete. Gerade durch die Arbeit in der gewohnten häuslichen Umgebung
und der ihnen zusagenden Arbeitsart wird am ehesten und raschesten die bei den vorliegenden
anatomischen Verhältnissen höchstmöglichste Arbeitsfähigkeit erlangt.
Aussprache: OA. Dr. Viktor Hecht (Wien) berichtete aus dem Vereinsreservespital
Nr. 4 in Wien über die Vorteile der frühzeitigen orthopädischen Nachbehandlung.
An der Hand sehr instruktiver graphischer Darstellungen wies Hecht nach, daß aus einem
Material von 2000 Verwundeten, von den Fällen, die ein Monat nach der Verwundung
zur Nachbehandlung kamen, dreiviertel derselben geheilt wurden; bei einem Intervall
zwischen Verwundung und Nachbehandlung unter vier Monaten betrug die Zahl der Geheilten
die Hälfte der Fälle, während bei den übrigen, erst später behandelten Fällen nur etwa ein
Drittel der Fälle geheilt werden konnte. Da bei entsprechender Vorsicht jede Schädigung des
Kranken vermieden werden kann, so ergibt sich die dringende Forderung, die an den Extremi¬
täten Verletzten in den ersten 4 bis 7 Wochen nach der Verletzung den orthopädischen Spezial-
anstalten zur orthopädischen und physikalisch-therapeutischen Nachbehandlung zuzuführen. Durch
die frühzeitige Nachbehandlung werden nicht nur außerordentliche Vorteile für die Kriegs¬
beschädigten selbst erzielt, sondern auch enorme Ersparnisse an Mühe, Zeit und Verpflegs-
geldern erreicht und so im allgemeinen die militärische und soziale Wehrkraft erhöht
Regierungsrat Dr. Arthur Loebel (Dorna Watra): Die Erörterungsangelegenheit der
chirurgischen Nachbehandlung während der heutigen Tagung der waffenbrüderlichen Ver¬
einigungen bietet mir den willkommenen Anlaß, die einschlägigen Beobachtungen aus der Ar¬
beitsstätte der schwedischen Sanitätsmission im k. u. k. Reservespital Nr. 15 mitzuteilen,
weil die erzielten Behandlungsergebnisse wie die Kürze der Verpflegsdauer ebenso
weitere Verbreitung beanspruchen als die therapeutischen und statistischen Wandlungen, deren
allfällige Nachprüfungen nur unter den günstigen Vorbedingungen der Kriegsperiode die gleichen
ätiologischen, konstitutionellen und sozialen Voraussetzungen, beziehungsweise die gleichen
Behandlungsvorkehrungen vorfindet. Die Organisation, die 68 Militär-, Marine-, akademische
und Zivilchirurgen des neutralen Nordreiches während ihrer 2 jährigen Betätigungsperiode
in turnusmäßiger 5- bis 6 wöchentlicher Ablösung versammelt hatte, zwang der ärztlichen
Leitung des Filialspitals, welches zur orthopädischen Nachbehandlungsstätte bestimmt und auch
als chirurgische Nachheilungsstelle eingerichtet war, noch überdies Evakuationsaufgaben auf.
□ igitized b'
Google
Original fro-rn
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Berichte über Kongresse und Vereine.
477
Vom Gesamtkrankenzugange der Sanitätsanstalt wurden der Filialbehandlung überwiesen
63,68 %, hierunter 19,55 % Komplikationen mit Knochenbrüchen. 40 % der chirurgischen Fälle
kamen zur orthopädischen Nachbehandlung. Geheilt und als felddiensttauglich wurden aus
dieser Gruppe 80 % rekonvalesziert, 14,85 % mit Snperarbitrierungsanträgen zum Hilfs¬
dienste geeignet den Ersatzkörpern zurückgeschickt. Und zwar: 46,09% unter 30-, 23,80%
unter 45-, 10,94%, unter 60-, 10,49%, unter 90- und 6,27% unter 120 tägiger Bebandlungs-
dauer. Bloß 2,74% verblieben darüber hinaus. Der durch das Evakuationsgebot diktierten
Verkürzung der Verpflegsdauer verdanken wir vor allem die Anregung zur Verfrühung des
orthopädischen Nachbehandlungsbeginnes, wozu uns die Lehren über die Degen6ra-
tionsvorgänge ermutigten, welche rücksichtlich der Vitalenergien im Nerven- und Muskelsystem
nach Verwundungen sogar schon nach 10 bis 15 Tagen Entartungszustände verursachen, die
nur mehr Entscheidungen über Krüppelschicksale offen lassen. Hinwiederum wissen wir, daß
die Regenerationsprozesse der spezifischen Organzellen gleichzeitig mit der Wucherung des
Granulationsgewebes in Erscheinung treten und gerade den Hemmnissen seitens der Stützgewebe
begegnen, hierbei jedoch behufs Wiedergewinnung ihrer vorbestimmten Normalfunktionen vom
zeitgemäßen Eingriffe adäquater Anreize begünstigt werden. Besonderen Vorschub leistete uns
hierbei die Nachbarlage der beiden, in modernen Doppelschulgebäuden untergebrachten Spitäler
wegen der kurzen Fünfminutenentfernung bei fast gleich hohem Bettbelag, weil dadurch die
Übergänge von der Wund- und operativen Behandlung des Hauptspitals in die chirurgische
Nachbeilung und orthopädische Nachbehandlung, beziehungsweise in die Verschmelzung beider
Kurmethoden im Filialspital und zur endlichen Absonderung der aussichtsvolleren von den
individualisierungsbedürftigeren Verwundeten förmlich automatisch abgewickelt werden konnten;
nicht minder auch noch der harmonische Zusammenschluß zwischen den chirurgischen mit dem
orthopädischen Mitarbeiter und der verdienstliche Wetteifer zwischen den schwedischen und
den vom k. u. k. Ackerbauministerium zugewiesenen Dorner Gymnasiastinnen.
Das Bestreben nach einer Kürzung der Nachbehandlungsdauer wurde geweckt
durch die Tatsachen, daß bei Muskelschwielen schon nach 5 bis 6 Wochen quergesteifte
Muskelfasern mit voller Kontraktilität und vollendeter Willensabhängigkeit festgestellt werden,
die Umformung neuer Gefäßbahnen noch ungleich rascher sich vollzieht und bloß die Neu¬
bildung junger Nervenfasern als Minimum 3 Monate erfordert.
Auch bewährten sich die üblichen 4 Kurbehelfe der Kontrakturenbehandlung als Spezial¬
heilmittel für die Auslösung und Förderung der Regenerationsantriebe in den 4 verletzten Ge-
webssystemen unserer Bewegungsorgane, und zwar: die Elektrizität als souveränes Nerven-, die
Massage als formatives Gefäßmittel sowie die Gymnastik als eigengeartete Muskeldehnungs-,
beziehungsweise die Wärme als untrügliche NarbenerweichungBtherapie, insofern sie beim Ersätze
der durch Verwundungen hervorgerufenen Substanzverluste im Granulationsgewebe bereits die
den vorbestimmten Vitalenergien dienenden spezifischen Organzellen differenzieren und entwickeln.
Bestimmend wurden aber erst für die Fristkürzung der Behandlungsmethode die Lehr-
und Grundsätze der Balneo-, Mechano- und Hydrotherapeuten, welche durch die systematische
Aneinanderreihung und Verschmelzung kurzbemessener Reize eine Vertiefung der Nach¬
wirkungen jeder Einzelprozedur, wie das lawinenartige Anschwellen der Heilwirkungen im Ver¬
laufe einer ganzen Kurperiode einzuleiten vermögen. Die Übertragung dieser Erkenntnisse
und Erfahrungen auf die chirurgische Nachbehandlung erwies sich nutzbringend, und sie wird
vollends aufgeklärt durch die Lehre Tigerstedts von der charakteristischen Eigentümlichkeit
des lebendigen Protoplasmas, Reizwirkungen zu akkumulieren, und von der Eigenart der
Muskelenergien, ihr Leistungsmaximum nur dann zu verstärken, sobald die neuerlichen Anreize
vor Aufhören der anfänglichen Kontraktion angreifen.
Die ausführlicheren Einzelheiten dieser Nachbehandlungsweise sind als „Beitrag zur kon¬
servativen Kriegsorthopädie* in den diesjährigen Märznummem der klinisch-therap. Wochen¬
schrift veröffentlicht worden, während die Bemerkungen zur Orientierung „über die Statistik
der Kriegskontrakturen* für den 12. Juni als Schlußvortrag auf den von unserem heutigen Re¬
ferenten eingeführten Wiener Referierabenden der Nachbehandlung angesetzt waren, mit den
zwei letzten gegenständlichen Regionalberichten zufolge der Temperaturwidrigkeiten dieses
Sommers wie der inzwischen eingetretenen Universitätsferien für die Herbstsaison aufgeschoben
wurden und in dieser Wochenschrift zum Abdruck gelangen werden.
32*
Digitized by
Go igle
Original frn-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
478
Berichte Uber Kongresse und Vereine.
RA. Dr. Jerusalem (Wien) tritt gleichfalls für die Frühoperationen verletzter Nerven
ein, will jedoch die Notwendigkeit einer rationellen Vorbehandlung besonders hervorheben, da
aus Gründen der Asepsis doch meist längere Zeit bis zur Operation verstreicht Die Vorbe¬
handlung hat vor allem den Zweck, die Überdebnung der gelähmten Muskeln zu verhindern,
was durch einfache, leicht improvisierbare Schienen oder Klebeverbände geschehen kann.
Keinesfalls dürfen jedoch die Bewegungen der intakten Muskeln durch solche Verbände be¬
hindert werden.
Die mechanische und Elektrotherapie nach der Operation soll mit Liebe und Sorgfalt
und unter steter ärztlicher Überwachung erfolgen und keineswegs ungescbultem Hilfspersonal
überlassen werden. Im allgemeinen müssen wir ehrlich gestehen, daß die Heilresultate bei
Nervenverletzungen keine idealen sind. Heute — nach mehr als dreijähriger Kriegsdauer —
verfügen wir fast nur über Besserungen, wirkliche vollkommene Heilungen gehören zu den Ans¬
nahmen. Vielleicht wird es bei intensiverer Schulung und technischer Vervollkommnung aller
beteiligten Faktoren gelingen, die Endresultate, wenn nicht zu idealen, so doch zu befriedigenden
zu gestalten.
Primarius Dr. Reimanü (Baden bei Wien) bespricht die Fälle von Kontrakturen, die teils
hysterischer Natur sind, teils durch absichtliches Steifhalten der Gelenke hervorgerufen werden.
Zur Differentialdiagnose dieser Fälle genügt es, wenn das Röntgenbild keine wesentlichen
Veränderungen ergibt, die als Ursache der Versteifung gelten können. Die Patienten sind in
leichte Narkose zu bringen, worauf dann ohne Mühe in einer Sitzung die Gelenke mobil gemacht
werden können und man den Patienten noch im Rauschzustände vom Tisch herabsteigen und
gehen läßt. Die Hysterischen danken stürmisch für die Heilung; die andern erkennen bedauernd,
daß sie geheilt sind.
Dr. Oskar Stracker (Wien): Zur Indikation der chirurgischen Behandlung
nicht pfothesenreifer Stümpfe. Von den unserem Spital übergebenen Beinamputierten
besitzen rund 10 % keinen prothesenreifen Stumpf. So waren wir beispielsweise von Februar
bis September gezwungen, an 60 Patienten stumpfkorrigierende Operationen vorzunehmen. Um
die Gesamtzahl der nicht prothesenfähigen Beinamputierten zu erhalten, müßten aber noch jene
hinzugezählt werden, die eine Operation verweigerten. Welche Indikationen gaben uns nun
Anlaß zu operativen Maßnahmen? Die meisten lassen sich unter der Kennzeichnung „nicht¬
belastungsfähig“ zusammenfassen.
Die nicht prothesenreifen Stümpfe können entweder verheilt sein oder noch Wunden
besitzen. Bei den verheilten waren folgende Ursachen Anlaß zu Operationen Schmerzhafte
Neurome, besonders des N. ischiadicus; ferner ungeeignete Form der Knochenenden, zum Bei¬
spiel Vorstehen der Fibula über das Niveau der Tibia; eine scharfe Tibiakanto usw. Exostosen
der Knochenenden waren dagegen nur selten Anlaß zur Entfernung. Bei den noch mit Wunden
behafteten Stümpfen gaben die Verhältnisse der Haut an der Stumpffläche einerseits und
Fisteln andererseits die Indikation zu Eingriffen. In einer größeren Anzahl von Fällen war die
ganze Stumpffläche eine Granulationsfläche, aus der der Knochen mehr oder weniger hervorsah.
Bei diesen Fällen war es manchmal, besonders in der letzten Zeit, möglich, die Wundfläche
durch einen vorhandenen Hautrest ohhe Knochenkürzung zu decken. Ein späteres Stadium der
Stümpfe mit diesen großen Stumpfflächon bilden jene, die nur mit einem bläulichen Epithel
überzogen Bind, dem das Subkutangewebe mangelt. In der Regel findet man bei diesen im
Zentrum ein chronisches Geschwür, das durch mechanische Inanspruchnahme, durch Temperatur¬
einflüsse oder schließlich durch schlechte Ernährung allein schon entstanden ist und auch er¬
halten wird. Bei den Fisteln, die die Indikation zu Eingriffen abgaben, konnten wir als Ur¬
sachen vor allem Fremdkörper beobachten. So sahen wir Seidenfäden wochenlang eine
Eiterung unterhalten. Wir unterbinden deshalb bei lieamputationen mit Ausnahme der größeren
Gefäße alles mit Katgut. Es scheint die mechanische Inanspruchnahme den Fremdkörperreiz
zu verstärken. Weiter wurden Geschoß- und Knochensplitter extrahiert. Von den letzten
seien besonders die Kronensequester erwähnt. Sie stellen das untere Ende des Knochen-
stumpfes und zwar die Kortikalis dar. Anlaß zu ihrer Bildung dürfte zu hohes Auslöffeln
des Markes und zu weites Zurückschieben des Periostes sein. Ferner wurden Fisteln durch
Osteomyelitis des Knochenstumpfes unterhalten. Schließlich bestand in einzelnen Fällen
beträchtliche Eiterung ohne erkennbaren Grund. Es waren große Wundhöhlen vorhanden, die
Digitized by
Go igle
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Berichte über Kongresse und Vereine.
479
ein dünnes, säuerlich riechendes Sekret absonderten. Im Anfänge mühten wir uns vielfach
mit konservativen Maßnahmen ab: es zeigte sich jedoch, daß hierbei die Prognose sowohl
quoad sanationem als auch in bezug auf Prothesengebrauch eine schlechte war. Wir gehen
jetzt daher sobald als möglich operativ vor und nach unserer Ansicht ist es unzukömmlich,
solche Patienten monatelang ohne eingreifende Therapie in den Spitälern oftmals sogar bett¬
lägerig zu lassen; dies bedeutet ja einen Verlust an Zeit, an Körperkraft und auch an Ver-
pflegsgeldern. Ist es uns doch vielfach gelungen, Patienten, die monatelang mit der Krücke
gegangen sind, innerhalb 14 Tagen mit einer geschlossenen Prothese auf die Beine zu bringen.
Die operative Behandlung bestand für die Neurome und für die Fälle piit hervorstehenden
Rnochenenden natürlich in Entfernung dieser Gebilde. Bei den Fisteln war natürlich die Be¬
seitigung der Fremdkörper eine selbstverständliche Sache. Waren Knocheneiterungen die Ur¬
sache, so wurde der Knochen bis ins Gesunde abgetragen. Die Stümpfe mit Wundflächen
werden einer Vorbehandlung unterzogen. Vorerst wird die Haitf durch Klebestofftrikotzüge
möglichst weit über das Stumpfende herabgezogen, um bei der Abtragung des Knochens
sparen zu können. Weiters wird die Wundfläche gereinigt Es gelingt dies in wenigen Tagen
mit Dak in scher Lösung. Dies ist um so wichtiger wegen der so häufigen latenten Infektion.
Die Operationsmetboden bestanden in Hauptplastiken und Keamputationen. Von ersteren
wurde vorwiegend bei Unterschenkqlamputationen Gebrauch gemacht. Wir verwendeten, einen
gestielten Lappen von der erhaltenen Wade.
Im allgemeinen ist zu sagen, daß die Plastiken immer ein riskantes Unternehmen sind
und daß die Wadenhaut wegen ihrer Gefäßanordnung geringe Eignung zur Hautplastik zeigt.
Obwohl wir keinen ausgesprochenen Mißerfolg sahen, ziehen wir doch wegen der Sicherheit
und des rascheren Verlaufes die Reamputation vor. Hierbei wird, um möglichst reine Wund-
fläcben zu erzielen, die granulierende Stampffläche vorerst abgetragen. Über Vorschlag unseres
Chefs wird bei Unterschenkelamputationen das Geschwür samt seiner Unterlage mit einseitigem
Zirkelschnitt abgesetzt, um von der späteren Wunde die Gefahr einer Infektion fernzuhaltcn.
Ein Vernähen der Haut ohne Abtragung des Knochens gelingt nur manchmal.
Zu Thierschungen zwecks Vermeidung vQn Knochenkürzungen nehmen wir nie unsere
Zuflucht, da wir wissen, daß eine solche Haut die Insulte der Belastung nicht verträgt. Die
Absetznng des Knochens nahmen wir nach verschiedenen Methoden vor; die von Bunge zeigt
für den Oberschenkel ausgezeichnete Resultate. Beim Unterschenkel machten wir Knochen¬
plastiken und Periostlappendeckungen. Bei ersteren wurde dem Knochendeckel bei leicht
schräger Absetzung des Unterschenkelknochens mit gutem Erfolge Keilform gegeben. In ver¬
einzelten Fällen sahen wir bei guter Belastungsfähigkeit Schwellung der Stumpfenden. Die
Periostdeckung wurde nach dem Vorschläge unseres Chefs in der Weise ausgeführt, daß von
der vorderen Tibiafläche das Periost des abgetragenen Knochenteils über die Sägefläche genäht
wurde. Die Erfolge hinsichtlich der Belastungsfähigkeit sind sehr gute. Immer bemühen wir
uns, durch Vernähung der Sehnen und Muskeln über dem Knochen eine Deckung zu schaffen.
Infolge der bereits genannten latenten Infektion kommt es manchmal vor, daß in einer Reihe
per primam geheilten Fällen Eiterungen entstehen. Die hierbei resultierenden Distasen der
Wundränder können nach Abklingen der Infektion mittels Sekundämähten verschlossen werden/
so daß eine vollkommen lineare Narbe entsteht Zur Annäherung der Wundränder kann auch
nur eine zur rechten Zeit angewendete Klebestoffextension wichtige Dienste leisten. Unsere
Erfolge berechtigen uns, die Forderung auszusprechen, nicht belastungsfähige Stümpfe
möglichst bald und möglicht radikal anzugehen.
Dr. Wilhelm Neutra (Baden bei Wien): Mit dem Studium der Gangstörungen bei
Kriegsteilnehmern beschäftigt, konnte ich 5 Gruppen feststellen, von denen 2 allgemein bekannt
sind, 2 weniger Gemeingut sind und eine wohl sehr häufig beobachtet, aber gewöhnlich un¬
richtig beurteilt wird. Die ersteren sind das Hinken durch organische Erkrankungen, Rheuma¬
tismus, Schußverletzungen, Knochenbrüche usw. und das rein simulierte Hinken. Die 3. Gruppe
sind die rein hysterischen Gangstörungen; die 4. Gruppe ist durch die Kombination von
organischer Erkrankung und Hysterie bedingt. Ich will hier nur die ö. Gruppe kurz besprechen.
Es gibt zahlreiche Fälle, die zum Beispiel nach einer Schnßfraktur, obwohl diese schon längst
geheilt ist, nicht ohne Stock gehen können. Ich habe nun bei einer Reihe solcher Fälle selbst
bei genauester Untersuchung sowohl die Simulation als auch die Hysterie ausschließen können.
Digitized by
Go igle
v'
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
480
Heferate über Bücher und Aufsätze.
Man glaubt gewöhnlich, daß durch den langdauernden Gipsverband die Gangstörung auf
Muskelatrophie beruhe, oder daß das Individuum das Gehen einfach verlernt habe. Ich glaube
nun, daß diese Gangstörung nur psychologisch zu fassen sei, und zwar nicht durch den Me*
chanismus des Verlernens.
Die Technik des normalen Gehens ist den wenigsten Menschen bekannt und ist nur
unterbewußt erlernt. Es ist ein Zusammen- und Nacheinanderspielen nicht nur der Beinmuskeln,
sondern fast der gesamten Körpermuskulatur. Es bedarf also einer guten psychischen Taktik,
um richtig zu gehen. Diese Taktik ist mechanisiert und, da sie nie bewußt erlernt wurde,
kann sie nun, wenn in dem genannten Beispiele die Fraktur tragfähig konsolidiert ist und
größere oder kleinere Änderungen der Gangbedingungen eingetreten sind, nicht mehr so ange¬
wendet werden, wie sie vor der Fraktur psychisch fixiert war. Der Patient sucht nun unwill¬
kürlich nach einer brauchbaren Modifizierung seiner bisher gewohnten-Taktik und in der Un¬
kenntnis der Balancefaktoren, der zum möglichst normalen Gange notwendigen Hüften-, Rumpf-,
Schulter- und Armbewegungen findet er sich gewöhnlich eine recht unpraktische Taktik, die
ich Dystaktik oder psychische Ataxie nennen möchte. Es ist also kein Verlernen
der Gangmecbanik, sondern ein Suchen einer den nun gegebenen Verhältnissen
angepaßten Gangtechnik in falscher Richtung.
In solchen Fällen können natürlich Bäder, Massagen, Zandern usw., aher auch die Be¬
handlungsmethoden gegen die Hysterie, die schockerzeugende Faradisation, die Hypnose usw.
keinen Erfolg haben. Dagegen erzielt man, wie ich mich vielfach überzeugt habe, durch theo¬
retische, in die Details der Balance, der Bein-, Rumpf- und Armbewegungen gehende Aufklärung
über die richtige Gangmechanik, verbunden mit den entsprechenden praktischen Übungen, am
besten auf dem Frenkelschen Gehteppisch, oft in wenigen Tagen sogar bei solchen Fällen
einen vollen Erfolg, wo monatelang durchgeführte, andere therapeutische Maßnahmen keinerlei
Besserung gezeitigt haben. Auch die noch bestehenden Schmerzen, die oft durch die der
Dystaktik entspringende und für die richtige Gangmechanik unnötige Überbelastung einzelner
Muskeln und* Bänder hervorgerufen werden, habe ich durch diese Art Behandlung, die psy¬
chische Ataxiegymnastik, verschwinden gesehen.
Referate über Bücher und Aufsätze.
A. Diätetisches (Ernährungstherapie).
Fritz Mauerhofer (Bern), Die sekreto¬
rische Innervation der Niere. Zeitschr. f.
Biol. 1917. Bd. 68. H. 1, 2.
Versuche des Verfassers, den Einfluß der
Vagusreizung beim Kaninchen auf Harn¬
menge, Elektrolytausscheidung und [H.]-Kon-
zentration sowie den Einfluß der Entnervung
bei der Kaninchenniere festzustellen, ergaben
folgendes: Vergleich der Diurese einer Niere
vor und nach Vagusdurchschneidung gegen¬
über einer entnervten Niere als Kontrollorgan,
wies auf fördernden Einfluß des Vagus hin.
Es zeigte sich Vermehrung der Wasseraus-
scheidung und der absolut ausgeschiedenen
Elektrolyt- und [H]-Mengen. Eine total ent¬
nervte Niere schied gegenüber einer normalen
reichlicheren Harn ab und zwar sozusagen in
allen Fällen, in denen die Vagi durchtrennt
waren, weniger oft, wenn sie erhalten waren.
Der Harn der stärker sezernierenden Niere
zeigte meist geringere Leitfähigkeit, der
- . Widerstand in Ohm .... . ,
Quotient -n-verhielt sich
Harnmenge pro 10
umgekehrt wie die Harnmenge. Auch die
absolut ausgeschiedene [H ]-Menge ging der
Wasserdiurese bei normaler und entnervter
Niere ziemlich parallel. Die [Hj-Konzentration
einer normalen Niere war gegenüber derjenigen
einer total entnervten meist größer und verlief
gewöhnlich der Elektrolytausscheidung nicht
parallel, weder bei normalen noch bei ent¬
nervten Nieren. Zu- und Abnahme des intra¬
venösen Einlaufs änderte die Diurese der nor¬
malen Niere in höherem Maße, als diejenige
Digitized by
Go igle
Original fro-rn
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Referate über Bücher und Aufsätze.
481
der total entnervten. Dies trat auch noch nach
Durchschneidung der Vagi ein.
Roemheld (Homegg a. N.>
W* H. Jansen (München), Untersuchungen
über Stickstoffbilanz bei kalorienarmer
Ernährung* Deutsch. Arch. f. klin. Med. 1917.
Bd. 124. H. 1—2.
Stickstoffbilanzversuche über Perioden von
<6 bis 31 Tagen wurden vom März bis Mai
1917 an 13 Personen verschiedenen Alters und
Geschlechts unter denselben Lebens- und Er?
nährungsbedingungen angestellt. Bei sämt¬
lichen Versuchspersonen, die ein Durchschnitts¬
gewicht von 62,1 kg aufwiesen, war eine Er¬
nährung, die 1600 Kalorien und 60,5 g Eiweiß
pro Tag enthielt, nicht ausreichend, um das
Körpergewicht und den Eiweißbestand zu er¬
halten, sondern es waren eine durchschnittliche
Körpergewicbtsabnahme von 0,28 kg und ein
•durchschnittlicher Eiweißverlust von 11,77 g
pro Tag eingetreten.
Eine Zulage von 500 Kalorien in der Form
von Kohlehydraten genügte, um Eiweiß- und
Körpergleichgewicht zu erreichen.
Eine weitere Verminderung der Kalorien¬
zufuhr in Form von Kohlehydratentziehung
ließ das Stickstoffdefizit noch bedeutender an-
eteigen, dagegen trat keine weitere Steigerung
•des Gewichtsverlustes ein.
Marschleistungen, welche bei vollernährten
Männern noch keineswegs als eine größere
Anstrengung zu betrachten gewesen wären •
riefen bei den durch eine länger dauernde,
gewisse Ernährungsbeschränkung in einem ge¬
wissen Unterernährungszustand befindlichen In¬
dividuen eine ungewöhnliche Erschöpfung her¬
vor, die sich noch nach 12 Stunden in einem
ungewöhnlichen Verhalten der respiratorischen
Werte äußerte.
Eine Kalorienmenge von 2100 reicht
.also bei einem N-Gehalt der Nahrung
von 9,7 g = Eiweißgehalt von 60,5 g
ans, um das Körper- und Eiweißgleich¬
gewicht zu erhalten.
J. Ruhemann (Berlin-Wilmersdorf).
6. Klemperer (Berlin), Kriegslehren für
die Ernährung der Diabetiker* Ther. d.
Gegenwart. 1918. März.
Der Diabetiker braucht mittlere Eiweiß-
mengen, viel Fett, sehr wenig Kohlehydrat,
die Kriegsernährung bietet ihm aber wenig
Eiweiß, sehr wenig Fett, viel Kohlehydrat.
Wie hat sich nun der Diabetiker mit diesem
anscheinend unzweckmäßigen Ernährungsbe¬
dingungen abgefunden?
Die leichten Fälle, die im-Frieden zu
einer Fleischfettnahrung 100 bis 150 g Brot
vertrugen, haben im Krieg vielfach ihren
Zucker ganz verloren, was auch schon von Albu
beobachtet wurde. Die knappe Kost hat dem
Diabetiker gut getan. Leichte Diabetiker
haben häufig im dritten und vierten Kriegs¬
jahr eine beträchtliche Besserung der Zucker¬
assimilation erzielt. Die Gründe dafür liegen
einmal in der bekannten Erfahrung, daß der
leichte Diabetiker die Kohlehydrate in gewisser
Mengen um so reichlicher ausnützt, je weniger
Nahrung8stoffe er im ganzen zu sich nimmt,
was auch nach der N aan yn sehen Lehre
theoretisch gut zu erklären ist. Von dem
übermäßig fetten Diabetiker war es auch in
Friedenszeiten bekannt, daß er bei starker
Fetteinbuße oft seine Glykosurie verliert; die
Abmagerung im Kriege hat solche Patienten
geheilt. Andere, schon hochgradig abgemagerte
Kranke haben ihre Glykosurie behalten, weil
ein gewisser Kräftezustand gewahrt bleiben
muß, um die Fähigkeit zur Zuckerzersetzung
zn gewährleisten. — Günstig wirkte ferner die
besondere Beschaffenheit des Kriegsbrotes,
welches reich an Kleie und Sauerteig, durch
seinen hohen Gehalt an Zellulose und Butter
säurebaziilen zu starken Gärungen führt, die
eine abnorme Zersetzung der Brotstärke zu¬
stande kommen läßt. Die Zersetzungsprodukte
entgehen entweder überhaupt der Resorption
oder werden in einer für den diabetischen
Organismus leichter als Traubenzucker zer-
setzlichen Form resorbiert. Die Vorgänge
wären also ähnlich denen bei der Noorden-
-sehen Haferkur. — Unterstützend wirkt noch
die größere Alkaleszenz der Körpersäfte,
die von dem Mangel an Eiweiß und der reich¬
lichen Zufuhr von Vegetabilien herrührt und
sich oft in der alkalischen Reaktion des Urins
äußert. Auch die Trinkkuren in Karlsbad
und Neueuahr führen durch stärkere Al¬
kalisierung zur Verringerung der Glykosurie,
woran Klemperes gegenüber Noorden fest¬
hält. — Auch die erhöhte Flüssigkeits-
zufuhr der Kriegskost mit ihrem hohen
Wassergehalt wirkt befördernd auf den Zucker¬
umsatz; ebenso die erhöhte Salzzufuhr, wie sie
in der Kleie und den Vegetabilien gegeben ist.
Bei den mittelschweren Fällen, die
nur 30 bis 50 g Kohlehydrat ohne Glykosurie
vertrugen, ist für die Verbesserung der Zucker¬
zersetzung unbedingt Schonung durch Ent-
Digitized b
Google
Original fro-m
UNIVERSETY OF MICHIGAN
482
Referate über Bücher und Aufsätze.
Ziehung der Kohlehydrate erforderlich. Diese
müssen aber, soweit sie fehlen, durch Fett er¬
setzt werden. Eine zeitweise Nahrungsver-
minderung kann aber auch für diese Kranken
nützlich sein, sie darf nur nicht zur chronischen
Unterernährung führen. In diesem Sinne ist
auch hier das Kriegsbrot als nützlich anzusehen;
auch die anderen oben erwähnten Faktoren
sprechen hier mit. Für diese Kategorie war
von den Gesundheitsbebörden 100 g Fett pro
Tag bewilligt. Die Statistik zeigt, daß von
diesen mittelschweren Diabetikern im Krieg
qicht mehr sterben als vor dem Krieg.
Die schweren, stets acidosegefährdeten
Fälle sind durch die Kriegsernährung besser
gestellt. Der Kohlehydratüberschuß ist für sie
weniger gefährlich, die Eiweißarmut ist ihnen
nützlich, die Alkalisierung besonders wertvoll,
die zeitweise Abstinenz von Vorteil. Einiger¬
maßen hinreichende Fettmengen vorausgesetzt,
müßte die Kriegsernährung für die schweren
Diabetiker geradezu lebensverlängernd wirken.
Die offizielle Statistik der Berliner städtischen
Krankenhäuser ergibt dann auch, daß die Mor¬
talität dieser Kategorie im Krieg keineswegs
gestiegen ist. W. Alexander (Berlin).
£• Salkowski, Notiz über den Fettgehalt
der menschlichen Gallensteine. Ztschr. f.
physiol. Cbem. Bd. 100. S. 259.
Vom Verfasser untersuchte Gallensteine
enthielten kein Fett, sondern eine harzartige,
in ihren Löslichkeitsverhältnissen dem Fett sich
ähnlich verhaltende Substanz.
Walter Brieger (Berlin).
B. Hydro-, Balneo- und Klimato-
therapie.
W. Hellpach (Karlsrahe), Die geopsychi-
schen Erscheinongen. Wetter, Klima und
Landschaft in ihrem Einfluß auf das Seelen¬
leben. 2. Auflage. Leipzig 1917. W. Engel¬
mann. 489 Seiten
Hellpachs Buch erregte bei seinem Er¬
scheinen insofern mit Recht* Aufsehen, als es
zum ersten Male einen Versuch darstellt, die
bisher mit viel Mystik umkleideten geopsychi-
schen Erscheinungen auf exakte naturwissen¬
schaftliche Grundlage zu stellen, soweit sie
bei dem derzeitigen Stande des Wissens zu
geben ist. Daß dieser Versuch vollauf gelungen
ist, zeigt das Notwendigwerden der 2. Auflage
schon nach einem Jahr, das Erscheinen wurde
nur durch den Krieg verzögert. Eine Inhalts¬
angabe kann im Referat auch in großen Um¬
rissen nicht gegeben werden: alle Zusammen¬
hänge des Wetters, des Klimas und der Land¬
schaft mit dem Seelenleben werden ab ovo
beleuchtet und die Erfahrungstatsachen mit
den physikalischen, chemischen usw. Vorgängen
in Einklang gebracht Von neuen Kapiteln
sind dazugekommen: „Erklärung der Wetter¬
wirkung“, „Das Klima als seelisches Erholungs¬
mittel“ und „Die Erholungswerte der Land¬
schaft“.
Die in glänzender Sprache aus allen Ge¬
bieten der Naturwissenschaften herangezogenen,
natürlich vielfach noch unabgeschlossenen Dar¬
legungen müssen von jedem wissenschaftlich und
praktisch arbeitenden Arzte gelesen werden,
haben sie doch neben großen theoretischem
Interesse unmittelbaren Einfluß auf die klinische
Erkenntnis und praktische Therapie, indem
gerade sie vielfach Erscheinungen unseiem
Verständnis näher bringen, die mit klinischen
Methoden noch nicht exakt zu erfassen sind.
Ein hervorragendes Buch!
W. Alexander (Berlin).
C. Gymnastik, Massage, Orthopädie
und Apparatbehandlnng.
Urtel, Znr Improvisation eines Cberdrnck-
apparates. Medizin. Klinik 1918. S. 113.
Die Improvisation des Druckdifferenz¬
apparates nach Jehn bereitet Schwierigkeiten,
'da die luftdichtschließende Maske schwer zu
beschaffen ist und die Einschaltung eines Nar¬
koseapparates Umstände macht. Bei Brust¬
wandschüssen mit schwerer Kontusion der an¬
liegenden Lungenteile u. dgl., die ein aktives
Vorgehen nur unter Anwendung des Druck¬
differenzverfahrens ermöglichen, benutzt der
Verfasser daher die in der Armee gebräuch¬
liche Gasmaske, die vermittels eines Einsatzes
mit der Sauerstoffbombe in Verbindung steht.
Der Sauerstoff streicht durch zwei mit Äther
bzw. Chloroform gefüllte Flaschen in eine
Trommel, kann aber auch direkt in diese ge¬
langen. Durch einen kegelförmigen Aufsatz
mit Ventilklappe steht die Maske noch mit
einer Wasserdruckskala in Verbindung.
Nach Eintritt der Narkose kann die Nar¬
kosezuleitung abgestellt oder nach Belieben
reguliert werden. Zugleich erhöbt man die
Sauerstoffzuftihr und den Widerstand. Man
kann alsdann die erforderlichen Operationen
vornehmen. Zum Schluß ist die Lunge durch
noch erhöhte Sauerstoffzufuhr ad maximum
X
Digitized by
Go igle
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Referate über Bücher nnd Aufsätze.
483
m erweitern nnd der Pneumothorax zu
beließen. Der anzuwendende Maximaldruck
beträgt 6 bis 7 mm Hg, eine weitere Erhöhung
kt nur beim Schließen des Pneumathorax er-
orderlich. Walter Brieger (Berlin).
D. Elektro-, Lieht« und Röntgen¬
therapie.
<ff. Schütze, Röntgenbeobachtang über
fraktionelles Verhalten des Ösophagus.
B. kl. W. 1917. Nr. 42. .
Zwei Fälle von Cardiospasmus geben dem
Verfasser Veranlassung auf die Bedeutung der
Schirmdurchleuchtung hinzuweisen. Im ersten
Falle zeigte sich stark rückläufige Peristaltik
sowohl im unteren als auch im oberen Teile
des Ösophagus; im zweiten Falle bestand be¬
sonders im oberen Drittel der Speiseröhre eine
Verbreiterung von 10 cm im Querdurchmesser.
Diese beiden Beobachtungen zeigen ferner die
Abhängigkeit der Cardiafunktion von am Magen
herrschenden Zuständen und lehren, daß in
manchen Fällen von Ulcus des Magens als Aus¬
druck des sich erstellenden Vagotonus bzw.
als Ausdruck des auf die Cardiaganglien aus¬
geübten Reizes leichte Cardiospasmen sich
zeigen. L. Katz (Berlin-Wilmersdorf).
Louis Merlan (Zürich), Die Röntgen¬
therapie der Nagelerkrankungen. Korre¬
spondenzblatt f. Schweizer Ärzte 1917. Nr. 45.
Auf Grund von 40 mit Erfolg behandelten
Fällen von Onycbie, Tuberkulose, Ekzem nnd
Psoriasis der Nägel empfiehlt Verfasser die
Röntgentiefentherapie: (dorsale und ventrale
Bestrahlung unter 3 mm Aluminium, je 3 H,
9 Bauer). L. Katz (Berlin-Wilmersdorf).
Fritz Kaufmann (Mannheim), Zur Behand¬
lung der motorischen Kriegsneurosen.
M. in. W. 1917. Nr. 47.
Mit seinen neuen Ausführungen bezweckt
Kaufmann, mit gewissen mißverständlichen
Auslegungen seiner früheren Publikationen be¬
treffend die „elektrosuggestive Intensivbehand¬
lung“ der motorischen Kriegsneurosen, end-
giltig anfzuräumen, sowie die wenigen
Änderungen anzugeben, die sein Vorgehen im
Laufe der Zeit in seinem Lazarett durch¬
gemacht hat.
Kaufmann hat das Indikationsgebiet sehr
erheblich begrenzt. Die Behandlung darf keines¬
falls vor Abklingen der nervösen Erschöpfungs¬
symptome einsetzen; bei frisch Erkrankten
und bei von vornherein richtig behandelten
Leuten ist sie unnötig, sie kommt vorwiegend
bei veralteten Leiden in Frage. Auch bei
veralteten Fällen ist das Verfahren kontraindi¬
ziert bei hochgradigem Erethismus, schweren,
vasomotorischen Störungen, erheblicher explo¬
siver Diathese sowie ausgesprochenem Som¬
nambulismus.
Nicht in den stärksten Strömen, nicht in
der ständigen Applikation des elektrischen
Stromes und nicht in der Art des Stromes er¬
blickt Kaufmann das Charakteristische der
Behandlung, vielmehr in der nach gehöriger
suggestiver Vorbereitung einsetzenden Kombi¬
nation der Anwendung empfindlicher und da¬
durch psychisch schockierender Ströme mit
aktiven Übungen nach scharfem militärischem
Kommando sowie in der konsequenten Durch¬
führung der Behandlung in einer Sitzung bis
zur Erreichung des gewünschten Erfolges.
Kaufmann geht bis zu den Stromstärken
und zwar gradatim, die sich in dem betreffenden
Falle zur Erzielung eines Suggestiverfolges
jeweils für nötig erweisen. Sehr kräftige
Ströme sind gewöhnlich nur dann notwendig,
wenn die Kranken schon von anderer Seite
ohne Erfolg elektrisiert worden sind.
Man muß mit seiner ganzen Persönlichkeit
bei der Heilung beteiligt sein, dann bleibt der
Erfolg nicht aus, wenn er auch öfters erst
nach l /a bis 1 bis mehrstündiger Bemühung
eintritt. Selbstverständlich ist, daß die unter
scharfem militärischen Kommando auszu¬
führenden Übungen jeweils mehr Zeit in An¬
spruch nehmen als das Elektrisieren. Das
führte auch dazu, daß die Einzeldauer der
elektrischen Applikation auf eine halbe bis
eine Minute von 2 bis 5 reduziert wurde.
Bezüglich verschleppter Tremores werden,
seitdem kräftig tetanisierende Ströme auf die
Nervenreizpunkte gesetzt werden, nur selten
mehr als eine Viertelstunde, oft sogar weniger
benötigt, und auch davon entfällt der Haupt¬
teil auf die Übungen.
Die Notwendigkeit geeigneter suggestiver
Vorbereitung leuchtet auch aus dem Grunde
ein, weil der Kranke dabei seinen Arzt als
wohlwollenden Vorgesetzten kennen lernen
soll. Man kann seine Leute gütig behandeln
und trotzdem auf strenges Innehalten der
Formen sehen.
Was die anzuwendende Stromart betrifft,
so legt Kaufmann ausschließlich Wert darauf,
einen, wenn nötig, intensiv schmerzenden Strom
zu benutzen. Seit der Gildemeisterschen
Digitized by
Gck igle
Original fro-rn
UNIVERSITY OF MICHIGAN
484
Referate über Bücher und Aufsätze.
Arbeit, nach welcher bei Erfüllung aller Vor¬
schriften, Erdschlußfreiheit usw. Herztod durch
Fehler im Apparat eintreten kann, sieht er von
Anwendung des Wechselstroms prinzipiell ab
und beschränkt sich auf die Benutzung eines
kräftigen Induktionsapparates.
Weiterhin gibt Kaufmann sein Urteil
über die anderen Behandlungsmethoden der
Neurosen. Hervorzuheben ist, daß er nicht
von Heilung der Hysterie spricht, sondern nur
vom Schwinden der prägnanten Symptome.
Mit der Beseitigung der hervorstechenden
motorischen Symptome ist zum wenigsten der
wichtige Erfolg erzielt, daß dem JLrankheits-
gefühl ein wesentlicher Stützpunkt entzogen
wird. Es handelt sich um Symptomheilungen,
und jederzeit besteht die Möglichkeit der Re¬
zidive; aber das Rezidiv ist, wenn es auftritt,
abgeschwächt, sowohl in bezug auf Intensität
als auch auf Zeitdauer. Wichtig ist dafür der
Kriegsministerialerlaß, daß die Kriegsneurotiker,
soweit sie nicht sicher kriegsbraucbbar werden,
unter Umgehung des Ersatztruppenteils direkt
an die für sie bestimmte Arbeitsstelle bzw.
in die Heimat zu entlassen sind.
E. Tobias (Berlin).
Friedrich Voltz (Nürnberg), Die sekun¬
dären Strahlungen der Röntgenstrahlen
und der /-Strahlen der radioaktiven 8ub-.
stanzen. Zentralbl. f. Röntgenstr. 1917.
H. 11/12.
1. Röntgenstrahlen entstehen durch die
Bremsung der Kathodenstrahlen auf der Anti¬
kathode der Röntgenröhre; /-Strahlen ent¬
stehen durch die Abschleuderung von /9-Teil-
chen aus den Atomen der radioaktiven Körper.
2. Das Röntgenstrahlenspektrum besteht aus
zwei prinzipiell verschiedenen Teilen, dem
kontinuierlichen Spektrum der Bremsstrahlung,
das durch die Bremsung der Kathodenstrahlen¬
teilchen in den Atomverbänden der Antikathode
entsteht, und dem Eigenspektrum, einem
Linienspektrum, das dem Bremsstrahlenspektrum
überlagert ist und das seine Ursache in den
Eigenschwingungen der Atome der Antikathode
hat. Das Eigenspektrum ist für das Anti¬
kathodenmaterial charakteristisch. 3. Röntgen¬
strahlen sind elektromagnetische Schwingungen.
Es ist die Größenordnung derselben 10"^. Die
Durchdringungsfähigkeit der Strahlen ist zu
deuten durch ihre geringe Wellenlänge. Die
Bremsstrahlen sind gänzlich unzusammenhän¬
gende elektromagnetische Impulse, während die
der Bremsstrahlung überlagerte Eigenstrahlung,
homogene periodische Schwingungen enthält
Die zerstreute Strahlung ist reflektierte pri¬
märe Röntgenstrahlung und damit ist ihre
Wellenlänge mit der Wellenlänge der primären
Strahlung identisch. Die Streuung ist wieder
abhängig von der Wellenlänge der primären
Strahlung und von der Natur des Streukörpers,
wobei die Dichte desselben eine bestimmte
Rolle spielt. Die Streustrahlung ist in der
Röntgenphotograpbie in Betracht zu ziehen.
Noch mehr ist sie aber als Fehlerquelle in
der Röntgenstrahlenmeßtechnik und bei der
therapeutischen Anwendung der Strahlen zu
beachten. — Ein chemisches Element sendet
eine sekundäre Röntgenstrahlung aus, Fluor¬
eszenzstrahlung, wenn die erregenden Wellen¬
längen kleiner werden, als die Wellenlänge
dieser Fluoreszenzstrahlen ist. Die Emission
der Fluoreszenzröntgenstrahlung ist eine reine
Funktion des Atoms. Eine chemische Ver¬
bindung sendet demnach so viele Arten von
Fluoreszenzstrahlung aus, als in der che¬
mischen Verbindung Elemente vorhanden sind.
Die Fluoreszenzröntgenstrahlung ist in ge¬
wissen Grenzen homogen, doch senden die
Elemente mehrere Gruppen solcher homogener
Strahlen aus. Die Sekundärstrahlung einer
chemischen Verbindung ist also nicht in diesem
Sinne homogen, sondern sie setzt sich aus den
homogenen Strahlungsgruppen der Elemente
dieser Verbindung zusammen. Ein chemisches
Element sendet eine Fluoreszenzstrahlung auch
dann aus, wenn es von Kathodenstrahlen hin¬
reichender Geschwindigkeit getroffen wird.
Diese Tatsache führte zum Entstehen des
Eigenspektrums der Antikathode. Mit ab¬
nehmender Wellenlänge der Erregerstrahlung
sinkt für ein bestimmtes Element die Intensität
der emittierten Fluoreszenzröntgenstrahlung,
die ihren Höchstwert annimmt, wenn die
Wellenlänge der Erregerstrahlung um das viel¬
fache einer Konstanten kleiner ist, als die
Wellenlänge der Eigenstrahlung. Die Intensität
der Fiuoreszenzstrahlung steigt, wenn auch in
viel geringerem Maße, mit dem Atomgewicht,
und außerdem ist sie abhängig von der Intensi¬
tät der Primärstrahlung. Bei der Absorption
von Primärstrahlen in einem Medium haben
wir zweierlei Arten von Absorption zu unter¬
scheiden: einmal normale Absorption. Diese
ist vorhanden in all den Fällen, in denen nicht
zugleich die Bedingungen für das Auftreten
von Fluoreszenzröntgenstrahlen gegeben sind.
Sie folgt zwei Gesetzen, wonach erstens die
Absorption eines Massenelements mit der
Digitized by
Go igle
Original fro-rn
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Referate über Bücber und Aufsätze.
485
vierten Potenz der Atomzahl znnimmt und
zweitens die Absorption mit der 2,5 Potenz
der abnehmenden Wellenlänge abnimmt. Se¬
lektive Absorption, dies ist der zweite Fall,
tritt ein, wenn die Bedingungen für die Ent¬
stehung der Fluoreszenzstrahlung gegeben sind.
Oie selektive Absorption erreicht ihren maxi¬
malen Wert, wenn der Emissionskoeffizient
<ier Fluoreszenzröntgenstrahlung seinen maxi¬
malen Wert erreicht. Die selektive Absorption
nimmt mit abnehmender Wellenlänge rasch ab
und erreicht bei einer bestimmten Wellenlänge
«einen Wert, von dem an £ie vernachlässigt
werden darf. Die Fluoreszenzröntgenstrahlung
ist die Ursache von einer Reihe von merk¬
würdigen Erscheinungen bei der Röntgen¬
etrahlenmessung. Sie ist die Fehlerquelle einer
Reihe von Röntgenstrahlenmaß-Methoden. Auch
1s Gefahrenquelle bei der therapeutischen
Anwendung der Röntgenstrahlen kommen die
Fluoreszenzstrahlen in Frage. Auf den Er¬
scheinungen der Fluoreszenzröntgenstrahlung
und den Bedingungen für ihr Auftreten beruht
eine neue Methode für Feststellung der Inten¬
sität und Härte der Komponenten eines pri¬
mären Röntgenstrahlengemisches. Diese Me¬
thode wurde von Glocker angegeben. —
Bei der Absorption von Röntgenstrahlen in
einem Medium entstehen unter dem Einfluß
absorbierter Energie sekundäre ^-Strahlen,
deren Geschwindigkeit einzig und allein durch
die Wellenlänge der erregenden Strahlung
bedingt wird. Die Loslösung dieser Elektronen
ist eine Funktion der Atome. Es hängt die
Geschwindigkeit und damit das Durchdringungs-
Vermögen nicht von der emittierenden Sub¬
stanz ab. Die Intensität der sekundären
^-Strahlen, also die Menge der losgelösten
Elektronen, ist von zwei Gesichtspunkten aus
zu betrachten und zwar einmal, wenn normale
Absorption eintritt, das zweite Mal, wenn se¬
lektive Absorption zustande kommt. Ist nor¬
male Absorption gegeben, so steigt die Menge
der sekundär gebildeten Elektronen mit der
vierten Potenz der Atomzahl an, nimmt aber
bei ein und derselben Substanz mit der 2,5 Po¬
tenz der abnehmenden Wellenlänge der Er-
re^erstrahlung ab. Tritt selektive Absorption
ein, so wird die Menge der sekundär gebildeten
Elektronen auch noch bedingt durch den
Emissionskoeffizienten der Fluoreszenzstrah¬
lung. Die Menge der sekundär gebildeten
Elektronen erreicht ein Maximum, wenn der
Emissionskoeffizient der Fluoreszenzstrahlung
seinen Maximalwert erreicht. Da die Emission
der sekundären /9-Strahlen ein Atomeffekt ist,
so erhellt daraus, daß die Menge der, sekun¬
dären /9-Strahlen, die von einer chemischen
Verbindung emittiert werden, gegeben ist durch
die Menge der von den einzelnen chemischen
Elementen, welche diese chemische Verbindung
aufbauen, emittierten ^-Strahlen. Die Ab¬
sorption der /9-Strahlen selbst folgt wiederum
bestimmten Gesetzen und zwar scheint sie
eine periodische Funktion des Atomgewichts
zu sein. Auch die Absorption der sekundären
/^-Strahlen ist ein Atomphänomen. Es läßt
sich die Absorption einer chemischen Ver¬
bindung auf additivem Wege aus der Ab¬
sorption der diese Verbindung aufbauenden
Elemente bestimmen. Zwischen primärer
Röntgenstrahlung, sekundärer /^-Strahlung und
Fluoreszenzstrahlung bestehen derartig ge¬
setzmäßige Beziehungen, daß sich der direkte
innere Zusammenhang klar ersehen läßt. Es
ist anzunehmen, daß für alle von den primären
Röntgenstrahlen ausgelösten Effekte, wie che¬
mische Wirkung der Strahlen, ionisierende
Wirkung, Wärmewirkung, biologisch-chemische
Wirkung und auch für die Fluoreszenzröntgen¬
strahlung die sekundäre ^-Strahlung das
Bindeglied ist, wobei eben die Größe der
Wirkung durch die Menge der sekundär ge¬
bildeten Elektrone bedingt wird. Die Fehler¬
quellen und die Gefahrenquellen, die durch
das Auftreten der Fluoreszenzstrahlung gegeben
sind, finden damit ihre letzte Ursache ebenfalls
in der Bildung der sekundären /^-Strahlung.
L. Katz (Berlin-Wilmersdorf).
1, Laqueur und V. Lasser-Ritscher
(Berlin), Über die Behandlung der tuber¬
kulösen Peritonitis mit der „künstlichen“
Höhensonne. Med. Klinik 1918. Nr. 12.
Die günstige Einwirkung des Quecksilber-
Quarzlampenlichtes bei tuberkulösen Prozessen
ist bekannt. Bei der Lungentuberkulose ist
die Beurteilung der Beeinflussung schwierig,
weil der örtliche Prozeß sich objektiv nur wenig
ändert, Besserungen des Allgemeinbefindens auf
Ernährung, Pflege usw. zurückgeführt werden
können. Bei der tuberkulösen Peritonitis
läßt sich aber die objektive und subjektive
Besserung in »günstig reagierenden Fällen
sehr rasch nach Beginn der Behandlung
feststellen, so daß auch der Einwand des Zu¬
falles hinfällig wird. Zudem beweist die bis¬
weilen auftretende fieberhafte Reaktion den
Zusammenhang. Die Bedeutung des Ver¬
fahrens wird dadurch erhöht, daß die tuber-
Digitized by
Go igle
s~
Original fro-m
UNIVERSETY OF MICHIGAN
486
Referate über Bücher und Aufsätze.
kulösen Erkrankungen zugenommen haben uhd
die übliche Schmierseifenbehandlung zurzeit
nicht möglich ist — Von 21 Fällen, darunter
12 jüngere und ältere Kinder, wurden 15
erheblich gebessert oder geheilt. Unbeeinflußt
blieben 6, von denen 3 keinen Ascitis hatten;
das dürfte kein Zufall sein, da die Wirkung des
ultravioletten Lichtes auf das Bauchfell ver¬
mutlich in einer Anregung seiner Resorptions¬
tätigkeit beruht Zwei der nicht beeinflußten
Fälle waren mit schwerer Lungentuberkulose
kompliziert In den meisten Fällen fiel be¬
sonders die rasche Resorption des Ergusses
auf. Bei der Lungentuberkulose hatten
die Verfasser den Eindruck, als ob durch
Quarzlampenbestrahlung das Allgemeinbefinden
gebessert würde, der örtliche Befund ändert
sich nicht in eindeutiger Weise. — Auch in
einem Falle nicht tuberkulöser Polyserositis
war nach Versagen der internen Therapie die
günstige Beeinflussung der resorptiven Tätigkeit
unverkennbar.
Bestrahlt wird der ganze Körper von der
Vorderseite her. Erste Sitzung: 1 m Lampen-^
abstand, 5 Minuten. Bei jeder folgenden
Sitzung 3 Minuten länger. Allmählich Ver¬
kürzung des Abstandes, schließlich eine halbe
Stunde bei 70 cm Abstand. Bei fiebernden
Fällen Bestrahlung nur jeden zweiten Tag.
Die Verfasser nehmen an, daß sich die
therapeutische Wirkung des Quarzlampenlichtes
in Aktivierung der Zelltätigkeit äußert. Diese
erfolgt indirekt durch Übertragung der Licht¬
energie auf dem Wege der Blutbahn, da ein
tieferes direktes Eindringen der Strahlen
in die Gewebe ausgeschlossen ist. Gleich¬
zeitig spielt die allgemein-roborierende
Wirkung der Strahlen eine wichtige Rolle.
W. Alexander (Berlin).
£. Verschiedenes,
R. Klinger und E. Stierlin (Zürich), Zur
Technik der Bluttransfusion. Korrespondenz¬
blatt für Schweizer Ärzte 1917. Nr. 34.
Klinger und Stierlin bedienen sich
folgenden Verfahrens: Mit einer dickeren Sto߬
kanüle wird Blut aus einer leicht gestauten
Armvene im Strahl in einen breiten Meßzylinder
steil aufgefangen. In diesen graduierten Zylinder
wurde vorher so viel einer 2,5%igen sterilen
Lösung von Na-Zitrat gebracht, daß dieselbe
l /io der zu entnehmenden Blutmenge beträgt.
Der Zylinder soll nicht zu eng und nicht sehr
hoch sein, damit das Blut nicht erst an der
Glaswand herunterläuft, sondern möglichst
direkt in die Zitratlösung einfließt. Durch fort¬
währendes leichtes Schwenken wird für Ver¬
mischung von Blut und zitronensaurem Natrium
gesorgt. Das so erhaltene Blut bleibt dauernd
vollständig flüssig, da seine Kalksalze durch
das Zitrat paralysiert wurden, so daß keine
Thrombinbildung erfolgen kann. Die Blutprobe
kann, mit einem sterilen Tuch bedeckt, zunächst
beiseite gestellt werden. Dann beginnt der
zweite Teil : Die Präparation des Blutempfangers
nach der für intravenöse Kochsalzinfusionen
üblichen Technik. In den Meßzylinder des Appa¬
rats wird anstelle gewöhnlicher vorgewännter
Kochsalzlösung ein Gemisch einer solchen mit
dem vorher gewonnenen Zitratblut gebracht.
Je nach dem Grade des Blutverlustes und der
Menge des zur Verfügung stehenden, fremden
Blutes wird man bald mehr, bald weniger Salz¬
lösung dem Blute zufügen. Die Lösung läßt
man ganz langsam in die Vene einlaufen, die
Transfusion von Va bis 1 Liter Flüssigkeit dauert
10 bis 20 Minuten. Der Blutspender muß frei
von Infektionskrankheiten sein, bei denen eine
Übertragung durch das Blut möglich ist (Syphilis
Malaria, Tuberkulose usw.) und gut entwickelte
Armvenen besitzen.
Eine wichtige Frage ist, ob nicht das mit
dem Blute infundierte Natriumzitrat wie in vitro
so auch im lebenden Körper die Blutgerinnung
hemmt, wodurch man gewissermaßen eine künst¬
liche Hämophilie schaffen würde. Speziell die
Anwendung bei schon bestehender Hämophilie
würde in diesem Falle absolut kontraindiziert
sein. Diesbezügliche Tierversuche haben er¬
geben, daß keinerlei Herabsetzung der Gerinn¬
barkeit des kreisenden Blutes erzielt wird. Es
muß angenommen werden, daß das Zitrat im
Blute rasch verbrennt und dadurch für die Ge¬
rinnung ausgeschaltet wird. Das Zitrat ist
demnach ein für den Chirurgen gradezu ideales
Hemmungsmittel der Blutgerinnung. Die Trans¬
fusion von Zitratblut ist unschädlich und gefahr¬
los. Klinger und Stierlin haben mit einer
Infusion von Zitratblut prompten Erfolg bei
einer sehr hartnäckigen, bereits das Leben be¬
drohenden hämophilen Blutung gehabt. Wichtig
ist noch, daß die Transfusion von mit Koch¬
salzlösung verdünntem Zitratblut Aussichten
bietet, Nebenwirkungen wie kollapsartige
Symptome, Beklemmung in der Herzgegend,
Cyanose und Atemnot, ferner Schüttelfröste,
Hämoglobinurie zu vermeiden. Die Indikation
einer Bluttransfusion ist in erster Linie nach
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Referate Über Bücher und Aufsätze.
487
allen schweren akuten Blutverlusten gegeben.
Bei Hämophilie wirkt Bluttransfusion lebens¬
rettend. E. Tobias (Berlin).
A. Rodella (Basel), Über das Verhalten
des Fußsohlen-Cremasterreflexes in akuten
Fällen von Ischias. Korrespondenzblatt
für Schweizer Ärzte. 1917. Nr. 51.
Rodella schildert zunächst die ganze
Reihe von Reflexstörungen, die bei'Ichias an¬
gegeben wurden, und geht dann besonders auf
das „Gibsonsche Phänomen“ ein, welches da¬
rin besteht, daß bei Ischias der Cremaster-
rcflex der kranken Seite gesteigert ist. Ähn¬
lich ist das Auftreten des Fußsohlen-Cremaster-
leflexes, der bei Ischias am kranken Bein
auftritt: beim Streichen der Planta pedis tritt
bei akuten Fällen*von Ischias der Cremaster¬
reflex auf der kranken Seite in Erscheinung.
Die anatomische Erklärung ist nicht schwer,
indem die Ischiadikusfasern aus dem Plexus
sacralis stammen, der aus der 5. Lumbal¬
wurzel und der 1. bis 3. Sakralwurzel zu¬
sammengesetzt ist. Die 5. Lumbalwurzel be¬
kommt Fasern ads der 4. Lumbalwurzel. Die
3. und 4. Sakralwurzel bilden den Plexus geni¬
talis, die 5. und das Coccygealpaar den Plexus
sacro-coccygeus usw. Besonders deutlich ist
das Phänomen bei der radikulären Ischias,
so daß in differentaldiagnostischer Hinsicht
sich Unterscbeidungsmöglichkeiten in bözug
auf radikuläre Ischias und Ischias des Nerven-
stammes ergeben. E. Tobias (Berlin).
E.Reiß (Frankfurt a. M.), Grundlagen der
Urämfebehandlung. Therap. Monatsh. 1917.
Juli/August.
Reiß teilt die gegen Urämie üblichen
Maßnahmen in zwei Gruppen. Die eine sucht
die mangelhafte Ausscheidungsfähigkeit der
Nieren durch direkt wirkende Mittel zu
erhöhen, die andere durch Inanspruchnahme
anderer Orgaüe die Nierensekretion zu ersetzen.
Es sei hier nur von diesem zweiten Weg, dem
Weg der Nierenentlastung durch Inanspruch¬
nahme anderer Organe die Rede; bezüglich der
Diuretika sagt Reiß zusaramenfassend, daß
ihnen kein Platz in der Behandlung der Urämie
gebührt. Die Haut vermag eine vikarierende
Tätigkeit für die Nieren nur in sehr geringem
Maße zu entfalten. Die Schwitzprozedur kann
bei Urämie, so alt und häufig angewandt sie
auch is.t, nur mit großer Reserve empfohlen
werden. In keinem Fall vermag sie einen
wesentlichen Teil der sekretorischen Arbeit
der Nieren zu ersetzen. Auch von der An¬
wendung von Abführmitteln ist auf Grund the¬
oretischer Erwägungen und klinischer Er¬
fahrungen dringend zu warnen. Ebensowenig
kommt bei der Urämie eine Beeinflussung der
Blutverteilung, der Innervation oder des Krank¬
heitsprozesses in den Nieren selbst durch lo¬
kale Prozeduren, Diathermie usw. in Frage.
Trotzdem braucht man die Hand nicht in den
Schoß zu legen. So soll man die Konzentration
der in den Gewebssäften zurückgehaltenen
Substanzen herabsetzen. Dazu ist zunächst
eine sehr strenge Auswahl der Nahrung er¬
forderlich. Das Eiweiß muß aus der Diät des
Urämikers zeitweise ausgeschaltet werden. Viel
Fett ist auch nicht bekömmlich. Bleiben die
Kohlehydrate. Reiß gibt zunächst nur reich¬
lich Zucker und Wasser und zwar Zuckerwasser,
das durch Zusatz von einigen Tropfen Zitronen¬
saft oder einer Messerspitze Acidum citricum
schmackhaft gemacht werden kann. Auch
Erdbeer- oder Himbeersaft ist als Zusatz ge¬
stattet; ferner ist ganz dünner Tee mit Zucker
ohne Milch erlaubt. Es muß so (langsam!)
pro die 3 Liter Flüssigkeit und mehr zugefübrt
werden. Bei Erbrechen ist rektale Eingießung
2u empfehlen und zwar in Form der Wörnitz-
schen Dauereinläufe. Bei Durchfällen soll
man etwas Opium beifügen. In manchen
Fällen ist nur subkutane Zufuhr einer 5,4 °/ 0 igen
sterilen Traubenzuckerlösung möglich, eventuell
kommt auch intravenöse Zufuhr in Frage, die
am schnellsten wirkt.
Mit Entschiedenheit nimmt dann Reiß
gegen die von Volhard empfohlene äunger-
und Durstkur Stellung. Er zieht die „Ver¬
dünnungstherapie“ vor, die er auch anivendet,
wenn bereits Ödeme bestehen. Die eintretende
Harnflut übertrifft die Zufuhr und schafft auch
die Ödeme mit weg. Nur braucht man bei
hochgradigem Hydrops nicht gerade die
extremste Flüssigkeitszufuhr zu nehmen. Der
Einwurf, daß große Flüssigkeitszufuhr bei
Urämie eine Nierenbelastung darstellt,* ist nicht
stichhaltig, u. a. weil die Wasserabscheidung
keine Arbeit der Nieren ist, sondern ein passiver
Vorgang. Nur der Herzzustand kann daneben
die Anwendung von Herzmitteln notwendig
machen. Reiß hält die Flüssigkeitsbeschrän¬
kung bei Urämien, die mit Retention verbunden
sind, direkt für kontraindiliert.
Reiß bespricht dann den Wert des Ader¬
lasses bei der Urämie. Er kombiniert ihn mit
einer intravenösen Traubenzuckereingießung
oder läßt Wasser nachtrinken.
Digitized by
Go igle
Original fro-rn
UNIVERSETY OF MICHIGAN
488
Referate über Bücher und Aufsätze.
Besonders besprochen werden dann die
epileptiforme Urämie, die wie echte Epilepsie
mit Brom usw. behandelt wird, und die psycho¬
tische Urämie, bei der die vonVolhard emp¬
fohlene Lumbalpunktion wirksam ist.
Urämien mit Rententionen sind anders zu
behandeln wie solche mit normaler Nieren¬
sekretion. Die Formen mit Retention sind
charakterisiert durch Schlafsucht, geistige
Indifferenz, körperliche Müdigkeit und Hinfällig¬
keit. Reiß nennt sie „asthenische“ Urämie im
Gegensatz zur epileptischen und psyschotiBchen.
Letztere beiden machen eingreifende Diätetische
Maßnahmen nicht nötig. Aber meist handelt
es sich um Kombinationen.
Zum Schluß bespricht Reiß die chronische
Urämie. Bei dieser sind eingeschaltete Zucker¬
tage sowie eine mäßige Diätbeschränkung zu
empfehlen, die im einzelnen näher beschrieben
wird. Chirurgische Therapie ist nötig, wenn
ein mechanisches Hindernis der Urinentleerung
beseitigt werden kann. E. Tobias (Berlin).
Ton Voornveld, Tuberkulose nud Schwan¬
gerschaft. Korrespondenzbl. f. Schweizer
Ärzte 1917. Nr. 22.
Der Verfasser weist nachdrücklich auf die
sozialen Gefahren hin, welche daraus er¬
wachsen, daß nach der herrschenden Schul¬
meinung jeder Fall von Tuberkulose zur künst¬
lichen Unterbrechung der Schwangerschaft
führen soll. Nach der Auffassung des Ver¬
fassers soll man vor allem bei inaktiven Fällen
die Schwangerschaft ruhig verlaufen lassen.
Ist die Lungentuberkulose bei einer Schwangeren
aktiv oder droht sie es zu werden, dann freilich
darf man nicht zuwarten, sondern muß handeln.
Und zwar muß die Schwangerschaft möglichst
frühzeitig unterbrochen werden, oder es muß
versucht werden, die Aktivität der Krankheit
durch Anlegung eines künstlichen Pneumo¬
thorax zu bekämpfen. Er stellt demgemäß den
Grundsatz auf, daß in allen Fällen, wo wegen
aktiver Lungentuberkulose die Unterbrechung
der Schwangerschaft indiziert ist, diese
Operation erst ausgeführt werden sollte, wenn
ein in der Pneumothorax-Therapie erfahrener
Arzt darüber gehört worden ist, ob der be¬
treffende Fall sich eventuell für die Anlegung
eines künstlichen Pneumothorax eignet. Nur
dann sollte die Einleitung des Aborts erfolgen,
wenn die Anlegung eines Pneumothorax nicht
indiziert oder nicht möglich ist.
Freyhan (Berlin)
F* Ballner u. A. Finger, Über die Wett-
Felixsche Proteusreaktion mit dem Harne
Fieckfleberkranker. W. kl. W. 1917. Nr. 31.
Der Harn Fleckfieberkranker enthält, wenn
das Krankheitsbild mit Nephritis kompliziert
ist, Agglutinine für den Proteusstamm X Jr
Eiweißhaltige Harne von gewöhnlicher Nephritis*
oder von anderen Erkrankungen mit Eiweiß-
aussebeidung lassen ausnahmslos eine Proteus¬
agglutination vermissen. Bei positiver Blut¬
serumagglutination aber negativem Eiweiß-
befund ist die Harnagglutination bei Fleckfieber¬
kranken negativ. Die Höhe der Agglutination
ist von der Größe der Eiweißausscheidung un¬
abhängig, wenn auch bei einer Anzahl von
Harnen bei stark positivem Eiweißgehalt ein
höherer Agglutinationstiter zu beobachten war.
J. Ruhemann (Berlin-Wilmersdorf).
Vladimir Viteöek, Die klinische Bedeu¬
tung der Weil-Felfxschen Reaktion* W.
kl. W. 1917. Nr. 31.
Die ansteigende Weil-Felixsche Agglu¬
tination kommt nur bei Fleckfieber vor.
Die positive Weil-Felixsche Reaktion
kommt in 8,43 9f 0 bei Kontrollen in der Ver¬
dünnung von 1:25 vor; äußerBt selten ist eine
schwach positive Reaktion von 1:50 zu kon¬
statieren und beibt hier ohne Schwankungen.
Es konnte keine bestimmte Erkrankung
eruiert werden, bei welcher die normale Agglu¬
tination gehäuft aufgetreten wäre. Sicherlich
gaben die Typhen und Paratyphen die Normal¬
agglutination nicht häufiger als andere Er¬
krankungen oder Gesunde.
Eine stark positive Reaktion von 1:50
spricht für Fleckfieber. In zweifelhaften
Fällen wird hier eine Zunahme der Aggluti¬
nation die Entscheidung bringen. Doch sind
bei Fieckfiebererkrankung die Agglutinations¬
werte mit X 19 meist viel höher. Nur wird
selten ein Titer von 1:200 nicht überschritten.
In der Regel ist die Reaktion über 1:1000
positiv. J.Ruhemann (Berlin-Wilmersdorf).
G. Beyerbaus (Bedburg/Hau b. Cleve),
Die Rückleitung Gehirnverletzter zur
Arbeit. M. m. W. 1917. Nr. 31.
Grundbedingung für eine erfolgreiche Be¬
handlung ist zunächst die genaue Erkennung
der gesetzten Schädigung. Die erste Unter¬
suchung erfolgt am besten in den Schädel¬
schußlazaretten dicht hinter der Front. Lokale
und allgemeine Schädigungen sind genau fest¬
zustellen. Bei jedem Schädel- oder Gehirn-
Di gitized by
Go igle
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Referate über Bücher und Aufsätze.
489
verletzten bemerkt man eine mehr oder weniger
erhöhte körperliche und geistige Ermüdbarkeit.
In der ersten Zeit nach der Verwundung
braucht der Verletzte Ruhe. Erst allmählich
kann er wieder zur Beschäftigung herangezogen
werden. Beyerbaus beginnt mit leichten
Handfertigkeiten und bei günstigem Wetter
noch lieber mit leichter Arbeit im % Freien. Ist
es angängig, so führt man ihn allmählich seinem
alten Berufe wieder zu. Die Störungen der
psychischen Leistungsfähigkeit sucht man durch
vorsichtige und systematische Geistesübungen
auszugleichen. Es bandelt sich dabei um
Rechnen, Lese- und Schreibübungen, Wieder¬
gabe von Erzählungen und Erlebnissen, ferner
um Anschauungsunterricht, Einführung in die
Bürgerkunde und Buchführung, um Sprach¬
unterricht. Die Behandlung der Lähmung er¬
folgt nach den üblichen Methoden. Vorsicht
ist mit Elektrisieren geboten. Bei Gleich¬
gewichtsstörungen sind Gehübungen zu em¬
pfehlen. Die Erfolge sind im allgemeinen
begrenzt. Ein Gehirnverletzter wird nicht
wieder felddienstfähig. Leichter Geschädigte
werden der Kriegsindustrie zugeführt. Bei den
schwerer Geschädigten wird das Dienst¬
unbrauchbarkeitsverfahren durchgeführt, die
Kranken werden zur Arbeitsvermittlung eventuell
einer Kriegsbeschädigtenfürsorgestelle über¬
wiesen. Am besten ist es dabei, daß man den
Kranken zunächst nur für 6 bis 8 Wochen be¬
urlaubt Findet er sich in dieser Zeit bei der
Arbeit zurecht, so bleibt er dabei; versagt er
aber infolge körperlicher oder geistiger
Leistungsunfähigkeit, so wird er weiter im
Lazarett bleiben, in dem man ihn zunächst
weiter zu fördern sucht. Ein Teil der Ver¬
letzten ist schwer unterzubringen. Da empfehlen
sich Spezialeinrichtungen, in denen jeder
einzelne entsprechend seinen noch vorhandenen
Fähigkeiten ausgebildet wird. Das Schicksal
der Kranken ist weiter im Auge zu behalten.
E. Tobias (Berlin).
E. Bernoulli, Zur Dosierung der Brom¬
salze bei Epilepsie und Depresslonszu-
st&nden. Korrespondenzbl. f. Schweizer
Ärzte 1917. Nr. 82.
Das beim Epileptiker zur Beseitigung des
Krampfreizzustandes herzustellende und dauernd
festzuhaltende Verhältnis von Chlor und Brom
im Körper wird als relativer Bromgehalt be¬
zeichnet, welcher in exakter Weise durch die
Halogenanalyse des Blutes bestimmt wird. Im
allgemeinen sind die Differenzen des Brom¬
gehaltes zwischen Blut und Urin nicht groß.
Die Urinuntersuchung vermag, wenn sie auch
keinen absoluten Gradmesser für den Stand
der Bromisierung darstellt, doch ein richtiges
Bild von den Schwankungen des Bromgehaltes
des Körpers zu geben.
Bei schweren Fällen von Epilepsie sind
zur Unterdrückung der Anfälle Gaben not¬
wendig, bei denen der relative Bromgehalt des
Blutes auf 20 bis 25 Proz, in seltenen Fällen
bis 30 Proz. ansteigt. Im Urin findet man dem¬
entsprechend einen relativen Gehalt von 15
bis 25]Proz.
Die Salzregulierung wird dadurch herge¬
stellt, daß erstens stark kocbsalzhaltige
Nahrungsmittel und kochsalzhaltige Suppen
vermieden, zweitens zur Herstellung der Kost
täglich eine bestimmt abgewogene Menge Koch¬
salz verwendet wird. Verfasser gibt eine
übersichtliche Tabelle, welche 'es ermöglicht,
in rascher Weise Brom- und Kochsalzdosen
zu bestimmen, die nötig sind, um einen be¬
stimmten Bromgehalt des Urins hervorzurufen
oder zu erhalten.
Betreffs der Bromdosierung bei Depressions¬
zuständen sucht man den Bromgehalt des Körpers
vorübergehend so zu steigern, daß in einigen
Wochen gewisse Vergiftungserscheinungen auf-
treten, welche man als das erste Stadium einer
Bromnarkose bezeichnen kann, wie rauschähn¬
liche Exitation, leichte Parese und Koordinations¬
störungen, schwankender Gang, Unsicherheit
im Stehen, Sprach-, Schrift- und Gedächtnis¬
störungen, erhöhtes Schlafbedürfnis. Der
Höhepunkt der Intoxikation kann dann durch
geeignete Reduktion der Bromgabe, wenn nötig,
einige Zeit festgehäflln werden, oder man re¬
duziert die Bromdosis, sobald der Höhepunkt
erreicht ist, so stark, daß die Bromkonzentration
im Körper zu sinken beginnt Demnach wird
der Kochsalzgehalt der Nahrung zweckmäßig
auf 5 bis 10 g beschränkt und dazu wird die
Bromdosis so gewählt, daß damit ein relativer
Bromgehalt des Urins erreicht werden kann,
der höher als 25 Proz., aber nicht höher als
30 Proz. liegt
J. Ruhemann (Berlin-Wilmersdorf).
E. Sachs (Königsberg), Die künstliche Untere
brechung der Schwangerschaft bei Er¬
krankungen des Nervensystems (Epilepsie,
Chorea, Polyneuritis). Med. Klin. 1917.
Nc 42.
Nach den in der Literatur niedergelegten
Erfahrungen und denen der Königsberger Uni-
Di gitized by
Go igle
Original frorn
UNIVERSETY OF MICHIGAN
490
Referate über Bücher und Aufsätze.
versitäta-Frauenklinik kommt Verfasser zu
folgenden Resultaten:
Die Epilepsie genügt an sich nicht, eine
Schwangerschaft prophylaktisch zu unterbrechen
aus Besorgnis der Verschlimmerung. Nur eine
tatsächliche Verschlimmerung läßt an Unter¬
brechung denken. Dazu gehört: 1. sehr starke
Häufung der Anfälle, 2. Auftreten epileptischer
Geistesstörung, 3. Status epilepticus. Die Häu¬
fung kleiner Anfälle genügt nicht als Indikation,
und die großer nur dann, wenn Geistesstörung
oder Status unmittelbar droht Der Erfolg der
Unterbrechung ist bei den letztgenannten Zu¬
ständen ganz unsicher. Trotzdem ist sie hier
anzuwenden, und zwar beim Status epilepticus
mit der schnellsten Methode, dem Kaiserschnitt
Bei der Chorea gravidarum hat der
einzelne Autor keine größeren Erfahrungen
wegen der Seltenheit der Affektion. Die Lite¬
ratur weist gute Erfahrungen bei der Schwanger¬
schaftsunterbrechung, aber auch Mißerfolge auf.
Viele werden ohne Unterbrechung gesund,
ebenso viele durch die Unterbrechung. Es ist
deshalb bis jetzt nicht möglich, fest begründete
Richtlinien für die Unterbrechung aufzustellen.
Jedenfalls kommen nur die schweren Fälle in
Frage. Bei der Chorea acutissima wird auf
keine Weise ein Erfolg zu erzielen sein. Als
Indikation haben also zu gelten die nicht ganz
schweren Fälle, die durch die Therapie vor
dem Übergang in irreparable Zustände bewahrt
werden müssen. Als schwer in diesem Sinne
gelten:
1. alle akut einsetzenden Choreafälle;
2. Fälle, die schon einmal eine Chor, gra¬
vidarum durchgemacht haben, wenn sich dies¬
mal die Symptome zeitr^r einstellen;
3. langsam einsetzende Formen, die durch
die Schwere der Symptome das Leben gefährden
(schwere Zuckungen, erschwerte Nahrungsauf¬
nahme, Respirationsstörungen usw.);
4. Fälle, bei denen Komplikationen an
inneren Organen vorliegen, die sonst meist
zum Tode zu führen pflegen;
5. Das Auftreten einer Psychose beim Ver¬
sagen anderer Mittel, weil diese Fälle erfahrungs¬
gemäß quoad vitam prognostisch ungünstig sind.
In allen diesen Fällen hat die Entleerung
so schnell wie möglich, d. h. mit schneidenden
Methoden zu erfolgen, weil der lange Reiz
der Geburtstätigkeit eine erhebliche Gefahr
darstellt.
$ei der Polyneuritis gravidarum
kommt die Schwangerschaftsunterbrechung nur
in Betracht:
1. in den Fällen, bei denen Lebensgefahr
besteht (Beteiligung des Vagus, Phrenicus:
L an dry scher Typus).
2. bei ernstlicher Erkrankung desN. opticus.
Komplikation mit Korsakoffscher Psy¬
chose ist keine Indikation, weil diese durch
die Unterbrechung doch nicht günstig beein¬
flußt wird. Bei den Formen derHyperemesis,
die bis in die zweite Schwangerschaftshälfte
dauern, muß man an Polyneuritis denken und
nach solchen Symptomen fahnden.
Im ganzen kommt die Unterbrechung der
Schwangerschaft nur sehr selten in Frage, weil
der Ausbruch des Leidens i n der Schwangerschaft
sehr selten ist. W. Alexander (Berlin).
Felix Schlelßner (Mähr.-Weißklrchen),
Über kriegs&rztllehe Erfahrungen hei
Nierenentzündungen. Klin.-ther. W. 1917.
Nr. 41, 42.
Die Ätiologie der Kriegsnephritis ist nach
dem Autor, der ca. 1100 Fälle sah, ganz un¬
klar. Aufgefallen ist, daß 20 % 4er Leute
schon früher nierenleidend waren Symptoma¬
tisch fielen die außerordentliche Häufigkeit
der hämorrhagischen Formen und das Rezi-
divieren der Hämaturie einerseits, die an¬
dauernden Lendenschmerzen andererseits auf.
Therapeutisch kamen Bettruhe, Heißluftbäder,
einfache, salzarme Kost zur Verordnung. Das
Medikament, von dem der Verfasser noch am
ehesten einen Erfolg sah, war Calcium chloratum.
Bezüglich der Prognose äußert sichSchleißner
dahin: Quoad vitam günstig, quoad sanationem
zweifelhaft, in bezug auf Frontdiensttauglich- i
keit schlecht Die Mortalität betrug kaum
2 %. Als Belastungsproben vor der Entlassung
kamen Bewegung, leichte Arbeit, eventuell
etwas exerzieren und Verabreichung normaler
Kost zur Anwendung.
Roemheld (Hornegg AN.).
Wilhelm Kühn (Leipzig), Neues medizi¬
nisches Fremdwörterbuch für Schwestern,
Samariter, Heilgehilfen, Krankenpfleger und
gebildete Leserkreise. Vierte Auflage. Leip¬
zig 1918. Verlag von Krüger & Co.
Das schon in vierter Äutlage vorliegende
Büchlein dürfte seinem Zweck vollauf gerecht
werden, wenn es auch nicht leicht sein dürfte,
die richtige Grenze aufzustellen, in denen man
zu dem gedachten Zweck Fremdwörter auf¬
nehmen soll. Der „gebildete Leserkreis“ ver¬
schwände besser aus dem Bestimmungskreis.
E. Tobias (Berlin).
W. Büxenstein Druckerei und Deutscher Verlag G. m. b. H., Berlin SYV. 48.
Digitized by
Go igle
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
.
; *»; ;■* .
>-.• • • - •
• .
, -
. • ■ ■
• ' • ■ ■ ■
■. — • . t V .:*•!% V.'.". . . ; * V fl
... ... .
*
.
- - -•'.«£* " 7* »» , GJl , ^ 'jL a.-* v*. • ‘ ‘ *-» - *
. * •- •"•••'' - N , ~-
v. • .• ’ - . _ -w. kn y * •. -
"Ä
* • P , * ■ . ■ v - . • . * * •
j» • • — - •»» •- ■* »•. *
. _-*• *- , W .« • '• « # ♦ • *
*r> ^ : V^ - - -H v ** •<
v.\! ; ..'r.\'V • •
V.
■ ! *
. * *■
ty I >
Digitizedby
Gck 'gle
Original frcrri
UNIVERSITY OF M 1 CHTGAN
Digitized by
Gck igle
UNIVERS1TY OF MICHIGAN
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Digitized by
\
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
0F MICHIGAN
BOUND
3 9015 07418 ®
«EU 1919
t l MABY
Original from
UNWERSITY OF MICHIGAN-*
Digitizeit by